VwGH 2007/19/0265

VwGH2007/19/026515.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke, den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Rehak sowie die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Feiel als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des MA, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 22. Februar 2007, Zl. 234.192/0/8E-IV/44/03, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

Auswertung in Arbeit!
Auswertung in Arbeit!

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte am 1. Oktober 2001 in das Bundesgebiet und beantragte am selben Tag Asyl.

In seiner Einvernahme durch das Bundesasylamt gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sein Vater ein bekannter Schneider gewesen sei und in der Stadt Jalreis eine Schneiderei nur für Männer gehabt habe. Sein Vater habe der Braut eines Bekannten angeboten, ihr Brautkleid zu nähen. Die Braut sei zu ihnen nach Hause gekommen und sein Vater habe mit Hilfe des Beschwerdeführers begonnen, bei der Braut Maß zu nehmen. Jemand habe die Religionspolizei alarmiert und plötzlich seien die Taliban gekommen, hätten seinen Vater geschlagen und den Beschwerdeführer festgenommen, der drei Tage im Gefängnis verbracht habe. Dort habe er erfahren, dass die Taliban vorhätten, die Gefangenen in den Krieg zu schicken, weshalb sich der Beschwerdeführer zur Flucht entschlossen habe, die ihm schließlich auch gelungen sei. Der Beschwerdeführer sei zu Verwandten in das Dorf Mamaki geflohen, wo er von seiner Mutter erfahren habe, dass die Taliban seinen Vater am Tag der Festnahme des Beschwerdeführers getötet hätten. Daraufhin habe der Beschwerdeführer seine Heimat verlassen. Im Fall seiner Rückkehr würde es ein persönliches Problem zwischen den Mördern seines Vaters, die dem Beschwerdeführer bekannt seien, und dem Beschwerdeführer geben. Auch wenn der Beschwerdeführer nicht die Absicht habe, Blutrache zu üben, würden die Menschen immer Angst vor ihm haben; weil er für die Menschen immer ein Gegner sein werde, könnten sie ihn töten. Die drei älteren Brüder des Beschwerdeführers seien zwischen 1997 und 1998 während des Krieges festgenommen worden und seither verschwunden.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 10. Dezember 2002 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I.), stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.), und erteilte ihm gleichzeitig gemäß § 15 Abs. 1 und 3 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Zur Abweisung des Asylantrages führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus, dass die Taliban gestürzt worden seien und auf Grund der neuen Machtverhältnisse eine Gefährdung des Beschwerdeführers nicht mehr gegeben sei. Der Beschwerdeführer sei keineswegs gezwungen, Blutrache zu üben, sondern könne Anzeige gegen die vermutlichen Täter erstatten. Darüber hinaus erstrecke sich die Blutrache auf die gesamte Großfamilie, weshalb nicht nur der Beschwerdeführer, sondern jedes männliche Familienmitglied eine Bedrohung für die angeblichen Täter darstelle. Der vom Beschwerdeführer als Fluchtgrund vorgetragene Sachverhalt stehe mit keinem Konventionsgrund im Zusammenhang; seine Furcht gründe sich lediglich auf den Umstand, dass ein Konflikt zwischen den vermutlichen Mördern seines Vaters und ihm selbst entstehen könnte.

In der nur gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Berufung wiederholte der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe und führte aus, dass die Männer, die seinen Vater getötet hätten, bereits für die Hezb-e Islami und Hekmatyar tätig gewesen seien, bevor sie für die Taliban gearbeitet hätten. Der Beschwerdeführer gehe davon aus, dass sich diese Leute weiterhin in seinem Heimatgebiet aufhielten. Im Fall seiner Rückkehr würden diese Männer davon ausgehen, dass er versuchen werde, den Tod seines Vaters zu rächen. Es sei naheliegend, dass sie versuchen würden, ihn umzubringen, um der von ihm ausgehenden Gefahr zuvorzukommen.

