VwGH 2008/22/0389

VwGH2008/22/03893.4.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der S, vertreten durch Dr. Wolfgang Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 12/1/27, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 12. Mai 2006, Zl. 144.614/3- III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Bundesministerin für Inneres (der belangten Behörde) vom 12. Mai 2006 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin, einer türkischen Staatsangehörigen, vom 31. März 2005 auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittstaatsangehöriger - Österreich, § 49 Abs. 1 Fremdengesetz" bzw. "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 Fremdengesetz" mit ihrer Stiefmutter, einer österreichischen Staatsbürgerin bzw. mit ihrem in Österreich lebenden Vater gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, abgewiesen.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Antrag vom 31. März 2005 auf Grund der mit 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Gesetzesänderung nunmehr nach den Bestimmungen des NAG zu beurteilen sei. Gemäß § 21 Abs. 1 NAG seien Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung sei im Ausland abzuwarten.

Es stehe fest, dass die Beschwerdeführerin am 27. Oktober 2004 mit einem Visum D, ausgestellt von der österreichischen Botschaft in Ankara, mit Gültigkeit vom 27. Oktober 2004 bis 26. April 2005 in das Bundesgebiet eingereist und seit 28. Oktober 2004 durchgehend polizeilich in Wien gemeldet sei. Sie habe bisher noch nie über einen Aufenthaltstitel für die Republik Österreich verfügt.

Da die Ehe ihres Vaters mit ihrer Stiefmutter, einer österreichischen Staatsbürgerin, am 14. Februar 2005 rechtskräftig geschieden worden sei, sei die Antragstellung am 31. März 2005 im Inland gemäß § 21 Abs. 2 NAG nicht mehr zulässig gewesen. Eine Anfrage zur Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nach der im Jahr 2005 geltenden Rechtslage gemäß § 14 Abs. 2 letzter Satz FrG sei "vom Bundesministerium für Inneres" abgelehnt worden.

Darüber hinaus sei festgestellt worden, dass der Beschwerdeführerin am 21. September 2004 von der Bundespolizeidirektion Wien, Fremdenpolizeiliches Büro, eine quotenfreie Niederlassungsbewilligung mit dem Aufenthaltszweck "begünstigter Drittstaatsangehöriger - Österreich, § 49 Abs. 1 Fremdengesetz" mit der Gültigkeitsdauer vom 21. September 2004 bis 21. September 2005 erteilt (gemeint: die Herstellung und Ausfolgung der Aufenthaltsvignette via ÖB Ankara veranlasst) worden, die Vignette jedoch nie übernommen worden sei. Zu dem Berufungsvorbringen, dass die Beschwerdeführerin ihren Antrag innerhalb dieser Gültigkeitsdauer gestellt habe, werde bemerkt, dass eine Vignette erst gültig werde, wenn sie auch übernommen worden sei, darüber hinaus sei diese am 20. September 2005 "widerrufen" worden.

Es stehe fest, dass die Beschwerdeführerin den gegenständlichen Antrag vom 31. März 2005 beim Landeshauptmann von Wien durch einen Rechtsvertreter eingebracht habe und zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung im Inland aufhältig gewesen sei. Dies werde vor allem durch die Tatsache bekräftigt, dass seit 28. Oktober 2004 eine aufrechte polizeiliche Meldung vorliege, was auch vom Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 10. Mai 2005 bestätigt worden sei.

Das Vorliegen humanitärer Gründe sei weder im Antrag noch im Rahmen des Berufungsverfahrens behauptet worden, noch habe eine Überprüfung im Sinne des § 20 NAG von Amts wegen solche hervorgebracht. Es könne der Beschwerdeführerin der Zuzug nach Österreich unter Einhaltung der üblichen gesetzlichen Bestimmungen und unter Berücksichtigung der Quotensituation zugemutet werden. Eine Inlandsantragstellung bzw. die daraus resultierende Entgegennahme des Aufenthaltstitels im Inland werde gemäß § 74 NAG von Amts wegen nicht zugelassen.

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG hätte die Beschwerdeführerin daher die Erledigung ihres Antrages im Ausland abwarten müssen, was im Übrigen auch nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die "Vorläuferbestimmung" § 14 Abs. 2 FrG 1997 gegolten habe.

§ 21 Abs. 1 NAG entspreche im Wesentlichen dem Inhalt nach dem § 6 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz sowie § 14 Abs. 2 Fremdengesetz 1997, wonach nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Antragstellung vor der Einreise von wesentlicher Bedeutung sei und eine nicht dem Gesetz entsprechende Antragstellung zur Abweisung des Antrages führe. Der Gesetzgeber habe bereits bei Erlassung dieser Bestimmung auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller Rücksicht genommen und die Regelung eines geordneten Zuwanderungswesens über die persönlichen Verhältnisse gestellt. Da es dem Gesetzgeber des NAG nicht zu unterstellen sei, dass die Beweggründe zur Erlassung des § 21 Abs. 1 NAG einen anderen Hintergrund hätten, als die, die zur Erlassung des § 6 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz sowie des § 14 Abs. 2 Fremdengesetz 1997 geführt hätten, könne daher davon ausgegangen werden, dass ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, entbehrlich sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage erwogen:

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG sind Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

Gemäß § 81 Abs. 1 NAG sind Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen, die bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes (gemäß § 81 Abs. 1 leg. cit. mit 1. Jänner 2006) anhängig sind, nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen. Das Fremdengesetz 1997 (FrG) ist mit Ablauf des 31. Dezember 2005 außer Kraft getreten (Art. 5 des Fremdenrechtspaketes 2005, BGBl. I Nr. 100). Die Behörde hatte den vorliegenden, am 31. März 2005 gestellten Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung im Entscheidungszeitpunkt nach dem NAG zu beurteilen.

