VwGH 2009/22/0222

VwGH2009/22/022213.9.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerde des MG, geboren am 5. Oktober 1981, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 23. Juni 2009, Zl. E1/6132/09, betreffend Ausweisung gemäß § 53 FPG, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs3;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2011:2009220222.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, eine auf § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) gestützte Ausweisung.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am 11. Dezember 2000 unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist. Am 13. Dezember 2000 habe er einen Asylantrag gestellt. Seit dem rechtskräftigen "negativen Abschluss des Asylverfahrens mit 19.01.2009" halte sich der Beschwerdeführer unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Sohin sei die Erlassung einer Ausweisung gegen ihn im Grunde des § 53 Abs. 1 FPG zulässig.

Zur Interessenabwägung nach § 66 FPG führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei seit 2003 nahezu durchgehend als Saisonarbeiter in verschiedenen Betrieben beschäftigt gewesen. Die letzte Arbeitsstelle habe er mit Zustellung des "negativen Erkenntnisses des Asylgerichtshofes im Jänner 2009", womit auch der Verlust seines nach asylgesetzlichen Bestimmungen gewährten Aufenthaltsrechts eingetreten sei, verloren. In Österreich wohnten Verwandte des Beschwerdeführers wie "Cousins, Onkel, Tante". Seit kurzem wohne er bei einem Cousin in T. Eine Schutzwürdigkeit des Privatlebens des Beschwerdeführers sei insofern gegeben, als er sich bereits achteinhalb Jahre im Bundesgebiet aufhalte, wobei sein Aufenthalt auch zum Großteil rechtmäßig gewesen sei. Allerdings sei dieser Aufenthalt lediglich vorübergehend, nämlich für die Dauer des Asylverfahrens, "angelegt" gewesen. Unter Darstellung der diversen Beschäftigungsverhältnisse des Beschwerdeführers räumte die belangte Behörde ein, der Beschwerdeführer sei "entsprechend" am Arbeitsmarkt integriert. Er verstehe und spreche gut Deutsch. Er sei selbsterhaltungsfähig. Bindung zu seinen Verwandten, zu Bekannten und auch Freunden habe er in Österreich "der langen Zeit" seines "Aufenthalts entsprechend, ebenso Teilnahme am sozialen Leben". Hingegen habe er eine Schul- oder Berufsausbildung im Bundesgebiet nicht genossen. In seinem Heimatland Türkei habe der Beschwerdeführer keine Bindungen mehr. Er sei unbescholten.

Zu Beginn des Jahres 2008 habe der Beschwerdeführer die österreichische Staatsbürgerin S T kennen gelernt. Am 29. Jänner 2009 sei die gemeinsame Tochter P T geboren worden. Mit diesen Personen habe der Beschwerdeführer aber nie im gemeinsamen Haushalt gelebt. Nach wörtlicher Wiedergabe der Aussage von T, die diese am 20. Mai 2009 vor der Bezirkshauptmannschaft L getätigt hat, und der - auf das Wesentliche zusammengefasst - zu entnehmen ist, dass der Beschwerdeführer die Existenz seiner Tochter und den Kontakt zu dieser ablehne, führte die belangte Behörde resümierend aus, sie habe nicht den geringsten Grund, am Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu zweifeln.

In der rechtlichen Beurteilung gelangte die belangte Behörde zum Ergebnis, es liege ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung vor, weil der Beschwerdeführer seit dem rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens im Jänner 2009 das Bundesgebiet nicht verlassen habe. Sein Privat- oder Familienleben sei in dem Zeitraum entstanden, in dem er und die anderen Beteiligten sich des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen seien oder jedenfalls hätten bewusst sein müssen. Die durch die Ausweisung entstehenden Unannehmlichkeiten habe der Beschwerdeführer im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen. Dem geordneten Fremden- und Einwanderungswesen komme ein hoher Stellenwert zu. Ungeachtet dessen, dass der Beschwerdeführer zu seiner Heimat keine Bindungen mehr aufweise, liege das Verlassen seines Heimatlandes noch nicht so lange zurück, dass er sich mit den dortigen Gegebenheiten nicht mehr zurechtfinden könnte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Hier kann dahingestellt bleiben, ob der Beschwerdeführer mit Blick auf den Inhalt seines Beschwerdevorbringens und das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 8. März 2011, C-34/09 (Zambrano), sowie den hg. Beschluss vom 5. Mai 2011, EU 2011/0004- 0008, unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig ist. Der angefochtene Bescheid kann nämlich aus den nachstehenden Gründen jedenfalls - also auch im Fall seines unrechtmäßigen Aufenthalts - keinen Bestand haben.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die von der belangten Behörde vorgenommene Interessenabwägung und macht in diesem Zusammenhang geltend, es sei ihm die mit der "Kindesmutter" T aufgenommene Niederschrift nie zur Kenntnis gebracht worden. Er sei vom Inhalt dieser Aussage vollkommen überrascht worden, es sei sein Recht auf Parteiengehör verletzt worden. Im Weiteren legt der Beschwerdeführer ausführlich dar, worin die Unrichtigkeit der Aussage von T liege und aus welchen Gründen diesen Angaben nicht zu folgen gewesen wäre. Der vom Beschwerdeführer erhobene Vorwurf erweist sich als berechtigt.

