OGH 9Ob82/16y

OGH9Ob82/16y19.12.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin Hon.‑Prof. Dr. Dehn, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätinnen Mag. Korn und Dr. Weixelbraun‑Mohr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen M*, geboren am *2002, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs des Vaters Mag. F*, vertreten durch Dr. Werner Schostal, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 3. August 2016, GZ 42 R 137/16g‑56, mit dem den Rekursen der Mutter DI E*, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, und des Vaters gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 9. Februar 2016, GZ 2 Ps 68/13g‑50, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E116709

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden mit der Maßgabe bestätigt, dass Punkt 2. des erstinstanzlichen Beschlusses zu lauten hat:

„Die faktische Betreuung der Minderjährigen erfolgt durch beide Elternteile im zeitlich gleichen Ausmaß (Doppelresidenz). Die hauptsächliche Betreuung im Sinn der primären Wahrnehmung jener Aufgaben, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort der Minderjährigen ist, also beispielsweise Bestimmung eines Hauptwohnsitzes, Familienbeihilfe oder Wohnbeihilfe, nicht jedoch die alleinige Bestimmung des Wohnorts der Minderjährigen im In‑ und Ausland iSd § 162 Abs 2 ABGB, kommt der Mutter zu.“

 

Begründung:

Die Minderjährige ist die außereheliche Tochter von DI E* und Mag. F*. Die Eltern trennten sich im Jahr 2004. Allein obsorgeberechtigt war die Mutter. Im Jahr 2013 beantragte der Vater die gemeinsame Obsorge beider Elternteile. Zu diesem Zeitpunkt betreuten die Eltern schon seit mehreren Jahren die Minderjährige je etwa zur Hälfte im jeweils eigenen Haushalt.

Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus, im Wesentlichen wegen zwischen den Eltern bestehenden Konflikten.

Mit Beschluss vom 24. 6. 2014 traf das Erstgericht eine vorläufige Obsorgeregelung gemäß § 107 Abs 2 AußStrG. Neben der Mutter wurde auch der Vater mit der Obsorge betraut. Eine Zuweisung der hauptsächlichen Betreuung eines Elternteils wurde vom Erstgericht im Hinblick auf die langfristig praktizierte Betreuungsregelung im Verhältnis 50 : 50 nicht getroffen. Die Entscheidung wurde vom Rekursgericht bestätigt.

Im fortgesetzten Verfahren wurde für die Minderjährige ein Kinderbeistand bestellt. Dieser äußerte sich dahingehend, dass das Kind keine Änderung der faktischen Verhältnisse wünsche.

Mit Beschluss vom 9. 2. 2016 ordnete das Erstgericht an, dass die Obsorge endgültig dahingehend geregelt werde, dass beide Elternteile mit der Obsorge betraut sind (Punkt 1.). Die faktische Betreuung der Minderjährigen erfolge durch beide Elternteile in zeitlich gleichem Ausmaß (Doppelresidenz). Soweit gesetzliche Bestimmungen an eine „hauptsächliche Betreuung“ durch einen Elternteil anknüpften, komme diese der Mutter zu (Punkt 2.). Der Antrag der Mutter, ihr die Obsorge für die Minderjährige allein zu übertragen, und der Antrag des Vaters, ihm die hauptsächliche Betreuung zuzusprechen, wurden abgewiesen (Punkt 3.). Weiters wurde festgehalten, dass mit Rechtskraft des Beschlusses die Tätigkeit des Kinderbeistands endet (Punkt 4.).

Die beiderseitige Obsorge der Eltern sei gesetzlich als Regelfall konzipiert. Die Kommunikation der Eltern sei belastet, funktioniere aber. Die Minderjährige sei bei beiden Eltern gut versorgt und fühle sich dort gleich wohl. Die hauptsächliche Betreuung richte sich üblicherweise danach, von wem das Kind praktisch überwiegend betreut werde. Dies seien aber beim Doppelresidenzmodell beide Eltern zu gleichen Teilen. Berücksichtige man, dass bis zur Gesetzesänderung die Mutter allein obsorgeberechtigt gewesen sei und damit für die Bestimmung des Aufenthalts und die Betreuung auch allein verantwortlich und sich an der faktischen Betreuungssituation nichts geändert habe, komme es nicht in Betracht, den Vater nunmehr (fiktiv) mit der hauptsächlichen Betreuung zu betrauen.

