VwGH 2008/21/0165

VwGH2008/21/016527.5.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des K, vertreten durch Rechtsanwaltskanzlei Dr. Lins KEG in 6700 Bludenz, Bahnhofstraße 8, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 27. April 2007, Zl. 147.269/2-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §47 Abs3 Z3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §47 Abs3 Z3;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein am 1. Jänner 1973 geborener türkischer Staatsangehöriger, stellte am 24. Oktober 2005 einen - auf seinen die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Vater bezogenen - Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung mit dem Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft".

Dieser als Erstantrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" gemäß § 47 Abs. 3 Z 3 des am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) gewertete Antrag wurde mit dem im Namen des Landeshauptmannes von Vorarlberg erlassenen Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bludenz vom 21. Juni 2006 gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG abgewiesen.

Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. April 2007 ab.

Nach zusammengefasster Darstellung des bisherigen Verfahrensganges vertrat auch die belangte Behörde die Auffassung, aufgrund der nunmehr geltenden Rechtslage sei der Antrag des Beschwerdeführers vom 24. Oktober 2005 als Erstantrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" zu werten. Im Anschluss an die Zitierung der maßgeblichen Rechtsvorschriften erwähnte die belangte Behörde, dass im Berufungsverfahren ein Lohnzettel für das Jahr 2006 vorgelegt worden sei, aus dem sich ein durchschnittliches Monatsnettoeinkommen des Vaters des Beschwerdeführers von EUR 1.707,73 errechne. Unter Berücksichtigung der (im Berufungsverfahren weiters ins Treffen geführten) Mieteinnahmen in der angegebenen Höhe von EUR 500,-- monatlich ergebe sich eine Gesamtsumme von EUR 2.207,73. Davon seien das (von der belangten Behörde erkennbar unter Bedachtnahme auf die Unterhaltsverpflichtung des Vaters des Beschwerdeführers für seine Ehefrau) mit EUR 1.202,60 angenommene pfändungsfreie Existenzminimum und die monatlichen Kreditraten von durchschnittlich EUR 400,-- abzuziehen, sodass lediglich EUR 605,13 verblieben. Für den Unterhalt des Beschwerdeführers müssten jedoch nach dem heranzuziehenden Richtsatz gemäß § 293 ASVG im Monat EUR 726,-- zur Verfügung stehen. Die vom Vater des Beschwerdeführers vorgelegte Haftungserklärung sei somit nicht tragfähig. Weiters habe der Beschwerdeführer lediglich "einen einzigen Nachweis vom 12. März 2007" betreffend die Überweisung eines Betrages von EUR 650,-- vorgelegt. Dadurch werde nicht glaubhaft gemacht, dass der Beschwerdeführer von seinem Vater dauerhaft Unterhalt bezogen habe.

Unter dem Gesichtspunkt des § 11 Abs. 3 NAG führte die belangte Behörde dann noch aus, außer seinen Eltern und Geschwistern bestünden keine weiteren familiären Bindungen in Österreich. Nach der Judikatur des EGMR zu Art. 8 EMRK werde einer Ausländerfamilie aber nicht das unbedingte Recht auf ein gemeinsames Familienleben in einem Vertragsstaat zugestanden. Diese Konventionsbestimmung umfasse nicht die generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben. Sie beinhalte auch nicht das Recht, den geeignetsten Ort für die Entwicklung des Familienlebens zu wählen. Es bestehe auch nicht die grundsätzliche Verpflichtung zur Herstellung eines Familienlebens. Jeder Vertragsstaat habe vielmehr das Recht, die Einreise von "Nichtstaatsangehörigen" einer Kontrolle zu unterwerfen. Der Antrag des Beschwerdeführers sei somit abzuweisen, weil die Sicherung des Lebensunterhaltes im NAG eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels darstelle.

Gegen diesen Bescheid erhoben der Beschwerdeführer und sein Vater Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Beschluss vom 26. Februar 2008, B 1118/07-6, wies der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde, soweit sie vom Vater erhoben wurde, zurück, weil er weder Partei des Verfahrens noch Adressat des bekämpften Bescheides gewesen sei und durch die Antragsabweisung in seiner Rechtssphäre lediglich Reflexwirkungen aufträten. Soweit die Beschwerde vom Beschwerdeführer erhoben wurde, lehnte der Verfassungsgerichtshof ihre Behandlung ab und verfügte insoweit die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof.