Aus den vorgelegten Verwaltungsakten ergibt sich, dass die belangte Behörde - im Hinblick auf das im Berufungsverfahren vom Beschwerdeführer erstattete Vorbringen zu seinen familiären Verhältnissen - zunächst der Bezirkshauptmannschaft I (der Behörde erster Instanz) und sodann der Bezirkshauptmannschaft L auftrug, ergänzende Erhebungen vorzunehmen. Im Rahmen dieser Erhebungen wurde (u.a.) T von der Bezirkshauptmannschaft L als Zeugin vernommen. Ein Nachweis dafür, dass die belangte Behörde dem Beschwerdeführer diese Angaben, denen sie im angefochtenen Bescheid erkennbar gefolgt ist und die sie ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat, auch tatsächlich vorgehalten hat, findet sich in den vorgelegten Verwaltungsakten nicht. Zwar erliegt im Berufungsakt ein Ausdruck, dem zu entnehmen ist, dass die belangte Behörde eine Kopie der mit T aufgenommenen Niederschrift per E-Mail an die Mailadresse des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers versendet habe. Es findet sich aber in den Verwaltungsakten kein konkreter Hinweis dafür, dass diesem dieses E-Mail auch zugegangen ist. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes lässt eine Sendebestätigung - auch unter Berücksichtigung des allfälligen Fehlens eines "E-Mail-Fehlberichts" bzw. einer Retournierung des abgesendeten E-Mails an den Versender - nur erkennen, dass ein E-Mail von der im Sendebericht angeführten Mailadresse versendet wurde; die Sendebestätigung lässt jedoch nicht den zwingenden Schluss zu, dass das gesendete E-Mail beim Empfänger auch tatsächlich eingelangt ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. September 2003, 2002/03/0139). Von daher verstößt das nunmehr erstattete Vorbringen nicht gegen das ansonsten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltende Neuerungsverbot.

Die belangte Behörde räumte im angefochtenen Bescheid ein, dass der Beschwerdeführer bereits achteinhalb Jahre im Bundesgebiet aufhältig, beruflich integriert, unbescholten und selbsterhaltungsfähig sei sowie über gute Deutschkenntnisse verfüge, Bindungen zu Verwandten, Bekannten und Freunden im Bundesgebiet aufweise und am sozialen Leben teilnehme; hingegen verfüge er den weiteren Ausführungen im angefochtenen Bescheid zufolge in seinem Heimatland über keine Bindungen mehr. Das Bestehen familiärer Bindungen, insbesondere auch zu seiner Tochter, stellte die belangte Behörde allerdings unter Hinweis auf die Aussage von T in Abrede.

Vor dem Hintergrund der zahlreichen - auch von der belangten Behörde eingeräumten - zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechenden Umstände, aus denen ersichtlich ist, dass er die in Österreich verbrachte Zeit genutzt hat, sich hier erfolgreich zu integrieren, kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers, darüber hinaus bestehe in Österreich auch ein Familienleben und es sei unmöglich, dieses in seinem Heimatland fortzusetzen, die Relevanz für den Verfahrensausgang nicht abgesprochen werden. Zudem erweisen sich bei der Interessenabwägung familiäre Bindungen zu österreichischen Staatsbürgern von besonderer Bedeutung, was auch dem Gesetz zu entnehmen ist (vgl. § 66 Abs. 3 FPG in der hier maßgeblichen Fassung des BGBl. I Nr. 29/2009; vgl. generell zur Bedeutung im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK das einen Ehepartner eines Österreichers betreffende hg. Erkenntnis vom 26. August 2010, 2009/21/0032, mwN). Des Weiteren wird auch das Vorbringen des Beschwerdeführers, seine Tochter habe ein Nierenleiden und er werde für eine Organspende zur Verfügung stehen, nach entsprechenden Feststellungen in die Abwägung miteinzubeziehen sein.

Sohin war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 13. September 2011

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