VwGH 2002/01/0560

VwGH2002/01/056015.5.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Köller und Dr. Thoma als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Nichtowitz, über die Beschwerde des O in S, geboren 1983, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 17. Oktober 2002, Zl. 226.248/4-V/13/02, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste am 6. November 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 7. November 2001 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab er an, nach dem Tod seines Vaters am 5. August 2001 hätten Mitglieder der Ogboni mit einem "großen Topf" bei der Familie des Beschwerdeführers in Benin City vorgesprochen, den Kopf seines Vaters mitgenommen und zum Beschwerdeführer gesagt, er müsse sich ihnen "anschließen" und binnen 30 Tagen "drei Menschenköpfe" bringen. Dabei hätten sie ein Foto des Beschwerdeführers vorgezeigt und erklärt, sie würden ihn "opfern", wenn er sich ihnen nicht anschließe. Da der Beschwerdeführer Christ sei, habe er die verlangten Köpfe nicht bringen können. Bei der Polizei habe er den Vorfall nicht angezeigt, denn "die meisten Polizisten sind Mitglieder der Ogboni". Die Ogboni gebe es in ganz Nigeria. Im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers würden sie ihn "opfern".

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 29. Jänner 2002 gemäß § 7 AsylG ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria gemäß § 8 AsylG für zulässig. Es schenkte seiner Darstellung keinen Glauben.

In seiner Berufung gegen diese Entscheidung machte der Beschwerdeführer u.a. - unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 2. Oktober 2001, B 2136/00 - geltend, es seien keine Ermittlungen zur "Ogboni-Gemeinschaft" angestellt worden.

Die belangte Behörde führte am 14. Oktober 2002 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, in der der Beschwerdeführer erneut einvernommen wurde. Er gab u.a. an, es gebe in ganz Nigeria Ogboni-Gemeinschaften und sie würden ihn finden, weil sie das Foto hätten. Er habe keinen Ort, wo er sich verstecken könne. Die "meisten Polizisten" seien Mitglieder dieser Sekten. Wenn sein Foto "landesweit auf die Polizeireviere aufgeteilt" werde, sei es möglich, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln.

In Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab. In Spruchpunkt II. stellte sie gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria fest. Sie erachtete das Vorbringen des Beschwerdeführers - mit längeren Ausführungen darüber, dass es sich um eine "leere Rahmengeschichte" gehandelt habe, die unter anderem "blass, wenig detailreich sowie gänzlich oberflächlich" und "auffällig glatt" gewesen sei - als unglaubwürdig, traf allgemein gehaltene Feststellungen zur Lage in Nigeria und führte zum Asylantrag in rechtlicher Hinsicht zunächst aus, dass er mangels Glaubhaftigkeit der behaupteten Fluchtgründe abzuweisen sei. "Eventualiter" sei hinzuzufügen, es würde dem Beschwerdeführer - ausgehend von seinem Vorbringen zu den Fluchtgründen - "freistehen, sich durch Wohnsitzverlegung innerhalb Nigerias sich dem Zugriff der Angehörigen des an seinem Heimatort agierenden Sektenmitglieder endgültig zu entziehen". Eine unter dem Gesichtspunkt des § 8 AsylG relevante Gefährdung sei ebenfalls nicht hervorgetreten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerde kritisiert in erster Linie die beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde zur "leeren Rahmengeschichte". Diesbezüglich kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die hg. Erkenntnisse vom 18. Februar 2003, Zl. 2002/01/0321 und Zl. 2002/01/0594, verwiesen werden. Auch im vorliegenden Fall hat es die belangte Behörde verabsäumt, auf die Aussageinhalte konkret einzugehen und etwa darzulegen, welche erwartbaren Details der Beschwerdeführer schuldig geblieben sei. Der allgemein gehaltene Textbaustein über "leere Rahmengeschichten" - gegen dessen nahezu wortgleichen, fast eine Seite des Protokolls einnehmenden Vorhalt in der Verhandlung sich die Beschwerde unter anderem wendet - und die teilweise wiederholenden Abwandlungen derselben Gedankengänge auf den nachfolgenden Seiten der Begründung des angefochtenen Bescheides reichen auf Grund des Fehlens einer konkreten Anbindung an das Vorbringen des Beschwerdeführers und mangels fallbezogener Auseinandersetzung mit diesem nicht aus, um den der Entscheidung zugrunde gelegten Eindruck des Verhandlungsleiters, der Beschwerdeführer habe keine "eigene Erlebniswahrnehmung" beschrieben, nachvollziehbar zu begründen.