Mit Schriftsatz vom 10. April 2008 erfolgte die vom Verwaltungsgerichtshof aufgetragene Beschwerdeergänzung. Soweit diese allerdings auch im Namen des Vaters des Beschwerdeführers vorgenommen wurde, geht sie im Hinblick auf die insofern erfolgte Beschwerdezurückweisung durch den Verfassungsgerichtshof ins Leere, weil die ursprüngliche Beschwerde und der Ergänzungsschriftsatz in prozessualer Hinsicht eine Einheit bilden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Oktober 2008, Zl. 2008/06/0168).

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die ergänzte Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

1. Vorauszuschicken ist, dass die Administrativbehörden das Verfahren über den gegenständlichen, bereits am 24. Oktober 2005 und somit noch im Geltungsbereich des am 31. Dezember 2005 außer Kraft getretenen Fremdengesetzes 1997 gestellten Antrag zutreffend nach den Bestimmungen des am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen NAG zu Ende geführt haben (vgl. die Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 1 NAG). Die Behörden haben aber ebenfalls zutreffend den auf die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zur Familienzusammenführung des Beschwerdeführers mit seinem österreichischen Vater gerichteten Antrag als solchen auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" nach § 47 Abs. 3 Z 3 NAG gewertet. Dagegen wird auch in der Beschwerde nichts vorgetragen.

2.1. Die belangte Behörde hat die Abweisung dieses Antrages in erster Linie auf die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG gestützt. Nach der erstangeführten Bestimmung dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Unter welchen Bedingungen diese Voraussetzung verwirklicht ist, wird in § 11 Abs. 5 NAG bestimmt, der in der hier maßgeblichen Stammfassung (damals) wie folgt lautete:

"(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§ 2 Abs. 4 Z 3) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten dessen pfändungsfreies Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr. 79/1896, nicht zu berücksichtigen."

2.2. Zur Auslegung dieser Bestimmung hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 3. April 2009, Zl. 2008/22/0711, grundlegend Stellung genommen. Unter anderem hat er in Punkt 5.3. der Entscheidungsgründe - für die Rechtslage vor der am 1. Jänner 2010 in Kraft getretenen Novelle BGBl. I Nr. 122/2009 - mit eingehender Begründung dargelegt, dass das Existenzminimum des § 291a EO nicht auf alle Fälle einer Unterhaltsberechnung nach § 11 Abs. 5 NAG, die ausdrücklich anhand des § 293 ASVG vorzunehmen sei, angewendet werden könne. Insbesondere sei bei einem gemeinsamen Haushalt unter Berücksichtigung der zu versorgenden Personen zu prüfen, ob das Haushaltsnettoeinkommen den "Haushaltsrichtsatz" nach § 293 Abs. 1 ASVG erreiche, wobei in einer solchen Konstellation auf das Existenzminimum des § 291a EO nicht Bedacht zu nehmen sei.

Der Gerichtshof hat in diesem Erkenntnis somit im Grundsätzlichen aufgezeigt, dass es zur Existenzsicherung nicht für jede Person eines Einkommens nach dem für einen alleinstehenden Pensionsempfänger vorgesehenen Richtsatz bedarf, sondern das Haushaltsnettoeinkommen am "Familienrichtsatz" zu messen ist, sofern der Anspruchsberechtigte mit einem Ehepartner (und allenfalls einem Kind iSd § 252 ASVG) im gemeinsamen Haushalt lebt. Nichts anderes gilt für die Frage der Existenzsicherung desjenigen, der eine Haftungserklärung im Sinn des § 47 Abs. 3 NAG abgegeben hat. Gesteht nämlich der Gesetzgeber mit dem Hinweis auf den Ausgleichszulagenrichtsatz einer mit dem Ehepartner im gemeinsamen Haushalt lebenden Person zu, dass der sogenannte "Haushaltsrichtsatz" für die Unterhaltsbedürfnisse beider Ehepartner ausreicht, ist die Existenz des Zusammenführenden auch dann gesichert, wenn ihm gemeinsam mit seinem Ehepartner der Haushaltsrichtsatz zur Verfügung steht und das restliche Haushaltseinkommen zur Unterhaltsleistung an den Nachziehenden verwendet wird. Diesfalls kann somit von einer tragfähigen Haftungserklärung ausgegangen werden, kann doch der Unterhalt sowohl des Nachziehenden als auch des Zusammenführenden ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen bestritten werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. März 2010, Zl. 2008/22/0637).

