VwGH 2009/22/0211

VwGH2009/22/021128.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der S, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 2. Juni 2009, Zl. 153.707/2-III/4/09, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §24 Abs4;
NAG 2005 §26;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs5;
NAG 2005 §24 Abs4;
NAG 2005 §26;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Zweckänderungsantrag der Beschwerdeführerin, einer russischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5, § 24 Abs. 4 und § 26 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Zur Begründung verwies die belangte Behörde im Wesentlichen darauf, dass die Beschwerdeführerin im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung als Studentin sei. Sie sei seit 15. Oktober 2007 durchgehend im Inland gemeldet. Am 17. November 2008 habe sie einen österreichischen Staatsbürger geheiratet. Sie begehre den Zweckänderungsantrag für eine Familienzusammenführung mit ihrem Ehemann. Die Höhe der notwendigen Unterhaltsmittel sei nach den Richtsätzen des § 293 ASVG zu beurteilen und betrage für ein Ehepaar EUR 1.158,08. Infolge dessen sei ein Einkommensnachweis vom Zusammenführenden zu erbringen. Laut Bestätigung einer Steuerberatungs-GmbH habe der Ehemann der Beschwerdeführerin im Jahr 2008 einen Gewinn von EUR 13.066,-- erwirtschaftet. Davon sei ein Steuerbetrag von EUR 1.175,30 abzuziehen und es ergebe sich ein monatliches Einkommen von EUR 990,89. Zur behaupteten Unterstützung durch die Schwiegereltern der Beschwerdeführerin sei festzustellen, dass diese auf Grund ihrer Pensionen von EUR 1.396,53 und EUR 643,66 nicht in der Lage seien, monatlich EUR 800,-- für den Sohn aufzubringen. Die vorgelegten Kontoauszüge ihrer Schwiegermutter aus den Jahren 2005 bis 2007 seien außerdem nicht aktuell. Zu den Alimentationszahlungen, die behauptetermaßen die Schwiegermutter für zwei Kinder des Ehemannes der Beschwerdeführerin zahle, sei festzustellen, dass laut Kontoauszug vom 8. Jänner 2008 nur EUR 430,-- an die Mutter der Kinder überwiesen worden seien und deshalb nicht davon gesprochen werden könne, dass die Schwiegermutter die gesamten Alimentationszahlungen für den Sohn übernommen habe.

Die angeblich durch den Verkauf eines Geschäftes erwirtschafteten EUR 7.526,44 seien nicht belegt und es handle sich dabei um kein laufendes Einkommen. Das "verwertbare" Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin betrage somit EUR 990,89 monatlich. Für ihn und die Beschwerdeführerin wären aber bereits EUR 1.158,08 erforderlich, weiters EUR 700,-- für die ersten Kinder des Ehemannes als Alimentationszahlungen. Nach der angekündigten Geburt des gemeinsamen Kindes am 21. Oktober 2009 sei noch ein Betrag von EUR 80,95 hinzuzurechnen. Das Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin liege somit unter den sich aus § 293 ASVG ergebenden Richtsätzen. Somit seien die Unterhaltsmittel nicht gedeckt und es sei sehr wahrscheinlich, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Österreich zur finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führe.

Zur Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK werde festgestellt, dass zwar durch den Aufenthalt des Ehemannes der Beschwerdeführerin familiäre Bindungen in Österreich bestünden, jedoch die Sicherung des Lebensunterhalts eine wichtige Grundvoraussetzung für einen Aufenthaltstitel darstelle. Die Abwägung der gegenüberstehenden Interessenlagen gehe daher zu Lasten der Beschwerdeführerin, weil das öffentliche Interesse an der Einhaltung einschlägiger Zuwanderungsbestimmungen das persönliche Interesse an einer Neuzuwanderung überwiege. Einer Ausländerfamilie sei nicht das unbedingte Recht auf ein gemeinsames Familienleben in einem Vertragsstaat zuzugestehen, weil Art. 8 EMRK nicht die generelle Verpflichtung eines Staates umfasse, die Wahl des Familienwohnsitzes durch die verschiedenen Familienmitglieder anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben.

Letztlich liege ein sogenannter "Freizügigkeitssachverhalt" nicht vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG (in der Stammfassung) dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Ein Fremder hat initiativ, untermauert durch Vorlage entsprechender Bescheinigungsmittel nachzuweisen, dass der Unterhalt für die beabsichtigte Dauer seines Aufenthaltes gesichert erscheint, wobei insoweit auch die Verpflichtung besteht, die Herkunft der für den Unterhalt zur Verfügung stehenden Mittel nachzuweisen, als für die Behörde ersichtlich sein muss, dass der Fremde einen Rechtsanspruch darauf hat (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 31. Mai 2011, 2009/22/0278 bis 0281).

