VwGH 2008/22/0310

VwGH2008/22/031017.12.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des Z, vertreten durch Mag. Robert Igali-Igalffy, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 34, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 1. Oktober 2007, Zl. 315.136/3- III/4/2006, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
MRK Art8;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 1. Oktober 2007 wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) einen vom Beschwerdeführer, einem serbischen Staatsangehörigen, am 16. Juli 2002 gestellten Antrag auf Erstausstellung eines Aufenthaltstitels für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Österreicher/EWR-Bürger" gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer mit einem Visum C, gültig vom 23. März 2001 bis 22. April 2001, in das Bundesgebiet eingereist sei. Am 16. Mai 2002 habe der Beschwerdeführer "vor dem Bezirksgericht Hernals" mit einer österreichischen Staatsbürgerin "einen Adoptionsvertrag geschlossen". Infolge der Antragstellung erst im Juli 2002 stehe fest, dass der Beschwerdeführer "ohne gültiges Visum in Österreich aufhältig" gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe den gegenständlichen Antrag durch seinen Rechtsvertreter bei der Bundespolizeidirektion Wien gestellt.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Wiedergabe der Bestimmungen der §§ 82 Abs. 1, 81 Abs. 1, 21 Abs. 1 und 2 Z. 1 und 74 NAG - im Wesentlichen aus, dass der gegenständliche Antrag nach dem In-Kraft-Treten des NAG nunmehr als Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels "Angehöriger" zu werten sei. Im Hinblick auf den Grundsatz der Auslandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG sei der Antrag abzuweisen.

Aus diesem Grund sei ein "weiteres Eingehen" auf die "persönlichen Verhältnisse" des Beschwerdeführers, "auch im Hinblick auf Art. 8 MRK", entbehrlich. Auf die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie), könne sich der Beschwerdeführer nicht berufen, weil er die dort festgelegten Voraussetzungen nicht erfülle.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Gemäß § 81 Abs. 1 NAG sind Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei In-Kraft-Treten dieses Bundesgesetzes (gemäß § 82 Abs. 1 NAG am 1. Jänner 2006) anhängig sind, nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen. Der belangten Behörde ist somit darin beizupflichten, dass der gegenständliche, am 16. Juli 2002 gestellte Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu dem hier relevanten Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides nach dem NAG (in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) zu beurteilen ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, 2008/22/0290).

Soweit die Beschwerde im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Auslandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG auf die Rechtslage im Jahr 2002 verweist, ist dem mit der ständigen hg. Rechtsprechung zu erwidern, dass dem NAG weder ein Rückwirkungsverbot noch eine Regelung zu entnehmen ist, der zufolge auf vor dessen In-Kraft-Treten verwirklichte Sachverhalte etwa Bestimmungen des Fremdengesetzes 1997 - FrG anzuwenden wären (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 9. Juli 2009, 2008/22/0338, mwN).

Die Beschwerde stellt nicht in Abrede, dass der Beschwerdeführer noch nie über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt hat. Die - unbekämpfte - Auffassung der belangten Behörde, dass es sich bei dem gegenständlichen Antrag um einen Erstantrag handle (vgl. § 2 Abs. 1 Z. 11 bis 13 NAG), begegnet auch keinen Bedenken des Gerichtshofs.

Es kommt auch keiner der Ausnahmetatbestände des § 21 Abs. 2 NAG in Betracht (insbesondere auch jener nach Z. 1 schon deshalb nicht, weil der Beschwerdeführer, der zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides 47 Jahre alt war, mangels Minderjährigkeit nicht Familienangehöriger einer Österreicherin ist; § 2 Abs. 1 Z. 9 NAG), sodass der Beschwerdeführer dem in der Bestimmung des § 21 Abs. 1 NAG verankerten Grundsatz der Auslandsantragstellung folgend den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels an sich im Ausland stellen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten hätte müssen.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 iVm § 72 NAG in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch, etwa auf Familiennachzug, besteht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 10. November 2009, 2008/22/0280, mwN).

Art. 8 EMRK verlangt eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die die fremdenpolizeiliche Maßnahme auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 10. November 2009, 2008/22/0249).

Die Beschwerde weist in diesem Zusammenhang auf die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK erforderliche Abwägung hin und wendet sich u. a. gegen die Ausführung der belangten Behörde, dass im Hinblick auf die Antragsabweisung gemäß § 21 Abs. 1 NAG ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers entbehrlich sei. Dieser macht darüber hinaus an Verfahrensmängeln geltend, dass die belangte Behörde den Bescheid in Bezug auf die Abwägung mangelhaft begründet und wesentliche Feststellungen nicht getroffen habe.

Im Administrativverfahren hat der Beschwerdeführer vorgebracht, dass er seit 30. August 2002 in Österreich einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehe und mit seinem im Jahr 1987 geborenen Sohn, der zum Zeitpunkt der Einbringung der Berufung über eine aufrechte Niederlassungsbewilligung verfügt habe, in einem gemeinsamen Haushalt in Wien 15 lebe. Der Beschwerdeführer sei krankenversichert und habe in Österreich nachweislich den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen; sein Sohn absolviere in Wien eine Ausbildung zum medizinischen Masseur.

Dadurch, dass die belangte Behörde zu diesen im Verwaltungsverfahren behaupteten, im Hinblick auf die nach Art. 8 EMRK vorzunehmende Interessenabwägung relevanten Umständen keine Feststellungen getroffen und im angefochtenen Bescheid eine derartige Interessenabwägung gar nicht vorgenommen hat, hat sie diesen mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet; der Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Im Hinblick auf die im erstinstanzlichen Bescheid getroffene und in der Berufung nicht bekämpfte Feststellung, dass die österreichische Adoptivmutter nicht imstande sei, für den Lebensunterhalt des Beschwerdeführers aufzukommen (vgl. Art. 2 Z. 2 lit. c der Richtlinie 2004/38/EG) , ist der vorliegende Fall auch nicht von den dem hg. Beschluss vom 22. September 2009, A 2009/0032 (2009/22/0043), zugrunde liegenden gleichheitsrechtlichen Bedenken betroffen.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 und 6 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 17. Dezember 2009

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