2.3. Das hat die belangte Behörde verkannt, indem sie hinsichtlich der Deckung des Bedarfs für den Vater des Beschwerdeführers und für seine (mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebende) Ehefrau auf das pfändungsfreie Existenzminimum nach § 291a EO und nicht auf den diesbezüglichen Ausgleichszulagenrichtsatz abstellte. Demnach wäre in Bezug auf den Bedarf des Vaters des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau vom Richtsatz nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG auszugehen gewesen; dieser hatte nach der hier maßgeblichen Fassung BGBl. II Nr. 532/2006 damals EUR 1.091,14 betragen. Zutreffend hat die belangte Behörde angenommen, dass zur Deckung des Lebensbedarfs des Beschwerdeführers ein dem Richtsatz nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG entsprechender Betrag von (damals) EUR 726,-- zur Verfügung hätte stehen müssen. Demnach wäre auf Basis der im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides geltenden Rechtslage zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Beschwerdeführers und seiner Eltern ein monatliches Durchschnittsnettoeinkommen von insgesamt EUR 1.817,14 erforderlich gewesen. Somit hätte sich im Verhältnis zum damaligen Gesamteinkommen des Vaters des Beschwerdeführers im mit EUR 2.207,73 angenommenen Ausmaß - selbst bei Abzug der im Monat EUR 400,-- betragenden Kreditbelastungen - nur ein Differenzbetrag von rein rechnerisch nicht einmal EUR 10,-- ergeben. Das hätte aber noch nicht den Schluss gerechtfertigt, der Aufenthalt des Beschwerdeführers könnte zur finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen.

3. Die belangte Behörde ist aber auch noch davon ausgegangen, es sei die Erfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzung nach § 47 Abs. 3 Z 3 lit. a NAG nicht nachgewiesen. Diese Bestimmung verlangt, dass der Angehörige des Zusammenführenden von diesem bereits im Herkunftsstaat Unterhalt bezogen hat. Dazu wird in der Beschwerde ins Treffen geführt, der Berufung seien drei Schreiben beigelegt worden, die bestätigten, dass der Vater des Beschwerdeführers dem in der Türkei lebenden Sohn regelmäßig Unterhalt geleistet habe. Diese Beweismittel seien von der belangten Behörde nicht berücksichtigt worden.

Damit zeigt der Beschwerdeführer einen wesentlichen Verfahrensmangel auf, weil nicht ausgeschlossen ist, dass die belangte Behörde bei Bedachtnahme auf diese Bestätigungsschreiben zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (siehe dazu aus der letzten Zeit etwa das Erkenntnis vom 29. April 2010, Zl. 2008/21/0402).

4. Die belangte Behörde nahm zwar auch auf § 11 Abs. 3 NAG Bedacht, demzufolge ein Aufenthaltstitel trotz des Fehlens (u.a.) der Voraussetzung nach § 11 Abs. 2 Z 4 NAG erteilt werden kann, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist. Zur Beurteilung dieser Frage ist - an Hand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles - eine gewichtende Gegenüberstellung des Interesses des Fremden an der Erteilung eines Aufenthaltstitels und dem öffentlichen Interesse an der Versagung vorzunehmen. Art 8 EMRK enthält zwar kein Recht von Ausländern auf Entfaltung des Familienlebens in einem bestimmten Staat. Dennoch kann sich aus dieser Bestimmung der EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung des Staates ergeben, die Einreise und Niederlassung von Familienangehörigen zu ermöglichen, mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bildet (siehe des Näheren das hg. Erkenntnis vom 18. Juni 2009, Zl. 2008/22/0387). Der erforderlichen Prüfung, ob ein solcher Eingriff bei Versagung des vom Beschwerdeführer beantragten Aufenthaltstitels gegeben wäre, wird jedoch die sich im Wesentlichen auf die bloße Wiedergabe einzelner Rechtssätze aus der Judikatur des EGMR beschränkende Begründung der belangten Behörde nicht gerecht.

5.1. Der angefochtene Bescheid war aber schon aus den unter Punkt 2. und 3. genannten Gründen wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

5.2. Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren findet darin keine Deckung.

Wien, am 27. Mai 2010

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