Das Rekursgericht gab dem gegen Punkt 1. und 3. des Beschlusses gerichteten Rekurs der Mutter und dem gegen den Ausspruch der „hauptsächlichen Betreuung“ der Mutter gerichteten Rekurs des Vaters nicht Folge. Es sei davon auszugehen, dass die Voraussetzung für die endgültige Regelung der Obsorge beider Eltern vorlägen. Bedenken aus Sicht des Kindeswohls bestünden nicht. Das Doppelresidenzmodell werde seit über zehn Jahren gelebt und entspreche auch den Wünschen der Minderjährigen.

Zum Rekurs des Vaters wurde darauf verwiesen, dass entsprechend dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 9. 10. 2015, G 152/2015, auch bei einer elterlichen Vereinbarung oder einer gerichtlichen Festlegung einer zeitlich gleichteiligen Betreuung anzuordnen sei, bei wem „die hauptsächliche Betreuung“ erfolge. Das Erstgericht habe zutreffend auf die im Zweifel beizubehaltende Kontinuität der bisherigen „hauptsächlichen Betreuung“ hingewiesen. Der Vater könne nicht überzeugend aufzeigen, warum diese Regelung dem Wohl des Kindes widerspreche bzw das Kindeswohl bei ihm besser gewahrt wäre.

Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil zur Frage der „hauptsächlichen Betreuung“ im Fall einer Doppelresidenz höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Gegen die Bestätigung des Beschlusses des Erstgerichts insoweit, als ausgesprochen wurde, dass die „hauptsächliche Betreuung“ der Mutter zukommt und der Antrag des Vaters, ihm die „hauptsächliche Betreuung“ zuzusprechen, abgewiesen wurde, richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, auszusprechen, dass ihm die „hauptsächliche Betreuung“ zukommt, in eventu das die Zuweisung der „hauptsächlichen Betreuung“ zu entfallen habe.

Die Mutter beteiligte sich nicht am Revisionsrekursverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

1. Voranzustellen ist, dass im Revisionsrekursverfahren nicht strittig ist, ob für das Kind Doppelresidenz angeordnet werden soll oder kann. Die gleichteilige Betreuung durch beide Elternteile steht fest und liegt auch im Wohl des Kindes.

2. In der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 9. 10. 2015, G 152/2015, sprach dieser aus, dass die in § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB ebenso wie in den mitangefochtenen Bestimmungen (§ 177 Abs 4 Satz 1, § 179 Abs 2 ABGB) vorgesehene Festlegung einer „hauptsächlichen Betreuung“ in Einklang mit Art 8 EMRK als bloß „nominelle“ Verpflichtung und damit so auszulegen sei, dass sie der elterlichen Vereinbarung oder einer entsprechenden gerichtlichen Festlegung einer zeitlich gleichteiligen Betreuung in jenen Fällen, in denen dies aus der Sicht des Gerichts dem Kindeswohl am Besten entspricht, nicht entgegensteht. Die Bestimmung lasse eine Auslegung zu, derzufolge die Festlegung für diese Fälle insbesondere als Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen diene, wie etwa für die Bestimmung eines Hauptwohnsitzes im Sinn von Art 6 Abs 3 B‑VG.

3. Dem folgend hat der Oberste Gerichtshof in den Entscheidungen 3 Ob 121/16i sowie 6 Ob 149/16d auch in den Fällen der Doppelresidenz nach § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB die Notwendigkeit der Festlegung eines Ortes der „hauptsächlichen Betreuung“ unter Berücksichtigung der Auslegung des Verfassungsgerichtshofs bestätigt. Die Frage, welchem Elternteil die hauptsächliche Betreuung zukommen solle, hänge von den Umständen des Einzelfalls ab.

In der Entscheidung 3 Ob 121/16i hatte der Oberste Gerichtshof keine Bedenken gegen die Entscheidung der Vorinstanzen, dass die hauptsächliche Betreuung der Mutter zukommt, die bisher die alleinige Obsorge innegehabt und die Kinderbeihilfe bezogen hatte, während der Vater in Folge des deutlich höheren Einkommens laufend Unterhalt leistete. Weiters wurde darauf verwiesen, dass es dem Prinzip der anzustrebenden Kontinuität und Stabilität widerspreche, wenn kurzfristige Wechsel des Anknüpfungspunkts etwa für den Bezug von Transferleistungen aber auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu bestimmen, festgelegt würden.

