OGH 8ObA17/20p

OGH8ObA17/20p24.4.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. 

Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. 

Stefula als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei H***** L*****, vertreten durch Dr. Christopher Kempf, Rechtsanwalt in Spittal an der Drau, gegen die beklagte Partei A*****-Aktiengesellschaft, *****, vertreten durch Dr. Hannes K. Müller, Rechtsanwalt in Graz, wegen Rechnungslegung und Zahlung (Stufenklage nach Art XLII EGZPO; Streitwert jeweils 5.000 EUR), über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. November 2019, GZ 6 Ra 59/19x‑13, mit dem der Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. April 2019, GZ 34 Cga 127/18d‑9, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBA00017.20P.0424.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichts wird aufgehoben und diesem die neuerliche Entscheidung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 833,88 EUR (darin 138,98 EUR USt)

bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Der in Kärnten wohnhafte Kläger erhob beim Landesgericht Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht gegen die in Graz ansässige Beklagte eine Stufenklage gemäß Art XLII EGZPO. Dabei nahm er hinsichtlich der Zuständigkeit des Erstgerichts den Standpunkt ein, dass es sich bei dem von ihm vorgetragenen Sachverhalt um eine Arbeitsrechtssache iSd § 50 ASGG handle, sodass ihm der Gerichtsstand nach § 4 Abs 1 Z 1 lit a ASGG zur Verfügung stehe.

Die Beklagte erhob den Einwand der Unzuständigkeit des Erstgerichts. Es liege keine Arbeitsrechtssache vor. Sachlich und örtlich zuständig wäre allein das Bezirksgericht Graz‑West.

Das Erstgericht schränkte das Verfahren auf die Frage der Zuständigkeit ein. Mit Beschluss vom 16. 4. 2019 verwarf es die Unzuständigkeitseinrede der Beklagten.

Das Rekursgericht wies mit der angefochtenen Entscheidung den Rekurs des Klägers zurück. Nach Eintritt der Streitanhängigkeit getroffene Entscheidungen, mit denen ein Gericht seine sachliche Zuständigkeit bejaht, seien gemäß § 45 HalbS 1 JN nicht anfechtbar. Ob das vom Kläger wenn auch als Arbeits- und Sozialgericht angerufene Landesgericht oder ein Bezirksgericht für das Verfahren zuständig sei, stelle sich jedenfalls als Frage der sachlichen Zuständigkeit dar, weshalb der Rechtsmittelausschluss des § 45 JN greife.

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nach § 528 Abs 1 ZPO unter Hinweis auf die Entscheidung 8 Ob 9/18h mit der Begründung zu, es sei nicht auszuschließen, dass sich die darin aufgestellten Grundsätze auch auf einen Zuständigkeitsstreit betreffend ein Landesgericht, das in Arbeits- und Sozialrechtssachen tätig werden soll, und ein Bezirksgericht übertragen lasse.

Gegen den Zurückweisungsbeschluss richtet sich der aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revisionsrekurs der Beklagten mit einem auf Stattgebung der Unzuständigkeitseinrede und Zurückweisung der Klage gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Rechtssache an das Rekursgericht zur neuerlichen Entscheidung über den Rekurs der Beklagten unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung die Zurückweisung des Rechtsmittels, hilfsweise ihm den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinn des Eventualbegehrens auch berechtigt.

I. Jedes Rechtsmittel ist grundsätzlich nur auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung gerichtet. Es ist daher hier allein die angefochtene, auf Zurückweisung des gegen die erstgerichtliche Entscheidung eingebrachten Rechtsmittels wegen des Rechtsmittelausschlusses nach § 45 JN lautende Entscheidung auf deren Richtigkeit zu überprüfen. Die mit dem Hauptantrag der Revisionsrekurswerberin angestrebte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Zuständigkeitsfrage selbst ist anlässlich des vorliegenden Rechtsmittels ausgeschlossen (vgl 8 Ob 56/19x [Pkt II.1.] mwH).

II. Die Revisionsrekurswerberin beanstandet, dass die Vorinstanz auf den vorliegenden Fall nicht die Gesichtspunkte zur Anwendung brachte, welche den Senat in 8 Ob 9/18h zu einem restriktiven Verständnis der Vorschrift des § 45 JN bewogen. Sie befindet sich damit im Recht:

