Normen
AsylG 1997 §7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 26. Oktober 2002 in das Bundesgebiet ein und beantragte am Folgetag Asyl. Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, er sei mit seiner Familie während der Taliban-Herrschaft in Pakistan gewesen und erst nach deren Sturz in seine Heimatprovinz Parwan zurückgekehrt. Dort habe der Vater des Beschwerdeführers versucht, beschlagnahmte Grundstücke der Familie von einem Kommandanten namens Maulana zurückzubekommen. Der Vater habe deshalb gegen den Kommandanten Anzeige beim Bürgermeister erstattet. Daraufhin seien die Eltern und der Bruder des Beschwerdeführers im April 2002 von Maulanas Leuten erschossen worden. Der Beschwerdeführer habe nach Kabul flüchten können, wo sich auch seine Frau und deren Vater befänden. In Kabul habe er nicht bleiben wollen, weil er Angst gehabt habe, dass ihn Maulana auch dort finden werde. Er wolle die Rückgabe der Grundstücke weiter betreiben. Auf den Vorhalt, ob er darauf nicht verzichten könne, meinte der Beschwerdeführer, Maulana werde ihn "so und so" töten.
Mit Spruchpunkt I. des Bescheides vom 29. April 2003 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) wegen mangelnder Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens ab.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung. In einer Berufungsergänzung vom 22. Mai 2003 präzisierte er sein Fluchtvorbringen dahingehend, dass Militärkommandant Maulana die Ermordung seiner Familienangehörigen offenbar veranlasst habe, um seinen Einfluss in einem sich zunehmend demokratisierenden Afghanistan zu sichern und ein Exempel zu statuieren. Dieses Motiv erfülle bereits die politische Verfolgung. Auch wenn der Vater des Beschwerdeführers nicht politisch aktiv im klassischen Sinn gewesen sei, so habe er durch sein Handeln eine politische Gesinnung gezeigt, die den Kriegsherren zuwider laufe und ihre Macht bedrohe. "Erschwerend" sei, dass zwei Angehörige der Familie des Militärkommandanten Regierungsmitglieder seien.
Über diese Berufung verhandelte die belangte Behörde am 12. Jänner 2005. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers brachte in dieser Verhandlung vor, der Beschwerdeführer sei der einzige Überlebende seiner Familie. Er sei somit erbberechtigter Sohn und Partei in einem allfälligen Rückgabeverfahren betreffend die umstrittenen Grundstücke. Die Familie des Beschwerdeführers werde im Übrigen durch den Kommandanten zwischenzeitig als oppositionell eingestuft und daher auch aus politischen Gründen verfolgt. Am Ende der Verhandlung übernahm es der anwesende Sachverständige Dr. Klimburg, die Angaben des Beschwerdeführers anlässlich einer geplanten Afghanistan-Reise zu überprüfen.
In der fortgesetzten Berufungsverhandlung am 7. Oktober 2005 erstattete der Sachverständige Bericht über die von ihm geführten Recherchen, auf Grund derer er Zweifel an der Richtigkeit des vom Beschwerdeführer ausgesagten Todeszeitpunktes seiner Familienangehörigen anmeldete. Im Besonderen verwies er auf sein Gespräch mit dem Schwiegervater des Beschwerdeführers, der ihm erzählt habe, dass der Vater des Beschwerdeführers bereits nach dem Sturz des kommunistischen Regimes von den Mujaheddin ermordet worden sei. Der "damalige wichtige Kommandant" sei Abdur Rahman Maulana gewesen; er sei jetzt der Polizeikommandant der Provinz Parwan. Die Mutter und den Bruder des Beschwerdeführers hätte man bald darauf getötet, "um Gefahren der Blutrache zu verringern". Der Beschwerdeführer sei damals nicht zu Hause gewesen und habe "dann" nach Pakistan fliehen können. An der Zuverlässigkeit dieser Angaben habe er - der Sachverständige - umso weniger Anlass zu zweifeln, als diese auch am besten mit den allgemein bekannten landeskundlichen Gegebenheiten übereinstimmten.