In 6 Ob 149/16d wurde den Vorinstanzen aufgetragen zu erörtern, wo das Kind hauptwohnsitzgemeldet ist, von welchem Elternteil die Geltendmachung von Familien‑ und Wohnbeihilfe bislang wahrgenommen worden ist und ob dieser Elternteil dazu auch geeignet erscheint. Verlasse ein Elternteil den bisherigen gemeinsamen Haushalt mit dem Kind und dem anderen Elternteil, bedürfe es einer besonderen Begründung, weshalb dieser bei nachfolgender gleichteiliger Betreuung nunmehr der Domizilelternteil sein solle, dem die hauptsächliche Betreuung zukomme.

4. § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB sieht ausdrücklich vor, dass dann, wenn beide Eltern mit der Obsorge betraut sind, festzulegen ist, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird. Der Antrag des Vaters im Revisionsrekurs, den Ausspruch der Vorinstanzen über die hauptsächliche Betreuung ersatzlos zu beheben, steht daher nicht mit dem Gesetz in Einklang.

Allerdings kann sich in Fällen wie dem vorliegenden mit gleichteiliger Betreuung durch beide Elternteile die Bestimmung der „hauptsächlichen Betreuung“ nicht an der faktisch überwiegenden Betreuung orientieren. Im Sinn der Auslegung des Verfassungsgerichtshofs handelt es sich in solchen Fällen nur um eine „nominelle“ Anknüpfung für beispielsweise verwaltungsbehördliche Rechtsfolgen. Dabei ist die Ansicht der Vorinstanzen zu teilen, dass dann, wenn bisher die alleinige Obsorge einem Elternteil zukam, daher sämtliche der mit der „hauptsächlichen Betreuung“ verbundenen Aufgaben auch in diesem nominellen Sinn diesem einen Elternteil zukamen und von diesem auch wahrgenommen wurden, die „hauptsächliche Betreuung“ auch bei diesem zu belassen ist, sofern keine Gründe bestehen anzunehmen, dass diese Verpflichtungen vom anderen Elternteil wesentlich besser wahrgenommen werden könnten. Wenn der Vater dabei argumentiert, dass er auch bislang in alle Entscheidungen eingebunden war, so stand ihm dessen ungeachtet die rechtliche Entscheidungsbefugnis bislang nicht zu. Weshalb aber er besser geeignet sein soll, die mit der nominellen Anknüpfung verbundenen Aufgaben wahrzunehmen als die Mutter, wird auch im Revisionsrekurs nicht dargelegt.

Die vom Vater angesprochenen, mit der Festlegung eines Orts der hauptsächlichen Betreuung verbundenen Probleme, Familienbeihilfe geltend zu machen, sind nicht im Obsorgeverfahren zu lösen.

Die Entscheidung der Vorinstanzen, dass die hauptsächliche Betreuung bei der Mutter liegt, war daher zu bestätigen.

5. Bereits in der Entscheidung 6 Ob 149/16d wurde darauf verwiesen, dass spruchgemäß zum Ausdruck zu bringen sei, dass es sich bei diesem Haushalt (lediglich) um einen nominellen Anknüpfungshaushalt im Sinn der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs handelt, etwa durch konkrete oder beispielhafte Benennung jener Aufgabenbereiche, die an diesen Haushalt anknüpfen. Allein der Verweis auf die „gesetzlichen Bestimmungen“ erscheine jedoch als zu weit gefasst, da dadurch möglicherweise auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht nach § 162 Abs 2 ABGB erfasst sei.

Dem schließt sich der erkennende Senat an. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher nur mit Maßgabe zu bestätigen und die entsprechenden sowohl demonstrativen Hinweise auf die mit dieser nominellen Anknüpfung verbundenen Rechte als auch der ausdrückliche Hinweis darauf, dass damit das Aufenthaltsbestimmungsrecht nach § 162 Abs 2 ABGB nicht verbunden ist, in den Spruch aufzunehmen.

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