II.1. Der Senat hat sich in der Entscheidung 8 Ob 9/18h eingehend unter Aufbereitung von Rechtsprechung und Literatur mit dem Verhältnis zwischen dem Rechtsmittelausschluss nach § 45 JN und der Vorschrift des § 37 ASGG auseinandergesetzt. Er hielt zusammenfassend in Pkt 7 fest, „ dass mit der Frage der Gerichtsbesetzung nach § 37 ASGG – im Gegensatz zur Abgrenzung zwischen einer der allgemeinen Gerichtsbarkeit und einer der handelsrechtlichen Kausalgerichtsbarkeit unterliegenden Rechtssache – wesentliche verfahrensrechtliche Konsequenzen verknüpft sind. Gerade unter Hinweis auf diese Besonderheit bejaht ja die ständige Rechtsprechung die Anfechtbarkeit eines Beschlusses nach § 37 Abs 3 ASGG. Die Wichtigkeit der (richtigen) Gerichtsbesetzung kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die unrichtige Gerichtsbesetzung – sofern nicht geheilt – als Nichtigkeitsgrund ausgestaltet ist (§ 477 Abs 1 Z 2 ZPO). Auch der richtigen Verfahrensart misst das Gesetz erhebliche Bedeutung zu, wie die Bestimmungen des § 40a, § 43 JN zeigen. Des Weiteren ist anerkannt, dass in einer Entscheidung über die Zuständigkeit auch eine (implizite) Entscheidung über die Gerichtsbesetzung nach § 37 Abs 3 ASGG und über die Behandlung einer Rechtssache im arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren liegen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht gerechtfertigt, dann, wenn mit der Entscheidung über die Zuständigkeit implizit auch bindend die Gerichtsbesetzung und die Anwendung der Verfahrensbesonderheiten für Arbeitsrechtssachen entschieden wird, die Anfechtungsmöglichkeit zu verkürzen. Der erkennende Senat vertritt daher die Ansicht, dass diese Fälle nicht von der nur die Frage der Zuständigkeit betreffenden Rechtsmittelbeschränkung des § 45 JN erfasst sind, sondern nach § 37 ASGG ein Rechtsmittel möglich ist.

II.2. Die Entscheidung stieß in der Literatur auf Kritik, fand aber auch Zustimmung.

II.2.1.  Schoditsch (Glosse zu 8 Ob 9/18h in DRdA 2019/38) äußerte Kritik dahin, dass die Entscheidung methodisch auf einer teleologischen Reduktion von § 45 JN beruhe samt anschließender Füllung der verdeckten Lücke durch Analogie zu § 37 ASGG, es in Wahrheit aber an einer Lücke fehle. Die teleologische Reduktion könnte nur durch den Telos des § 37 ASGG gerechtfertigt werden. Dagegen spreche, dass § 37 ASGG als eine Sonderregelung verstanden werde. Während aus §§ 61 ff JN klar folge, dass Zivil- und Kausalsenat zueinander im Verhältnis der Zuständigkeit stünden, behandle § 37 ASGG das Verhältnis zwischen Zivil- bzw Handelssenat oder Einzelrichter einerseits und arbeits- und sozialgerichtlichem Senat andererseits als unrichtige Gerichtsbesetzung. Damit weiche § 37 ASGG systemwidrig vom Konzept der [gemeint] JN ab. Da dieser Systembruch bereits bei Schaffung des ASGG bekannt gewesen sei, lasse sich nach Ansicht dieses Autors nicht schlüssig argumentieren, dass dem Gesetzgeber in diesem Zusammenhang ein Versehen unterlaufen wäre. Vielmehr liege es nahe, dass er mit § 37 ASGG bewusst eine abweichende Regelung schuf. Dann fehle jedoch jene planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes, die für eine teleologische Reduktion des § 45 JN erforderlich sei.

II.2.2.  Mayr (in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 7 JN Rz 5, § 45 JN Rz 8) begrüßt hingegen die Entscheidung. § 37 Abs 1 ASGG behandle systemwidrig das Verhältnis zwischen Zivil- bzw Handelssenat (oder Einzelrichter) und arbeits- und sozialrechtlichem Senat desselben Gerichtshofs (und umgekehrt) als unrichtige Gerichtsbesetzung, weshalb ein solcher Beschluss nicht den Anfechtungsbeschränkungen des § 45 JN unterliege. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien, das Handelsgericht Wien und das Arbeits‑ und Sozialgericht Wien stünden hingegen zueinander im Verhältnis der sachlichen (Un‑)Zuständigkeit, sodass nach älterer Rechtsprechung in der Bundeshauptstadt die erwähnte Rechtsmittelbeschränkung zur Anwendung komme. Der Oberste Gerichtshof habe mit 8 Ob 9/18h diese Ansicht richtigerweise korrigiert.

II.2.3.  Neumayr (in Neumayr/Reissner , ZellKomm 3 § 37 ASGG Rz 9 [RDB‑online]) lehrt, dass aufgrund der divergenten Gerichtsorganisation in Wien bei Streitigkeiten, ob ein Fall vom Handelsgericht Wien oder vom Arbeits‑ und Sozialgericht Wien zu entscheiden ist, nicht die unrichtige Gerichtsbesetzung, sondern die Zuständigkeit tangiert sei. Dies habe nach der älteren Rechtsprechung dazu geführt, dass die Rechtsmittelbeschränkung des § 45 JN anzuwenden gewesen sei. Die Unterscheidung sei entgegen kritischen Stimmen in der Lehre nicht als gleichheitswidrig qualifiziert worden. Der Oberste Gerichtshof habe in 8 Ob 9/18h in der Differenzierung einen Wertungswiderspruch erkannt und seine Rechtsprechung geändert.

