VwGH 2008/01/0479

VwGH2008/01/047917.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde des A M auch M in W, geboren 1990 alias 1979, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 23. Mai 2008, Zl. 318.986-1/2E-V/13/08, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §18 Abs1;
AVG §52;
AsylG 2005 §18 Abs1;
AVG §52;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, reiste über die türkisch-griechische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und gelangte in der Folge in das Bundesgebiet, wo er am 30. September 2007 um internationalen Schutz ansuchte.

Bei seiner Erstbefragung am 1. Oktober 2007 gab er als Geburtsdatum den 16. November 1990 an. Das in Griechenland festgehaltene Geburtsdatum stimme damit nicht überein, er habe dort einen arabischen Dolmetscher gehabt, den er nicht verstehen habe können.

In der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 26. November 2007 wurde der Beschwerdeführer gefragt, woher er sein Alter wisse. Dazu gab er an, seine Mutter habe ihm gesagt, er sei im Jahr 1990 geboren; von seiner in Saudi-Arabien lebenden Schwester wisse er sein genaues Geburtsdatum. In Griechenland habe man ihn "volljährig gemacht" und gesagt, er sei 20 Jahre alt.

Das Bundesasylamt veranlasste in der Folge eine psychiatrische Begutachtung zur Frage, inwieweit eine Aussage getroffen werden könne, ob der Beschwerdeführer minderjährig oder volljährig sei. In einem psychiatrischen Gutachten vom 5. Dezember 2007, basierend auf einer Untersuchung am 28. November 2007, gelangte der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer einen schlanken, großen Körperbau, geringe Faltenbildung, schwachen Bartwuchs und reife Gesichtszüge aufweise (an anderer Stelle aber: "großer, kräftiger Körperbau, starker Bartwuchs, deutliche Faltenbildung im Gesichtsbereich"). Von psychosozialer Seite sei festzuhalten, dass er die Entscheidung zur Flucht alleine getroffen und sie selbstständig organisiert habe. Eine Zukunftsplanung sei bereits vorhanden. Es fänden sich keine Ablösungsprobleme vom Heimatland und nahestehenden Menschen. Daraus schloss der Gutachter, dass das Alter der körperlichen Ausreifung üblicherweise zwischen 18 und 21 Lebensjahren anzusetzen sei. Seitens des körperlichen Aspektes sei die Pubertät und das Erreichen von zumindest 18 Lebensjahren als sehr wahrscheinlich anzusehen; seitens der psychosozialen Reifung sei "dies ebenfalls nachzuweisen". Es fänden sich Hinweise für eine ausreichende geschlechtliche, soziale Reifung und auch Zukunftsperspektiven seien nachweisbar. Daher sei insgesamt auf Grund der Zusammenschau der Befunde das Erreichen bzw. Überschreiten des 18. Lebensjahres als sehr wahrscheinlich anzusehen.

In der darauf folgenden Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt am 13. Dezember 2007 wurde diesem das Gutachten vorgehalten. Der Beschwerdeführer gab an, auf Grund des Gesprächs beim Arzt, das nur etwa zehn Minuten gedauert habe, könne man nicht sagen, wie alt er sei. Er habe sein richtiges Geburtsdatum genannt. Zu Altersangaben gegenüber den griechischen Behörden meinte er nochmals, er habe dort das gleiche Geburtsdatum genannt bzw. angegeben, dass er 17 Jahre alt sei. Es sei aber nur ein Dolmetscher, der Arabisch gesprochen habe, anwesend gewesen. Dieser habe verstanden, dass er 27 Jahre alt sei.

Auf Grund eines Aufnahmeersuchens der österreichischen Behörden teilte die zuständige griechische Behörde mit Schreiben vom 16. Jänner 2008 mit, dass der Beschwerdeführer in Griechenland registriert worden sei. In diesem Schreiben wurde in der Rubrik "Geburtsdatum" des Beschwerdeführers angeführt: "01-01-1979 alias 16-11-1990". Über Vorhalt des in der Mitteilung der griechischen Behörde aufscheinenden Geburtsdatums meinte der Beschwerdeführer, er habe auch dort angegeben, dass er 17 Jahre alt sei, er sei auf Arabisch einvernommen worden, obwohl er nicht Arabisch könne. Die Griechen erklärten alle für volljährig. In einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesasylamt machte der dem Beschwerdeführer beigegebene Rechtsberater geltend, der Beschwerdeführer sei Analphabet und wirke nicht offensichtlich volljährig.