Die belangte Behörde nahm zu Recht eine Prüfung dahin vor, ob der Beschwerdeführerin mit ihrem Ehemann ein Unterhaltsbetrag zur Verfügung steht, der dem Richtsatz für im gemeinsamen Haushalt lebende Ehepartner gemäß § 293 ASVG entspricht. Dieser Richtsatz betrug im maßgeblichen Jahr 2009 gemäß § 293 ASVG in der Fassung BGBl. II Nr. 7/2009 EUR 1.158,08 für ein im gemeinsamen Haushalt lebendes Ehepaar.

Mit keinem Argument geht die Beschwerde auf die behördliche Feststellung ein, dass die Übernahme sämtlicher Alimentationen durch die Eltern des Ehemannes der Beschwerdeführerin nicht nachgewiesen worden sei. Die Beschwerdeführerin irrt, wenn sie meint, dass Alimentationszahlungen bei der Berechnung des verfügbaren Einkommens nicht zu berücksichtigen wären. Darüber hinaus wird nicht ausgeführt, in welcher Weise ein durchsetzbarer Anspruch des Ehemannes der Beschwerdeführerin darauf bestehe, dass der Unterhalt für seine ersten Kinder auf Dauer zur Gänze von seinen Eltern zu tragen wäre.

Selbst wenn - wie dies in der Beschwerde behauptet wird - das monatliche Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit nicht mit EUR 990,89, sondern mit EUR 1.088,83 anzunehmen wäre, wird damit der erforderliche Unterhaltsbetrag (EUR 1.158,08 + EUR 700,--) nicht erreicht. Dies ist auch dann der Fall, wenn - wie in der Beschwerde behauptet - das Jahreseinkommen durch Berücksichtigung eines Verkaufserlöses zu einem Monatseinkommen von EUR 1.650,-- führt, zumal durch den Hinweis auf damit "angeschaffte Vermögenswerte" die Verfügbarkeit dieses Betrages in Zweifel gezogen wird.

Die belangte Behörde durfte somit davon ausgehen, dass die Voraussetzung ausreichender Unterhaltsmittel für den Aufenthalt der Beschwerdeführerin nicht gegeben sei.

Dennoch ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet.

Zum einen kann ein Aufenthaltstitel nach § 11 Abs. 3 NAG trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist. Diesbezüglich erschöpft sich die Bescheidbegründung darin, dass das öffentliche Interesse an der Einhaltung einschlägiger Zuwanderungsbestimmungen das persönliche Interesse an einer "Neuzuwanderung" überwiege, weil die Sicherung des Lebensunterhaltes eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels darstelle.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt jedoch der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zu (vgl. etwa das Erkenntnis vom 24. Jänner 2012, 2008/18/0422 und 0425). In einer solchen Konstellation muss sich die Behörde mit den konkreten Auswirkungen einer Ausweisung oder der Versagung eines Aufenthaltstitels auf die Situation des Fremden und seiner Familienangehörigen befassen und nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners, aber etwa auch zur Frage der Deutschkenntnisse und der Bindungen zum Heimatstaat und zur Möglichkeit und Zumutbarkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs treffen. Der bloße Hinweis auf das Fehlen der Voraussetzung ausreichender Unterhaltsmittel wird dem nicht gerecht. Dieser Umstand ist erst Anlass dafür, dass überhaupt eine Interessenabwägung durchzuführen ist und kann somit für sich allein nicht ausschlaggebend sein. Dies gilt auch für das weitere Argument der belangten Behörde, dass ein Vertragsstaat der Menschenrechtskonvention nicht generell verpflichtet sei, die Wahl des Familienwohnsitzes anzuerkennen.

Zum anderen verneinte zwar die belangte Behörde zu Recht das Vorliegen eines "Freizügigkeitssachverhaltes" im Sinn der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG. Gemäß dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 15. November 2011, C- 256/11 , "Dereci u.a.", darf jedoch ein Aufenthaltstitel dann nicht verweigert werden, wenn dies dazu führen würde, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Angehörige sich de facto gezwungen sehe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre. Zu dieser Frage, die bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde nach Einräumung von Parteiengehör allenfalls Feststellungen zu treffen und eine Beurteilung, die nicht mit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen ist, vorzunehmen haben.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und Z 6 VwGG Abstand genommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 28. März 2012

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