II.2.4.  Nademleinsky (in Höllwerth/Ziehensack , ZPO-TaKom § 45 JN Rz 5) stellt dar, dass von der Rechtsprechung die Anwendung von § 45 JN für das Verhältnis zwischen dem Arbeits‑ und Sozialgericht Wien und den ordentlichen Gerichten bejaht worden sei. Allerdings habe der Oberste Gerichtshof mit 8 Ob 9/18h den dadurch entstandenen Wertungswiderspruch aufgegriffen, dass die Rechtsprechung die Frage, ob ein Gericht in einer Rechtssache als Arbeits‑ und Sozialgericht oder in anderer Funktion zu entscheiden hat, als Problem der Gerichtsbesetzung ohne Rechtsmittelausschluss behandle. Dabei sei der Oberste Gerichtshof zum Ergebnis gelangt, dass der Rechtsmittelausschluss auch bei einer Überweisung einer Rechtssache wegen sachlicher Unzuständigkeit vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien an das Arbeits‑ und Sozialgericht Wien nicht greife, weil eine solche Entscheidung über die Zuständigkeit nicht nur diese betreffe, sondern auch über die Gerichtsbesetzung und Anwendung der Verfahrensbesonderheiten in Arbeits- und Sozialrechtssachen mitentscheide.

II.2.5. Von Spenling (Aktuelle Judikatur in Arbeitsrechtssachen, in Reissner/Mair , Innsbrucker Jahrbuch zum Arbeits- und Sozialrecht 2019 [2020] 3 [41 ff]) wurde die Entscheidung 8 Ob 9/18h neutral referiert.

II.3. Der Senat sieht aufgrund der Rezeption seiner Entscheidung in der Literatur keine Veranlassung, von seiner Entscheidung abzugehen. Schoditsch hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Entscheidung methodisch auf einer teleologischen Reduktion des § 45 JN und eine anschließende Schließung der Lücke unter Anwendung des § 37 ASGG beruht. Entgegen Schodisch vertritt der Senat die Ansicht, dass der Gesetzgeber bei Schaffung des ASGG nicht mitbedacht hat, dass die Rechtsprechung davon ausgeht, dass hier mit der Frage der Zuständigkeit auch jene der Gerichtsbesetzung und der Anwendung der ASGG als mitentschieden anzusehen ist. Dafür, dass der Gesetzgeber auch voraussah, dass mit § 37 ASGG in Verbindung mit § 45 JN eine Rechtslage entsteht, bei der für ein und dieselbe Situation in und außerhalb Wiens unterschiedliche Anfechtungsmöglichkeiten bestehen, liegen keine Belege vor. Hätte der Gesetzgeber die Problematik erkannt, hätte er § 45 JN enger gefasst. Dem entsprechend ist die Vorschrift einer teleologischen Reduktion zugänglich. Es ist daher daran festzuhalten, dass sich die Anfechtbarkeit einer Entscheidung, mit der gleichzeitig untrennbar sowohl über die sachliche Zuständigkeit als auch über die Gerichtsbesetzung nach § 37 ASGG und die Anwendung des ASGG entschieden wird, nach jenem Entscheidungsgegenstand richtet, für den das Gesetz den weitergehenden Rechtsschutz gewährt (vgl auch § 514 ZPO).

II.4. Auch im vorliegenden Fall wird durch den Beschluss des Erstgerichts über seine Zuständigkeit implizit auch bindend die Gerichtsbesetzung und die Anwendung der Verfahrensbesonderheiten für Arbeitsrechtssachen entschieden. Auch in diesem Fall ist damit – aufgrund der auch hier geltenden Überlegungen der Entscheidung 8 Ob 9/18h – in Analogie zu § 37 ASGG ein Rechtsmittel möglich.

Es war daher in Stattgebung des Eventualantrags der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Rekursgericht die Entscheidung über den Rekurs unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Das Rekursgericht wies von Amts wegen den Rekurs zurück, sodass an sich kein echter Zwischenstreit vorliegen würde. Der Kläger ist in der Revisionsrekursbeantwortung aber dem Revisionsrekurs der Beklagten entgegengetreten, wodurch er im Rechtsmittelverfahren einen echten Zwischenstreit auslöste (

10 Ob 63/16m [Pkt 5]; 3 Ob 115/19m [Pkt 4]; Obermaier , Kostenhandbuch 3

Rz 1.334). Da er in diesem unterlag, hat er die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vor dem Obersten Gerichtshof zu tragen.

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