OGH 8ObA7/11d

OGH8ObA7/11d22.11.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden, den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Kuras und die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler und Mag. Johann Schneller als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Betriebsrat *****, vertreten durch Dr. Josef Milchrahm, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei T***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 3. November 2010, GZ 13 Ra 31/10x‑19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 10. Juni 2010, GZ 47 Cga 38/10m‑15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.329,84 EUR (darin 221,64 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 2. 4. 2009 schlossen die Gewerkschaft vida, der Betriebsrat Bord der A*****, der Fachverband der Luftfahrtunternehmen in der Wirtschaftskammer Österreich, der Vorstand der A***** und die Geschäftsführung der Beklagten ein „Maßnahmenpaket“ zum Zweck der Absicherung der Zukunftsfähigkeit der A***** Group in Form eines Kollektivvertrags. Dieses Vertragswerk sah ‑ soweit für das vorliegende Verfahren relevant ‑ eine Reduktion des Urlaubsgeldes und der Weihnachtsremuneration 2009 für bestimmte Mitarbeitergruppen (Piloten) der betroffenen Unternehmen um je 35 % vor. Die Gewerkschaft vida unterfertigte dieses „Maßnahmenpaket“ vom 2. 4. 2009 mit dem Beisatz „vorbehaltlich der Zustimmung der Angestellten“.

Die Dienstnehmer der Beklagten wurden bereits im April 2009 von der beabsichtigten Reduktion der Bezüge informiert. Die Klägerin führte eine interne Abstimmung unter den betroffenen Piloten der Beklagten durch, bei der 60 % der Teilnehmer die Reduktion der Sonderzahlungen ablehnten. Die Klägerin setzte die Gewerkschaft vida am 22. 4. 2009 von diesem Ergebnis in Kenntnis und forderte sie unter Hinweis auf den bei der Unterschrift erklärten Vorbehalt auf, der Maßnahme nicht zuzustimmen.

Die Gewerkschaft vida führte auch selbst eine Umfrage unter den betroffenen Piloten der Beklagten durch, nach deren Ergebnis sie ‑ entgegen den Einwänden der Klägerin ‑ von einer Zustimmung einer knappen Mehrheit der daran teilnehmenden Personen ausging.

Das „Maßnahmenpaket“ vom 2. 4. 2009 wurde in der Folge mit Vereinbarung vom 9. 6. 2009 von den Vertragsteilen in jenen Punkten, die die Reduktion der Sonderzahlungen betrafen, abgeändert.

Unter Beibehaltung der ursprünglichen Kürzungsregelung wurde vereinbart, dass optional ‑ abhängig vom Ergebnis einer Abstimmung unter den „OS KV‑Altpiloten“ ‑ anstelle der prozentuellen Reduktion der Sonderzahlungen eine ebensolche des Juni‑ und Novembergehalts erfolgen könne.

Am 20. 8. 2009 übermittelte die Gewerkschaft vida das „Maßnahmenpaket“ vom 2. 4. 2009 und die Änderungsvereinbarung vom 9. 6. 2009 an das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz mit dem Ersuchen um Registrierung als Kollektivverträge und Veröffentlichung. Auf eine fehlende Zustimmung der betroffenen Angestellten wies sie dabei nicht hin. Das „Maßnahmenpaket“ vom 2. 4. 2009 und dessen Änderung wurden im August 2009 unter Angabe der Register‑ und Katasterzahl im Amtsblatt der Wiener Zeitung veröffentlicht. Die Beklagte nahm bereits bei der Juniabrechnung 2009 die im „Maßnahmenpaket“ vorgesehenen Bezugskürzungen vor.

In der Klage begehrt der Betriebsrat Bord nach § 54 Abs 1 ASGG die Feststellung, die bei der beklagten Dienstgeberin beschäftigten Piloten hätten das Recht, jene Beträge ausbezahlt zu erhalten, die ihnen von der Beklagten aus dem Titel des Kollektivvertrags „Gehaltsverzicht KV‑Bord 06“ von den Bruttobezügen einbehalten wurden, in eventu die Feststellung, dass der Beklagten kein Recht zustehe, aufgrund dieses Kollektivvertrags Bezugsteile einzubehalten.