Im Folgenden gab er wörtlich zu Protokoll (BW = Beschwerdeführer):
"Wie ausgeführt, leben gegenwärtig Schwiegervater und Gattin des BW in Kabul. Sollte BW dorthin zurückkehren, sehe ich, jedenfalls zunächst, unabhängig von der Frage des Zeitpunkts des Todes des Vaters des BW keine aktuelle Gefährdungsverbindung zwischen BW und dem genannten Kommandanten.
Dies zunächst schon deshalb nicht, da es zunehmend mit größerem Risiko verbunden ist, gerade in Kabul, wo die Präsenz nicht nur der Zentralregierung, sondern insbesondere auch der internationalen Öffentlichkeit, der international geführten afghanischen Polizei und des internationalen Militärs am stärksten ist, Anschläge durchzuführen.
Sodann ist zwar die Größe und die Qualität des in Rede stehenden Grundstücks für afghanische Verhältnisse keineswegs unbedeutend (entspricht einem größeren landwirtschaftlichen Hof), ist aber auch keinesfalls als singulärer Großgrundbesitz zu betrachten.
Beide Aspekte zusammen genommen lassen es mir daher nicht als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass der Umstand einer Rückkehr des BW nach Kabul dem gegenwärtigen Inhaber des Grundstücks überhaupt zur Kenntnis gelangen würde.
Demgemäß erachte ich jedenfalls so lange, als BW sich nicht aktiv um die Rückgabe des Grundstückes bemüht, eine Gefahr für den Berufungswerber im Falle seiner Rückkehr nach Kabul für kaum gegeben (entfernte Möglichkeiten, bzw. das Eintreten unwahrscheinlicher Zufälle, sind natürlich nicht auszuschließen)."
Im Anschluss an eine zu diesem Gutachten abgegebene Stellungnahme der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers ergänzte der Sachverständige seine Ausführungen dahingehend, dass auch die in Kabul verbliebene Ehefrau des Beschwerdeführers berechtigt sei, den Anspruch auf Rückstellung des Grundstückes zu betreiben. Aus dem Umstand, dass sie ungeachtet dessen in Kabul lebe, sei abzuleiten, dass sie sich subjektiv nicht durch den betroffenen Kommandanten gefährdet fühle. Die Gefährdung des Beschwerdeführers liege "jedenfalls nicht wesentlich höher" als jene seiner Ehefrau. Auch daraus ergebe sich in objektiver Hinsicht eine Stütze für die vom Gutachter getroffene Beurteilung.
Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers gestand abschließend zu, dass auch ihrer Ansicht nach der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Kabul so lange nicht gefährdet sei, als er dort die Rückgabe des Grundstückes nicht betreibe. Die Preisgabe seines Rechtsanspruches sei ihm jedoch "im Einklang mit dem geltenden afghanischen Recht" nicht zuzumuten.
Am Ende der Verhandlung verkündete die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, mit dem die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG abgewiesen wurde. In der schriftlichen Bescheidausfertigung führte die belangte Behörde aus, ihrer Entscheidung lägen zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat die diesbezüglichen Ausführungen des landeskundlichen Sachverständigen und zu den "konkreten Lebensumständen" des Beschwerdeführers dessen Vorbringen sowie die Erhebungen des Sachverständigen vor Ort zu Grunde. Im Folgenden präzisierte sie, dass die Frage der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers "auf sich beruhen" könne. Der Sachverständige habe nämlich ausgeführt, dass selbst unter Zugrundelegung des vom Beschwerdeführer angegebenen Todeszeitpunktes seines Vaters die einzig geltend gemachte Gefährdung - einer Liquidierung des Beschwerdeführers durch den gegenwärtigen, unrechtmäßigen Inhaber eines landwirtschaftlichen, in der Provinz Parwan gelegenen Gutes, zur Vermeidung von Rückstellungsansprüchen - jedenfalls so lange, als der Beschwerdeführer davon Abstand nehme, diese Rückstellung tatsächlich zu betreiben und sich damit begnüge, nach Kabul, zu seinen dort gegenwärtig lebenden nächsten Angehörigen (seiner Gattin und deren Vater) zurückzukehren, nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehe. Die belangte Behörde erachte diese Beurteilung für schlüssig und nachvollziehbar, zumal auch die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers ausdrücklich zugestanden habe, dass auch ihrer Ansicht nach der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Kabul so lange, als er dort die Rückgabe des Grundstückes nicht betreibe, nicht gefährdet sei. Nach Auffassung der belangten Behörde sei dem Beschwerdeführer zuzumuten, seinen Rückgabeanspruch nicht weiter zu verfolgen, weil Eigentumsrechte in asylrechtlicher Hinsicht nicht schutzwürdig seien.
Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde macht geltend, dass sich die belangte Behörde nicht darauf beschränken hätte dürfen, ein Sachverständigengutachten bloß wieder zu geben, sondern dieses selbständig und ordentlich würdigen hätte müssen. In den entscheidungswesentlichen Bezügen bestehe das Sachverständigengutachten in Wirklichkeit lediglich aus subjektiven Hypothesen und Einschätzungen. Dem stehe ein umfangreiches und detailliertes Vorbringen des Beschwerdeführers gegenüber, auf welches die belangte Behörde nicht eingehe. Aus dem gesamten Verfahrensinhalt ergebe sich, dass der Vater und andere Familienmitglieder des Beschwerdeführers nicht wegen finanzieller Streitigkeiten, sondern wegen der ihnen unterstellten politischen Gesinnung und ihrer "aufrührerischen" Haltung ermordet worden seien und dieses Schicksal auch dem Beschwerdeführer drohe. Nicht nur die Behörde, sondern auch der Sachverständige habe es unterlassen, diese Argumente ausreichend zu beurteilen, bzw. sei der Aspekt der "Blutrache", welcher eine zusätzliche Motivation für die Mörder der Familie des Beschwerdeführers darstellen könnte, den Beschwerdeführer bei Rückkehr nach Afghanistan ebenfalls zu ermorden, nicht ausreichend erhoben und gewürdigt worden.
Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwere einen relevanten Verfahrensmangel auf.
Die belangte Behörde legt ihrer Entscheidung das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers zu Grunde. Demnach wurden - zusammengefasst - der Vater, die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers wenige Monate vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat im Auftrag des Militärkommandanten Maulana (der auch während des Asylverfahrens noch Polizeikommandant der Provinz Parwan gewesen ist) ermordet, weil sie die Rückstellung der von ihm konfiszierten Grundstücke betrieben hätten. Auch der Beschwerdeführer hätte getötet werden sollen, sei aber durch Flucht nach Kabul entkommen. Dort habe er sich jedoch nicht sicher gefühlt, weshalb er Afghanistan verlassen habe.
Den Bezug der erlittenen Verfolgung zu den Fluchtgründen nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention erblickte der Beschwerdeführer nach seinem Vorbringen darin, dass er und seine Familie "zwischenzeitig als oppositionell eingestuft" würden, und er daher aus politischen Gründen einer Verfolgung unterliege.
Dem hält die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung letztlich nur entgegen, dass der Beschwerdeführer in Kabul über eine ihm zumutbare inländische Fluchtalternative verfüge. Dabei stützt sie sich zum Einen auf das ihrer Ansicht nach schlüssige Gutachten, zum Anderen auf eine Stellungnahme der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers in der Berufungsverhandlung, die zugestanden habe, dass der Beschwerdeführer in Kabul (bei Unterlassen von Rückstellungsansprüchen in Bezug auf sein Grundstück) keiner Gefährdung unterliege. Diese Begründung hält einer nachprüfenden Kontrolle nicht stand.
