VwGH 2008/22/0103

VwGH2008/22/010310.12.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerden 1. der IJ und 2. der DJ, beide in W, beide vertreten durch Mag. Robert Igali-Igalffy, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 34, gegen die Bescheide des Bundesministers für Inneres je vom 3. September 2007,

1. Zl. 313.914/5-III/4/06 und 2. Zl. 313.914/6-III/4/06, jeweils betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1997 §14 Abs2;
FrG 1997 §14 Abs3;
EMRK Art8;
NAG 2005 §19 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §46 Abs4;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §73 Abs4;
NAG 2005 §74;
NAG 2005 §81;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrG 1997 §14 Abs2;
FrG 1997 §14 Abs3;
EMRK Art8;
NAG 2005 §19 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §46 Abs4;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §73 Abs4;
NAG 2005 §74;
NAG 2005 §81;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen (gleichlautenden) Bescheiden wies die belangte Behörde Anträge der Beschwerdeführerinnen, serbischen Staatsangehörigen, auf Erteilung von Niederlassungsbewilligungen gemäß §§ 19 Abs. 1, 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Begründend führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerinnen hätten "durch ihre rechtsfreundliche Vertreterin" am 11. November 2003 beim Landeshauptmann von Wien per Post die "erstmalige quotenfreie Erteilung einer 'humanitären Niederlassungsbewilligung'" beantragt. Auf Grund der nunmehr geltenden Rechtslage seien die Anträge als solche auf jeweilige Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" zu werten. Es handle sich um Erstanträge, die im Inland eingebracht worden seien. Die Beschwerdeführerinnen hielten sich "zuvor und danach bis dato" in Österreich auf. Sie hätten die gegenständlichen Anträge persönlich vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung im Ausland abwarten müssen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe im Sinne des § 72 Abs. 1 NAG seien nicht gegeben. Das Vorbringen, nach der Ehescheidung ihrer Eltern sei die Obsorge über die Beschwerdeführerinnen dem in Österreich niedergelassenen Vater übertragen worden, und dieser sei zu seiner Existenzsicherung und jener der Beschwerdeführerinnen auf seine Arbeitsstelle in Österreich angewiesen, weil er in seiner Heimat weder familiäre Bindungen noch Arbeitsmöglichkeiten habe, sei ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen getragen und daher nicht besonders berücksichtigungswürdig. Dies gelte auch für das Vorbringen, wonach der Vater nicht wisse, wo er die Beschwerdeführerinnen in "Jugoslawien" unterbringen solle, sowie dass die Beschwerdeführerinnen in Österreich während ihres unrechtmäßigen Aufenthalts der Schulpflicht nachgekommen seien und im Falle ihrer Rückkehr aus ihrem bisherigen sozialen Umfeld gerissen würden. Es hätte vielmehr ihren Obsorgeberechtigten oblegen, deren familienrechtliche Dispositionen am fremdengesetzlichen Bezugsrahmen zu orientieren, was diese aber unterlassen hätten. Es werde - so die belangte Behörde - daher die Inlandsantragstellung nicht von Amts wegen zugelassen, weshalb der Bewilligung der gegenständlichen Anträge § 21 Abs. 1 NAG entgegenstehe.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Bescheide gerichteten Beschwerden, die auf Grund ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden wurden, nach Vorlage der Akten durch die belangte Behörde erwogen:

Unbestritten steht fest, dass die von den Beschwerdeführerinnen gestellten Anträge auf Erteilung von Erstniederlassungsbewilligungen von deren rechtsfreundlichen Vertreterin auf dem Postwege eingebracht wurden und am 12. November 2003, sohin noch während der Geltung des am 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen Fremdengesetzes 1997 - FrG, beim Landeshauptmann von Wien einlangten.

Die belangte Behörde stützte die von ihr ausgesprochenen Abweisungen u.a. auch auf § 19 Abs. 1 NAG, wonach Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels persönlich bei der Behörde zu stellen sind und, soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof allerdings bereits mehrfach ausgesprochen hat, handelt es sich bei den in § 19 Abs. 1 NAG enthaltenen Voraussetzungen um ein Formalerfordernis, dessen Nichterfüllen im Falle eines vor Inkrafttreten des NAG gestellten Antrages nicht zur Antragszurückweisung führen darf (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 24. Oktober 2007, 2007/21/0040, und vom 14. Oktober 2008, 2008/22/0118 sowie 2008/22/0790). Das Heranziehen des § 19 Abs. 1 NAG für die gegenständlichen Antragsabweisungen (diesbezüglich wohl gemeint: Zurückweisungen) entsprach daher nicht dem Gesetz.