Es bestehe keine wirksame Willensübereinstimmung der Kollektivvertragsparteien und daher kein wirksamer Kollektivvertrag als Grundlage für die Bezugskürzungen. Das „Maßnahmenpaket“ vom 2. 4. 2009 sei zudem nicht korrekt, nämlich nicht bei dem für die Dienstnehmer der Beklagten geltenden Kollektivvertrag, hinterlegt worden. Die rückwirkende Anwendung der Kürzungsbestimmungen sei jedenfalls unzulässig.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Der normative Teil eines Kollektivvertrags entfalte mit seiner Kundmachung unmittelbare Wirkung und sei als Gesetz im materiellen Sinn für Dritte verbindlich. Durch die Hinterlegung des Kollektivvertrags habe die Gewerkschaft vida erklärt, dass sie ihn für wirksam zustandegekommen erachtete, sodass es nicht mehr darauf ankomme, ob die von der klagenden Partei vorgebrachte Bedingung tatsächlich erfüllt gewesen sei oder nicht. Angesichts der zeitlichen Festlegung der von der Kürzung betroffenen Entgeltbestandteile enthalte der Kollektivvertrag auch eine ausreichend deutliche und zulässige Rückwirkungsanordnung. Da die Betroffenen bereits vor Fälligkeit der Sonderzahlungen über die beabsichtigte Kürzung informiert worden wären, seien sie nicht in einem berechtigten Vertrauen auf die gegebene Rechtslage enttäuscht worden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers keine Folge und erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ob ein parteifähiges Organ der Arbeitnehmerschaft sein Feststellungsbegehren nach § 54 Abs 1 ASGG auf die behauptete schuldrechtliche Unwirksamkeit eines kundgemachten Kollektivvertrags stützen kann, nicht vorliege.

Inhaltlich billigte das Berufungsgericht die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts in allen relevanten Punkten und führte darüber hinaus aus, es sei mit dem Normcharakter eines gehörig kundgemachten Kollektivvertrags unvereinbar, wenn Normunterworfene in einem gerichtlichen Verfahren eine Unwirksamkeit des Kollektivvertragsabschlusses, beispielsweise wegen Willensmängeln, geltend machen und sich dadurch der Normwirkung entziehen könnten, obwohl die Kollektivvertragsparteien selbst an der von ihnen gesetzten Norm festhalten und keine Anfechtung unternehmen. Nur den Vertragsparteien selbst, aber nicht einem Normunterworfenen sei zuzugestehen, die schuldrechtliche Wirksamkeit der Normsetzung in Frage zu stellen, da dieser ansonsten selbst im Ergebnis zum Normgeber würde.

Ungeachtet dessen fehle es dem Kläger auch schon nach seinem eigenen Rechtsstandpunkt am notwendigen Feststellungsinteresse. Selbst eine erfolgreiche Anfechtung könne einen kundgemachten Kollektivvertrag wegen seiner besonderen Rechtsnatur lediglich mit Wirkung ex nunc beseitigen, die klagsgegenständlichen Gehaltsabzüge hätten aber ausschließlich in der Vergangenheit stattgefunden.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zwar zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Auch die Klägerin bezweifelt nicht, dass jene Regelungen des „Maßnahmenpakets“ über die Kürzung von Bezügen der Piloten, auf deren behauptete Unwirksamkeit sie ihr Klagebegehren gründet, ihrem Inhalt nach dem normativen Teil des Kollektivvertrags zuzurechnen sind, der für Arbeitgeber und Arbeitnehmer grundsätzlich unmittelbar rechtsverbindlich wirkt.

Normwirkung entfaltet ein Kollektivvertrag gemäß § 14 ArbVG mit seiner ordnungsgemäßen Hinterlegung und Kundmachung (RIS‑Justiz RS0050926 [T3], vgl auch RS0075311; Reissner in ZellKomm, § 14 ArbVG Rz 5, 15; Strasser in Strasser/Jabornegg ArbVG, § 11 Rz 4). Die Vorinstanzen haben zutreffend dargelegt, dass nach dem Eintritt der normativen Wirkung allfällige Fragen des schuldrechtlich wirksamen Zustandekommens des Vertragsabschlusses ausschließlich von den mit Rechtssetzungsbefugnis ausgestatteten Parteien des Kollektivvertrags selbst aufgegriffen werden könnten. Dem einzelnen Normunterworfenen steht ein unmittelbarer Eingriff in die Willensbildung des Normgebers nicht zu.