Mit Bescheid vom 8. April 2008 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, erklärte für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung Griechenland für zuständig, und wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 dorthin aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Griechenland gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig. Begründend ging die Behörde erster Instanz davon aus, dass der Beschwerdeführer bereits volljährig sei. Die Volljährigkeit ergebe sich insbesondere aus dem psychiatrischen Gutachten vom 5. Dezember 2007. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer in Griechenland ein anderes Geburtsdatum (1. Jänner 1979) angegeben. Seine Behauptung, der Dolmetscher in Griechenland habe falsche Daten zu Protokoll gegeben, sei aus näher dargestellten Gründen nicht glaubwürdig. Demgegenüber habe er das behauptete Geburtsdatum "16. November 1990" nicht nachweisen können. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer zugestellt.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung bestritt der Beschwerdeführer mit einer mehrseitigen Begründung die Alterseinschätzung der Behörde erster Instanz. Soweit sie sich dabei auf ein Gutachten stütze, sei dieses - aus näher dargestellten Gründen - widersprüchlich.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 5 und 10 AsylG 2005 ab. Begründend führte sie (zur Frage der Volljährigkeit des Beschwerdeführers) lediglich aus, der Behauptung des Beschwerdeführers, in Wahrheit minderjährig zu sein, sei das vorliegende fachärztliche Gutachten entgegenzuhalten. In diesem sei "anhand mehrerer logisch nachvollziehbarer Kriterien 'das Erreichen bzw. Überschreiten des 18. Lebensjahres als sehr wahrscheinlich'" eingestuft worden. In der Sache selbst sah die belangte Behörde die Zuständigkeit Griechenlands zur Prüfung des Asylantrages für gegeben an. Gründe für einen Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung lägen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seinem Erkenntnis vom 16. April 2007, Zl. 2005/01/0463, grundlegend festgehalten, dass eine Alterseinschätzung bei Asylwerbern überprüfbar zu erfolgen hat, wozu es - sollte die Altersfeststellung nicht auf weitere, nachvollziehbar dargestellte Umstände gestützt werden können - im Regelfall einer Untersuchung und Beurteilung durch geeignete (zumeist wohl medizinische) Sachverständige bedarf. Sollten auch danach noch keine hinreichend gesicherten Aussagen zur Volljährigkeit möglich sein, haben die Asylbehörden im Zweifel von den Angaben des Asylwerbers zu seinem Geburtsdatum (Alter) auszugehen (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0268).

2. Hinsichtlich des vorliegenden Gutachtens gleicht der vorliegende Fall jenem, der dem genannten hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0268, zu Grunde lag; es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf dessen Begründung verwiesen. Aus den dort dargestellten Gründen reicht dieses Gutachten nicht aus, um die Volljährigkeit des Beschwerdeführers mit der erforderlichen Sicherheit feststellen zu können.

3. Da die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer sei entgegen seinen Angaben bereits volljährig, somit einer tragfähigen Grundlage entbehrt, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen, ob die Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides an den Beschwerdeführer persönlich wirksam erfolgen konnte und die belangte Behörde damit zu einer meritorischen Erledigung der Berufung berechtigt war (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 22. November 2005, Zl. 2005/01/0415).

4. Erweist sich die meritorische Behandlung der Berufung durch die belangte Behörde aber als zutreffend, so liegt eine weitere Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides darin, dass auch die Frage, ob die Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland seine durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte verletzen würde und Österreich deshalb von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätte machen müssen, keiner ausreichenden Prüfung unterzogen wurde. Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt festgehalten hat, könnte eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würde und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfindet (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0010, und vom 15. Dezember 2010, Zl. 2006/19/1354, jeweils mwH; siehe weiters das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21. Jänner 2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (Große Kammer), Nr. 30696/09). Dazu hat die belangte Behörde aber eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen unterlassen und sich insbesondere mit den Ungereimtheiten in den Länderfeststellungen der ersten Instanz betreffend die Versorgungslage von Asylwerbern nicht auseinander gesetzt (vgl. auch dazu das genannte hg. Erkenntnis Zl. 2008/19/0010, sowie das hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0195). Auch unter diesem Aspekt erweist sich der angefochtene Bescheid als mangelhaft.

5. Schon deshalb war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 17. März 2011

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