Die ausdrücklich nur als persönliche Meinung der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers deklarierte Erklärung (arg.: "... gesteht zu, dass auch ihrer Ansicht nach ...") machte eine objektiv nachvollziehbare Auseinandersetzung mit dem Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative nicht entbehrlich.
Auch das dazu erstattete Sachverständigengutachten erweist sich - entgegen der Ansicht der belangten Behörde - als nicht geeignet, die darauf beruhende Annahme einer inländischen Fluchtalternative in Kabul zu rechtfertigen.
Aus dem Umstand, dass es für einen Verfolger des Beschwerdeführers riskant wäre, in der Hauptstadt Kabul Anschläge durchzuführen bzw. aus der Tatsache, dass der beschlagnahmte Grundbesitz der Familie kein "singulärer Großgrundbesitz" sei, leitete der Sachverständige ab, dass dem Militärkommandanten die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul wahrscheinlich nicht zur Kenntnis gelangen würde. Diese Argumentation ist nicht nachvollziehbar, hat doch die Möglichkeit, von der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul Kenntnis zu erlangen, nichts damit zu tun, ob allfällige Anschläge für den Kommandanten riskant wären oder ob das beschlagnahmte Grundstück als sehr bedeutend anzusehen ist. Es fehlt daher im angefochtenen Bescheid eine schlüssige Begründung, warum die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul dem Militärkommandanten nicht zur Kenntnis gelangen sollte.
Wäre aber davon auszugehen, dass der Militärkommandant von der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan Kenntnis erlangen könnte, so ist zu klären, ob der Kommandant den Beschwerdeführer auch bei Unterlassen einer Rückforderung der beschlagnahmten Grundstücke mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit verfolgen würde. Allein die Tatsache, dass es nach Ansicht des Gutachters mit zunehmend großem Risiko verbunden wäre, gegen den Beschwerdeführer in Kabul Anschläge durchzuführen, vermag noch nicht hinreichend zu begründen, warum der Militärkommandant seinen Einfluss (vgl. dazu auch das Berufungsvorbringen, zwei Familienangehörige des Kommandanten seien Regierungsmitglieder) nicht dazu nutzen können sollte, dem Beschwerdeführer nachzustellen. Auf die vom Beschwerdeführer (sinngemäß) mehrfach angesprochene "oppositionelle Gesinnung", die ihm und seinen Familienmitgliedern unterstellt werde, gingen der Sachverständige und die belangte Behörde nicht ein. Ebenso blieb in ihren Überlegungen unbeachtet, dass der Grund einer weiteren Verfolgung des Beschwerdeführers auch darin gelegen sein könnte, einer von ihm - dem Verfolger aus dessen Sicht - allenfalls drohenden "Blutrache" wegen Ermordung der Familienangehörigen des Beschwerdeführers vorzubeugen. Derartige Überlegungen sind in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Afghanistans offenbar nicht von vornherein auszuschließen, erachtete doch der Sachverständige die Angaben des Schwiegervaters des Beschwerdeführers für nachvollziehbar, wonach die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers umgebracht worden seien, "um Gefahren der Blutrache zu verringern". Ausgehend davon ist auch der gutachterliche Vergleich der Gefährdungslage des Beschwerdeführers mit jener seiner in Kabul verbliebenen Ehefrau zu hinterfragen, zumal nicht geklärt wurde, ob auch ihr das zuletzt beschriebene Risiko drohen könnte.
Unter Zugrundelegung des Vorbringens des Beschwerdeführers bedürfte eine vollständige und nachprüfbare Begründung daher auch der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Fragen, die der angefochtene Bescheid vermissen lässt.
Schließlich fehlen im angefochtenen Bescheid auch Feststellungen zur Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere aber in Kabul, auf die sich die Annahme einer dort bestehenden inländischen Fluchtalternative stützen könnte. Die in der Bescheidbegründung erwähnten "diesbezüglichen Ausführungen des landeskundlichen Sachverständigen" sind in der gutachterlichen Stellungnahme nicht enthalten.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 7. Oktober 2008
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