2. Die Frage des wirksamen Zustandekommens des „Maßnahmenpakets“ vom 2. 4. 2009 ist für die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit letztlich aber auch irrelevant, weil die hier wesentlichen Bestimmungen über die Bezugskürzungen bei Piloten ihre normative Grundlage nicht darin, sondern in der Änderungsvereinbarung vom 9. 6. 2009 haben.

Ein (neuerlicher) Zustimmungsvorbehalt der Gewerkschaft vida zu dieser Änderungsvereinbarung wurde von der Klägerin nicht einmal behauptet (Anm: und ist in der vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz dem Erstgericht zur Verfügung gestellten Kopie der hinterlegten Urkunde tatsächlich nicht enthalten).

Damit erweist sich die tragende Argumentation der Klägerin aber als materiell substanzlos. Ob in der vorbehaltslosen Hinterlegung der Kollektivverträge durch die Gewerkschaft außerdem eine schlüssige Aufgabe bisheriger Bedingungen zu erblicken wäre, kann bei dieser Sachlage dahingestellt bleiben.

3. Auf die Revisionsausführungen über das Vorliegen einer Arbeitsrechtssache und die prozessualen Voraussetzungen der Feststellungsklage nach § 54 Abs 1 ASGG ist nicht weiter einzugehen. Zwar hat das Berufungsgericht diesbezüglich Bedenken referiert, diese aber letztlich nicht zur Begründung seiner Sachentscheidung herangezogen.

4. Die in der Revision aufgeworfene Frage einer Zulässigkeit rückwirkend verschlechternder Kollektivvertragsbestimmungen wurde von den Vorinstanzen zutreffend im Sinne der ständigen Rechtsprechung gelöst, wonach es in den Gestaltungsspielraum der Kollektivvertragsparteien als „Gesetzgeber“ fällt, eine einmal geschaffene Rechtsposition auch zu Lasten des Betroffenen (unter der Einschränkung der sachlichen Begründbarkeit und Verhältnismäßigkeit) wieder abzuändern. Da selbst das Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand einer bestimmten Gesetzeslage als solches keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz genießt, gilt dies auch für die Regelungen eines Kollektivvertrags (vgl RIS‑Justiz RS0008687).

Eine Unverhältnismäßigkeit der hier zu beurteilenden Maßnahmen oder das Fehlen sachlicher Gründe für die Einschränkungen wurden im vorliegenden Verfahren nicht geltend gemacht.

5. Auch die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die im Kollektivvertrag enthaltene Vereinbarung bezüglich einer datumsmäßig individualisierten Leistung geradezu logisch zwingend eine Rückwirkungsanordnung für den Fall impliziert, dass der Kollektivvertrag erst nach Fälligkeit dieser Leistung kundgemacht wird, ist nicht zu beanstanden. Die Revisionsausführungen enthalten dagegen keine substantiierten Argumente.

Soweit der Kläger ein schutzwürdiges Vertrauen der Angestellten in den selbstbindenden Vorbehalt der Gewerkschaft zum Maßnahmenpaket vom 2. 4. 2009 geltend macht, das einer rückwirkenden Anwendung der Bestimmungen entgegenstehe, übergeht er neuerlich, dass zu der schlussendlich maßgeblichen Änderungsvereinbarung vom 9. 6. 2009 kein solcher Vorbehalt mehr bestand.

Ein im Zusammenhang mit der Rückwirkung einer Norm schutzwürdiges Vertrauen muss auf den Normgeber bezogen sein. Es kommt daher nicht darauf an, welche Erwartungen ‑ möglicherweise ‑ der Kläger selbst aufgrund seiner Informationspolitik in den Angestellten erweckt hat.

Der Revision war daher keine Folge zu geben. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 2 ASGG, 41 und 50 ZPO.

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