In der am 19. Februar 2007 vor der belangten Behörde durchgeführten mündlichen Verhandlung wiederholte der Beschwerdeführer neuerlich seine Fluchtgründe und führte ergänzend aus, seit ca. 2 ½ Jahren regelmäßig in telefonischem Kontakt zu seiner Mutter zu stehen, welche ihm erzählt habe, dass die Taliban ihn nach seiner Flucht weiter verfolgt hätten. Sie seien immer noch im Dorf präsent und pflegten Kontakte zum Distriktsleiter; das bedeute, dass sie in dieser Gegend immer noch die Macht hätten, zumindest in der Nacht. Die drei Brüder des Beschwerdeführers hätten zunächst gemeinsam mit den Taliban gekämpft und sich dann gegen sie gestellt, bis sie schließlich von den Taliban festgenommen worden seien. Der Vorfall mit dem Maßnehmen bei der Braut sei für die Taliban eine Ausrede gewesen, um Maßnahmen gegen die Familie des Beschwerdeführers zu setzen. Befragt, aus welchem Motiv diese Leute dem Beschwerdeführer etwas tun sollten, gab dieser an, wenn man jemandem etwas Schlechtes antue, dann erwarte dieser natürlich als Reaktion das Gleiche; die Taliban hätten ihnen Schlechtes angetan und würden sich davor fürchten, dass der Beschwerdeführer ihnen auch etwas Schlechtes antue. Selbst wenn er ihnen sagen würde, dass er ihnen alles verziehen habe, würden sie ihm nicht glauben. Außerdem habe der Beschwerdeführer ihnen damals bei seiner Festnahmen damit gedroht, sie umzubringen. In Afghanistan gebe es ein Sprichwort, wonach die Afghanen auch noch nach 100 Jahren Rache nähmen und wenn sie etwas sagten, meinten sie es so und setzten es auch durch.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab. Sie stellte u. a. fest, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland verlassen habe, nachdem er durch die Taliban festgenommen und angehalten worden sei und befürchtet habe, zu militärischen Einsätzen gezwungen zu werden. Die Festnahme sei erfolgt, weil der Beschwerdeführer im Haus seiner Familie seinen Vater entgegen bestehenden Regelungen der Taliban dabei unterstützt habe, für eine Frau ein Brautkleid anzumessen, wobei sie von den Taliban betreten worden seien. Auf Grund des notorischen Umstandes, dass in Afghanistan das Regime der Taliban beseitigt worden sei, habe der Beschwerdeführer keine Verfolgungshandlungen wegen seiner Beteiligung an einem Verstoß gegen die Regelungen der Taliban wegen der Mitwirkung an der Anmessung eines Brautkleides und auch nicht deshalb zu befürchten, weil er sich der möglicherweise bestehenden Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban entzogen habe. Nicht festgestellt werde, dass der Beschwerdeführer befürchten müsse, von jenen Personen, die als damalige Angehörige der Taliban ihn festgenommen und seinen Vater getötet hätten, getötet zu werden, weil diese Personen dadurch gegen sie gerichtete Racheakte des Beschwerdeführers vermeiden wollten. Beweiswürdigend führte die belangte Behörde dazu aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach dieser eine Bedrohung seines Lebens durch ehemalige Angehörige der Taliban, welche seinen Vater getötet hätten, befürchte, weil diese damit eine Rachehandlung des Beschwerdeführers vermeiden wollten, sei nicht plausibel, weil die von ihm dargestellte Situation nicht der üblichen Konstellation einer Gefährdung wegen Blutrache entspreche. Eine solche Gefährdung wegen Blutrache würde voraussetzen, dass es zuvor durch den Beschwerdeführer oder einen seiner Angehörigen zu einer gegen die Familie, von der erwartet werde, dass sie Blutrache übe, gerichteten Handlung gekommen sei. Ein solches Sachverhaltselement liege im vorliegenden Fall nicht vor, weshalb ein konstitutives Element für eine Blutrachesituation fehle. In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, dass gegen den Beschwerdeführer keine Bedrohung von Seiten jener Personen, die als damalige Angehörige der Taliban gegen ihn und seinen Vater eingeschritten wären, unter dem Aspekt der Blutrache bestehe. Selbst bei Zutreffen einer derartigen Befürchtung könne diese Bedrohung nicht als unter dem Aspekt der Blutrache erfolgend angesehen werden, da eine Blutrachekonstellation im vorliegenden Fall nicht gegeben sei. Eine solche Bedrohung wäre nicht als asylrelevant, sondern als bloßer krimineller Akt anzusehen, weil sie nicht im Sinne von Blutrache wegen der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur sozialen Gruppe seiner Familie erfolge.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Die Beschwerde wirft der belangten Behörde - unter Berufung auf die zur Blutrache in Afghanistan getätigten Ausführungen in einem Reisebericht von Accord - vor, die Verhältnisse in Afghanistan verkannt zu haben. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan könne sich der Beschwerdeführer durch die dort herrschenden kulturellen, familiären und sozialen Zusammenhänge tatsächlich genötigt sehen, Rache für den Tod seines Vaters und seiner Brüder zu nehmen. Zu den familiären Verhältnissen habe die belangte Behörde keine Ermittlungen vorgenommen. Selbst wenn der Beschwerdeführer sich dem Druck seiner Familie entziehen könne und nicht Vergeltung üben werde, wüssten die Taliban dies nicht, sodass nur der Tod des Beschwerdeführers sie vor künftigen Nachstellungen bewahren könne. Es sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Taliban den Beschwerdeführer töten würden, um zu verhindern, dass der Beschwerdeführer an ihnen Rache nehme.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde im Ergebnis eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf.