Nach den - unbestrittenen - Feststellungen im angefochtenen Bescheid ist die Beschwerdeführerin am 27. Oktober 2004 mit einem Visum D, gültig vom 27. Oktober 2004 bis 26. April 2005, in das Bundesgebiet eingereist und ist seit 28. Oktober 2004 durchgehend in Österreich polizeilich gemeldet. Der Vater der Beschwerdeführerin hat am 6. Mai 2002 eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet; die Ehe wurde am 14. Februar 2005 rechtskräftig geschieden. Der gegenständliche Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung wurde am 31. März 2005 im Inland gestellt.

Dem Beschwerdevorbringen, eine Inlandsantragstellung sei zulässig, da der Beschwerdeführerin eine Niederlassungsbewilligung der Fremdenpolizei Wien, gültig vom 21. September 2004 bis 21. September 2005 erteilt worden sei, ist entgegen zu halten, dass laut Feststellung der belangten Behörde - die durch das Beschwerdevorbringen bestätigt wurde - eine Zustellung (Anbringen einer Vignette im Reisepass und Ausfolgung derselben) der von der Bundespolizeidirektion Wien ausgestellten befristeten Niederlassungsbewilligung an die Beschwerdeführerin nicht vorgenommen wurde (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. Juli 2002, 2002/18/0106). Mangels rechtsgültiger Zustellung wurde die Niederlassungsbewilligung der Bundespolizeidirektion Wien - wie die belangte Behörde zutreffend ausführt - gegenüber der Beschwerdeführerin nie rechtskräftig erlassen.

Somit begegnet die Ansicht der belangten Behörde, dass es sich bei dem Antrag vom 31. März 2005 um einen Erstantrag handelt, der im Inland gestellt wurde keinen Bedenken, zumal sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass einer der Ausnahmetatbestände des § 21 Abs. 2 NAG auf die Beschwerdeführerin zutreffe.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung im Inland stellen und die Entscheidung darüber hier abwarten zu dürfen, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. zum Gesamten das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2008, 2008/22/0103 und 0104, mwN).

Die Beschwerdeführerin bringt dazu vor, ihren beiden Geschwistern Ü und S seien jeweils Niederlassungsbewilligungen ausgestellt worden. "Ihre ganze Familie" halte sich in Österreich auf, sie besuche hier die Schule. Im Fall einer Auslandsantragstellung würde ihre Entwicklung in Österreich empfindlich gestört.

Der am Maßstab der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ausnahmsweise direkt aus Art. 8 EMRK ableitbare Anspruch auf Familiennachzug stellt einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung dar; davon sind u.a. Fälle des eigentlichen Nachzugs von im Ausland befindlichen Angehörigen der Kernfamilie zu einer hier niedergelassenen "Ankerperson" erfasst. Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es für diese Gewährleistung von Familiennachzug auf die Umstände des Einzelfalles an (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2008).

Hinsichtlich des Nachzugs von Kindern eines Fremden hat der EGMR bereits festgehalten, dass bei der Feststellung des Umfangs der Verpflichtung eines Staates (jedenfalls auch) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrer Heimat und die Abhängigkeit von ihren Eltern zu berücksichtigen ist (vgl. das Urteil des EGMR vom 21. Dezember 2001, Sen gg. Niederlande, NL 2002, 11).

Der belangten Behörde ist nun vorzuwerfen, dass sie bei den gegenständlichen Entscheidungen nicht sämtliche nach der Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigenden Umstände miteinbezogen, sondern lediglich ausgeführt hat, dass der Beschwerdeführerin der Zuzug nach Österreich unter Einhaltung der üblichen gesetzlichen Bestimmungen und unter Berücksichtigung der Quotensituation zugemutet werden könne, und es des Weiteren entbehrlich sei, auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerinnen näher einzugehen.

Da sie in Verkennung der Rechtslage die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerinnen für nicht weiter relevant erachtete, traf sie weder dazu noch zu den sonst im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des EGMR relevanten Umständen nähere Feststellungen und unterließ auch die Durchführung der im Sinne dieser Rechtsprechung erforderlichen Interessenabwägung. Hätte aber eine Interessenabwägung zur Bejahung der besonderen Berücksichtigungswürdigkeit im Sinne des § 72 Abs. 1 NAG geführt, was nicht von vornherein zu verneinen ist, wäre die Inlandsantragstellung gemäß § 74 NAG von Amts wegen zuzulassen gewesen, was die Abweisung des Antrages nach § 21 Abs. 1 NAG ausschließen würde.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen - der vorrangig wahrzunehmenden - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, da die Umsatzsteuer in den Pauschalgebühren bereits enthalten ist.

Wien, am 3. April 2009

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