Bei dieser Sachlage erweist es sich hinsichtlich der Primärbegründung der belangten Behörde als entscheidend, dass diese nicht den Versuch unternommen hat, den Wahrheitsgehalt der Angaben des Beschwerdeführers an den verfügbaren Informationen über die Vorgänge in dessen Heimatland zu messen und etwa zu prüfen, ob Vorfälle der von ihm - wie von zahlreichen anderen Asylwerbern aus Nigeria - behaupteten, ein Herantreten von "Ogboni" an Hinterbliebene betreffenden Art in Nigeria selbst bekannt sind oder nicht und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind (vgl. zuletzt - unter dem Gesichtspunkt des § 6 Z. 3 AsylG - das hg. Erkenntnis vom 24. April 2003, Zl. 2000/20/0326). In diesem Zusammenhang könnte die verhältnismäßig große Dichte im Internet zugänglicher Zeitungsberichte über Gewaltverbrechen mit kultischem Hintergrund in Nigeria einerseits und über die teils kritisch betrachtete Rolle der "Ogboni" im gesellschaftlichen Leben andererseits von Bedeutung sein (vgl. auch den in einem der vorgelegten Berichte enthaltenen Abschnitt über die nigerianische Presse). Mit der Frage, ob sich Vorgänge der behaupteten Art in diesen oder anderen Berichten widerspiegeln müssten und ob dies auch der Fall ist, hat sich die belangte Behörde aber nicht auseinander gesetzt.

Was die Eventualbegründung der belangten Behörde anlangt, so wird in dieser - anders als in Bezug auf das Vorbringen zu den fluchtauslösenden Ereignissen - auf "behördliches Dokumentationsmaterial" Bezug genommen, aus dem sich nicht ergebe, "dass die in Nigeria tatsächlich existierende Ogboni-Sekte tatsächlich dergestalt gesellschaftsbeherrschend wäre, dass grundsätzlich jegliche Person, welche sich von Angehörigen dieser Sekte verfolgt fühlt, landesweit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit handfester Verfolgung zu rechnen hat". Diese Ausführungen vermögen den Bescheid zunächst schon deshalb nicht zu tragen, weil die als maßgeblich erachteten Teile des "Dokumentationsmaterials" im angefochtenen Bescheid nicht näher bezeichnet sind und der von der belangten Behörde gezogene Schluss nicht konkret aus ihnen abgeleitet wird.

Von den in der Bescheidbegründung aufgezählten und mit den Verwaltungsakten vorgelegten Berichten scheinen auch nur zwei auf das Thema einer möglichen Bedrohung durch Kulte einzugehen. Es sind dies einerseits ein - zumindest seit 1999 praktisch unveränderter - Teil im "Nigeria Country Assessment" des britischen Home Office und andererseits ein Schreiben der österreichischen Botschaft in Lagos vom 3. Jänner 2000. Dem "Country Assessment" ist u.a. zu entnehmen, dass die Ogboni - worunter an dieser Stelle nicht die "Reformed Ogboni Fraternity" zu verstehen sein soll - noch immer als mächtige Organisation in ganz Nigeria angesehen würden ("still regarded as being a powerful organisation throughout Nigeria"). Dass sich aus diesem Bericht etwas für den Standpunkt der belangten Behörde gewinnen ließe, erscheint zumindest auf den ersten Blick eher ungewiss.