2.1. Nach ständiger hg. Rechtsprechung ist von den Asylbehörden zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens des Asylwerbers geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 11. November 2008, Zl. 2007/19/0279, mwN).

2.2. In Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Befürchtung, von den Mördern seines Vaters getötet zu werden, hat die belangte Behörde dieser Verpflichtung durch die von ihr getroffenen Länderfeststellungen zur Situation in Afghanistan, welchen sich keine auf die Blutrache beziehenden Ausführungen entnehmen lassen, nicht entsprochen. Insofern erweist sich ihre durch kein Berichtsmaterial belegte Begründung, die Befürchtung des Beschwerdeführers, von den Mördern seines Vaters getötet zu werden, sei deshalb unplausibel, weil die von ihm geschilderte Situation nicht der üblichen Blutrachekonstellation entspreche, als mangelhaft.

Zudem hat die belangte Behörde übersehen, dass der Beschwerdeführer gar nicht behauptet hatte, selbst Opfer einer Blutrache zu werden. Vielmehr befürchtete er seinem Vorbringen zufolge, dass ihn die Mörder seines Vaters deshalb töten könnten, um einer vom Beschwerdeführer ausgehenden Blutrachegefahr vorzubeugen. Dazu hätte es der Vornahme von Ermittlungen zu den tatsächlich in Afghanistan herrschenden Verhältnissen bedurft, um beurteilen zu können, ob der vom Beschwerdeführer geschilderte Tod des Vaters nach afghanischer Anschauung eine Legitimation für die nachfolgende Blutrache durch seine Angehörigen darstelle, und die Mörder daher gegebenenfalls einer Blutrachegefahr ausgesetzt wären, der sie begegnen könnten, indem sie ihrerseits zuvor den Beschwerdeführer töten. Erst auf Basis der Berichtslage in Bezug auf vergleichbare Vorfälle wäre die belangte Behörde in der Lage gewesen, Überlegungen zur objektiven Wahrscheinlichkeit der vom Beschwerdeführer vorgebrachten drohenden Verfolgungsgefahr anzustellen.

3. Die genannten Verfahrensmängel sind relevant, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde unter Einbeziehung des realen Hintergrundes der vom Beschwerdeführer behaupteten Bedrohung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können und auch die Hilfsbegründung des angefochtenen Bescheides denselben nicht zu tragen imstande ist. Die belangte Behörde hat alternativ die Auffassung vertreten, dass selbst bei Zutreffen der vom Beschwerdeführer geäußerten Befürchtung, eine derartige Bedrohung als bloßer krimineller Akt anzusehen wäre, weil sie nicht im Sinne von Blutrache wegen der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur sozialen Gruppe seiner Familie erfolge. Abgesehen davon, dass sich dem angefochtenen Bescheid - wie oben ausgeführt - keine Feststellungen zur Blutrache in Afghanistan entnehmen lassen, greift diese Begründung der belangten Behörde zu kurz. Träfe es zu, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von den Mördern seines Vaters deshalb verfolgt und allenfalls getötet werden würde, um einer vom Beschwerdeführer zu übenden Blutrache vorzubeugen, ließe sich ein Zusammenhang mit einem Konventionsgrund nicht ausschließen (vgl. zur Familie als "soziale Gruppe" iSd Genfer Flüchtlingskonvention etwa das hg. Erkenntnis vom 21. März 2007, Zlen. 2006/19/0083 bis 0085, mwN, zu einer vergleichbaren Konstellation "vorbeugender" Verfolgung wegen befürchteter Blutrache etwa das hg. Erkenntnis vom 7. Oktober 2008, Zl. 2006/19/0706).

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 15. Dezember 2010

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte