VwGH 2008/21/0024

VwGH2008/21/002426.8.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des C, vertreten durch Dr. Andreas Oberbichler und Dr. Michael Kramer, Rechtsanwälte in 6800 Feldkirch, Hirschgraben 37, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 26. November 2007, Zl. 121.718/6-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §293 Abs1 idF 2006/II/532;
ASVG §293 Abs1 lita sublitaa idF 2006/II/532;
ASVG §293 Abs1 lita sublitbb idF 2006/II/532;
NAG 2005 §47 Abs3 Z3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
ASVG §293 Abs1 idF 2006/II/532;
ASVG §293 Abs1 lita sublitaa idF 2006/II/532;
ASVG §293 Abs1 lita sublitbb idF 2006/II/532;
NAG 2005 §47 Abs3 Z3;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" gemäß § 47 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.

Begründend führte die belangte Behörde - auf das im vorliegenden Zusammenhang Wesentliche zusammengefasst - aus, der 1982 geborene Beschwerdeführer strebe die Familienzusammenführung mit seinem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Vater an. Die Voraussetzungen des begehrten, in § 47 Abs. 3 NAG geregelten Aufenthaltstitels lägen jedoch nicht vor. Lediglich durch die Aussage, der Vater hätte dem Beschwerdeführer persönlich anlässlich von Besuchen in der Türkei Geld übergeben, sei nämlich ein Nachweis der Unterhaltsgewährung nach dieser Gesetzesstelle nicht erbracht. Weiters müsste eine derartige Unterhaltsgewährung mit gewisser Regelmäßigkeit erfolgt sein, was vorliegend nicht der Fall sei.

Darüber hinaus habe der Vater zwar für den Beschwerdeführer und seine volljährige - ebenfalls einen Nachzug nach Österreich anstrebende - Schwester Haftungserklärungen abgegeben. Diese erweisen sich jedoch im Hinblick auf die Sorgepflicht für eine weitere minderjährige Tochter (seine mit ihm, dieser Tochter und einem weiteren berufstätigen (und selbsterhaltungsfähigen) Sohn zusammen wohnende Gatten sei erwerbstätig und komme für ihren Lebensunterhalt selbst auf) als nicht tragfähig. Der Vater beziehe nämlich - einschließlich der Sonderzahlungen - ein monatliches Nettoeinkommen von EUR 1.400,--. Das pfändungsfreie Existenzminimum betrage - unter Berücksichtigung der erwähnten Sorgepflicht für die minderjährige Tochter - EUR 1.082,60. Es verblieben dem Vater somit lediglich EUR 317,40 im Monat, die er für Unterhaltsleistungen an den Beschwerdeführer und seine volljährige Schwester aufwenden könnte. Die Unterhaltsmittel, die für die Genannten, einen Nachzug nach Österreich anstrebenden Personen nach dem Richtsatz gemäß § 293 ASVG erforderlich wären, betrügen pro Person jedoch EUR 726,--. Insgesamt müsste der Vater daher über ein monatliches Einkommen von EUR 2.534,60 verfügen, um seine erwähnten Unterhaltsverpflichtungen erfüllen zu können. Da dieser Betrag nicht einmal annähernd erreicht werde, sei zu besorgen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers zur finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte, sodass ein Aufenthaltstitel gemäß § 11 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 5 NAG nicht erteilt werden dürfe.

Das Einkommen des volljährigen, in Österreich aufhältigen Bruders bzw. die von ihm weiters abgegebene Haftungserklärung könnten nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Beschwerdeführers berücksichtigt werden. Als Zusammenführender, auf den sich der beantragte Aufenthaltstitel "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" beziehe, habe nämlich der Vater eine Haftungserklärung abzugeben gehabt. Er müsste somit auch in der Lage sein, seiner darin eingegangenen Verpflichtung tatsächlich nachkommen zu können.

Gemäß § 11 Abs. 3 NAG könne ein Aufenthaltstitel trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 bis 6 NAG erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Durch den Aufenthalt des Vaters in Österreich seien familiäre Bindungen und private Interessen im Bundesgebiet zwar zu bejahen. Da es sich jedoch um einen Erstantrag handle und mangels Aufenthaltsrechts für Österreich noch kein Privat- oder Familienleben geführt worden sei, könne auch nicht von der Aufrechterhaltung eines solchen gesprochen werden. Überdies sei der Beschwerdeführer angesichts seiner Volljährigkeit nicht vom engen Begriff der "Kernfamilie" umfasst. Einer Ausländerfamilie stehe nicht das unbedingte Recht auf ein gemeinsames Familienleben in einem Vertragsstaat zu. Art. 8 EMRK umfasse nicht die generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Wahl des Familienwohnsitzes durch die verschiedenen Familienmitglieder anzuerkennen und die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben. Auch beinhalte Art. 8 EMRK nicht das Recht, den geeignetsten Ort für die Entwicklung des Familienlebens zu wählen. Es bestehe keine grundsätzliche Verpflichtung zur Herstellung des Familienlebens. Vielmehr habe jeder Vertragsstaat das Recht, die Einreise von Nichtstaatsangehörigen einer Kontrolle zu unterwerfen. Schließlich erfülle der Beschwerdeführer auch nicht die Erfordernisse der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie). Er könne daher kein Recht auf Freizügigkeit gemäß den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in Anspruch nehmen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Eingangs ist festzuhalten, dass unter Berücksichtigung des Zeitpunktes der Bescheiderlassung die Rechtslage des NAG idF der Novelle BGBl. I Nr. 99/2006 maßgeblich ist.