Das Schreiben der österreichischen Botschaft in Lagos spricht von hunderten von "Sekten" in Nigeria ("größere wie Ogboni ... und kleinere"). "Vereinzelt" würden "im Dunstkreis dieser Sekten Verbrechen begangen, wie den Medien hierzulande zu entnehmen ist. Es handelt sich jedoch nicht um Massenphänomene, d.h. man kann davon ausgehen, dass es sich bei der Anzahl der Sektenmitglieder um eine verschwindende Minderheit unter 120 Millionen handelt". Abschließend ist in dem Schreiben davon die Rede, dass die Polizei nicht in der Lage sei, "die Welle der gewalttätigen und z.T. organisierten 'Kriminalität' vollkommen einzudämmen, d.h. bewaffnete Raubüberfälle, Prostitution, Diebstahl, Korruption etc., daneben in einem weit geringeren Ausmaß auch gelegentliche Sektenverbrechen." Dass sich dieses Botschaftsschreiben - ausgehend davon, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers über seine der Ausreise aus Nigeria vorangegangenen Erlebnisse wahr sei - dazu eigne, seine Behauptungen über den Einfluss der Ogboni auf die Polizei zu widerlegen, ist schon mangels Erörterung dieser Frage in dem Schreiben gleichfalls nicht erkennbar.

Hinzu kommt noch, dass in Bescheiden der belangten Behörde wiederholt davon die Rede war, etwa 15 % der Yoruba-Bevölkerung Nigerias - und somit auch in Bezug auf die Gesamtbevölkerung nicht nur eine "verschwindende Minderheit" - hingen der Ogboni-Gesellschaft an (vgl. die kritische Bezugnahme darauf in dem hg. Erkenntnis vom 26. Februar 2002, Zl. 99/20/0509), und Zitate der belangten Behörde aus einem früheren Schreiben der österreichischen Botschaft in Lagos der Grund dafür waren, dass der Verwaltungsgerichtshof der gleichzeitigen Annahme einer lokalen Begrenztheit des Wirkungskreises von "Ogboni" in einer Mehrzahl von Erkenntnissen nicht zu folgen vermochte (vgl. dazu das schon zitierte Erkenntnis und aus der vorangegangenen Judikatur im Anschluss an das Erkenntnis vom 21. September 2000, Zl. 98/20/0557, etwa die Erkenntnisse vom 25. Jänner 2001, Zl. 99/20/0133, vom 22. November 2001, Zl. 99/20/0313, und vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0299). Ausgehend von einer Wahrunterstellung in Bezug auf die behauptete Bedrohungssituation hätte es für die Annahme einer inländischen Schutzalternative schon aus diesen Gründen einer ausführlicheren Prüfung des Sachverhaltes bedurft (vgl. zur Ermittlungspflicht in Bezug auf die Annahme einer "innerstaatlichen Fluchtalternative" in einem ähnlichen Fall auch das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 2. Oktober 2001, B 2136/00; aus der hg. Judikatur zuletzt das Erkenntnis vom 8. April 2003, Zl. 2002/01/0318; anders, aber lediglich in einem nicht tragenden Begründungsteil, in Bezug auf "Ogboni" und das Botschaftsschreiben vom 3. Jänner 2000 das hg. Erkenntnis vom 21. September 2000, Zl. 2000/20/0286). Davon abgesehen scheint ein Schreiben, das wie der erwähnte Botschaftsbericht vom 3. Jänner 2000 vom "Aberglauben der - u.a. in diesen Dingen furchtsamen - Schwarzafrikaner" spricht, zu sachbezogenen Aussagen keine Quellen nennt und sich vorrangig den vermuteten Gründen für das "Einsickern von Nigerianern nach Westeuropa" widmet, wobei im Falle einer Finanzierung der Reise durch die Familie schon dadurch "deutlich das Verfolgungsmotiv widerlegt" werde und ein "Nachrücken" der Familie oder sogar des ganzen Stammes drohe, keine geeignete Grundlage für nicht auch anderweitig untermauerte Feststellungen in einem Asylverfahren zu sein.

Der belangten Behörde kann angesichts der zuvor auszugsweise wiedergegebenen Vorbringensteile aber auch nicht gefolgt werden, wenn sie in ihrer Eventualbegründung u.a. meint, der Beschwerdeführer habe eine "Involvierung staatlicher Polizeiinstanzen" bloß dahingehend "angedeutet", dass "einzelne" Angehörige von Polizei und Militär Mitglieder der Ogboni seien.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 15. Mai 2003

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