Die belangte Behörde stützte ihre Entscheidung allerdings auch auf § 21 Abs. 1 NAG. Nach dieser Bestimmung sind Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

Die Beschwerden richten sich nicht gegen die Annahme der belangten Behörde, die Beschwerdeführerinnen hätten sich sowohl im Zeitpunkt der Antragstellung als auch im Zeitpunkt der Entscheidung über ihre Erstanträge im Bundesgebiet aufgehalten. Weiters wird in der Beschwerde nicht bestritten, dass die noch vor In-Kraft-Treten des NAG gestellten Anträge als solche auf Erteilung jeweils einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" zu werten waren. Der Verwaltungsgerichtshof vermag im Hinblick auf den Inhalt der vorgelegten Akten diesbezüglich auch keine Rechtswidrigkeit zu erkennen.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung im Inland stellen und die Entscheidung darüber hier abwarten zu dürfen, kommt daher in den vorliegenden Fällen nur gemäß § 74 NAG in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. zum Gesamten das hg. Erkenntnis vom 17. September 2008, 2008/22/0264, mwH).

Die im Jahr 1991 und 1994 geborenen Beschwerdeführerinnen bringen dazu vor, dass ihr Vater in Österreich rechtmäßig niedergelassen sei. Ihre Eltern hätten sich im Jahr 2003 scheiden lassen. Die Obsorge sei anlässlich der Scheidung ihrem Vater übertragen worden, weil die Mutter diese nicht habe übernehmen wollen. Bei der Entscheidung sei auch das Kindeswohl zu berücksichtigen.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerden zum Erfolg.

Der am Maßstab der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ausnahmsweise direkt aus Art. 8 EMRK ableitbare Anspruch auf Familiennachzug stellt einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung dar; davon sind u.a. Fälle des eigentlichen Nachzugs von im Ausland befindlichen Angehörigen der Kernfamilie zu einer hier niedergelassenen "Ankerperson" erfasst. Nach der Rechtsprechung des EGMR kommt es für diese Gewährleistung von Familiennachzug auf die Umstände des Einzelfalles an (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. August 2008, 2008/22/0164).

Hinsichtlich des Nachzugs von Kindern eines Fremden hat der EGMR bereits festgehalten, dass bei der Feststellung des Umfangs der Verpflichtung eines Staates (jedenfalls auch) das Alter der betroffenen Kinder, die Situation in ihrer Heimat und die Abhängigkeit von ihren Eltern zu berücksichtigen ist (vgl. das Urteil des EGMR vom 21. Dezember 2001, Sen gg.

Niederlande, NL 2002, 11). Ein derartiges Recht auf Familiennachzug kann aus Art. 8 EMRK auch dann abgeleitet werden, wenn es sich beim betroffenen Kind um einen bereits mündigen Minderjährigen handelt (vgl. das Urteil des EGMR vom 1. Dezember 2005, Tuquabo-Tekle u.a. gg. Niederlande, NL 2005, 296).

Der belangten Behörde ist nun vorzuwerfen, dass sie bei den gegenständlichen Entscheidungen nicht sämtliche nach der Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigende Umstände miteinbezogen, sondern lediglich darauf abgestellt hat, dass es dem Vater der Beschwerdeführerinnen als deren Obsorgeberechtigten oblegen hätte, die familienrechtlichen Dispositionen "am fremdengesetzlichen Bezugsrahmen" zu orientieren, sowie das Bestreben ihres Vaters, zur Existenzsicherung seine Arbeitsstelle in Österreich zu erhalten, lediglich auf wirtschaftliche Erwägungen zurückzuführen sei, und es des Weiteren entbehrlich sei, auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerinnen näher einzugehen.

Da sie in Verkennung der Rechtslage die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerinnen für nicht weiter relevant erachtete, traf sie weder dazu noch zu den sonst im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des EGMR relevanten Umständen nähere Feststellungen, und unterließ auch die Durchführung der im Sinne dieser Rechtsprechung erforderlichen Interessenabwägung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung (vgl. zum Erfordernis der Gesamtbetrachtung das hg. Erkenntnis vom 4. November 2008, 2008/22/0044). Hätte aber eine solche Gesamtbetrachtung zur Bejahung der besonderen Berücksichtigungswürdigkeit im Sinne des § 72 Abs. 1 NAG geführt, was nicht von vornherein zu verneinen ist, wäre die Inlandsantragstellung gemäß § 74 NAG von Amts wegen zuzulassen, was die Abweisung der Anträge nach § 21 Abs. 1 NAG ausschließen würde.

Die angefochtenen Bescheide waren daher wegen - der vorrangig wahrzunehmenden - Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 10. Dezember 2008

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