Der belangten Behörde ist grundsätzlich darin beizupflichten, dass der Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel nach § 47 Abs. 3 Z. 3 NAG anstrebt. Ein solcher erfordert gemäß lit. a dieser Bestimmung, dass der Angehörige des österreichischen Staatsbürgers von diesem (als Zusammenführenden) bereits im Herkunftsstaat Unterhalt bezogen hat. Die entsprechende Unterhaltszahlungen verneinende Feststellung der belangten Behörde wurde jedoch nicht mängelfrei getroffen:

Im Verwaltungsverfahren wurden nämlich mit einer Stellungnahme vom 5. April 2007 mehrere Überweisungsbelege aus der Zeit zwischen Juli 2006 und März 2007 vorgelegt. Weiters wurden die Erklärungen abgegeben, der Vater des Beschwerdeführers als Zusammenführender habe diesem Unterhalt in Form von Bargeld persönlich (bei verschiedenen Aufenthalten in der Türkei) sowie durch Bekannte, die in die Türkei gereist seien, übermittelt. Der angefochtene Bescheid enthält keine schlüssige Begründung, weshalb diesen Beweisergebnissen nicht gefolgt werden könnte oder den - hiernach über mehrere Jahre hinweg laufend fortgesetzten - Unterhaltszahlungen die Regelmäßigkeit gefehlt hätte.

Bei ihrer rechtlichen Beurteilung hat die belangte Behörde verkannt, dass sie hinsichtlich der Deckung des Bedarfs für den Vater des Beschwerdeführers und seine, mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebende Ehefrau sowie deren minderjährige Tochter auf den Ausgleichszulagenrichtsatz abzustellen gehabt hätte (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Mai 2010, Zl. 2008/21/0012). Demnach wäre in Bezug auf den Bedarf des Vaters des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau vom Richtsatz nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. aa ASVG auszugehen gewesen; dieser hatte nach der hier maßgeblichen Fassung des BGBl. II Nr. 532/2006 bei Erlassung des bekämpften Bescheides EUR 1.091,14 betragen. Unter Berücksichtigung der Unterhaltspflicht für ein minderjähriges Kind erhöht sich dieser Betrag nach § 293 Abs. 1 letzter Satz ASVG um EUR 76,09 auf EUR 1.167,23. Zur Deckung des Lebensbedarfs des Beschwerdeführers selbst hätte - insoweit ist die belangte Behörde im Recht - ein dem Richtsatz nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG entsprechender Betrag von (damals) EUR 726,-- zur Verfügung stehen müssen. Auf Basis der im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (im November 2007) geltenden Rechtslage wäre damit zur Aufbringung der notwendigen Mittel ein monatliches Einkommen von EUR 1.893,23 erforderlich gewesen.

Zwar erreicht das Einkommen des Vaters nicht diese Höhe. Die belangte Behörde hätte aber auch das Einkommen der Mutter des Beschwerdeführers (laut Feststellungen des Erstbescheides durchschnittlich EUR 725,74 monatlich) berücksichtigen müssen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 18. März 2010, Zl. 2008/22/0637, insbesondere Pkt. 6.3. der Entscheidungsgründe).

Was die volljährige, im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides ebenfalls einen Familiennachzug aus der Türkei anstrebende Schwester des Beschwerdeführers anlangt (sie hat ihre gegen einen vergleichbar mit dem hier ergangenen Bescheid der belangten Behörde erhobene Beschwerde zwischenzeitig zurückgezogen), hätte die belangte Behörde das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel für beide zuletzt genannte Kinder des Zusammenführenden (bei Vorhandensein zureichender Mittel für einen Nachziehenden) nicht zum Anlass nehmen dürfen, beide Anträge ohne weiteres Verfahren abzuweisen. Vielmehr wäre bereits im Verwaltungsverfahren abzuklären gewesen, ob bzw. welcher Nachzug in diesem Fall vorrangig gewünscht wird.

Beizupflichten ist der belangten Behörde - entgegen der in der Beschwerde vertretenen Ansicht - allerdings darin, dass im vorliegenden Zusammenhang der weiteren Haftungserklärung des volljährigen, in Österreich lebenden Bruders des Beschwerdeführers keine entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2010, Zl. 2008/22/0111, mwN).

Im Hinblick auf die eingangs dargestellte Verkennung der Rechtslage war der angefochtene Bescheid jedoch wegen (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die (gesondert verzeichnete) Umsatzsteuer durch die in dieser Verordnung vorgesehene Pauschalierung bereits abgegolten ist.

Wien, am 26. August 2010

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