European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0080OB00086.13Z.1028.000
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird, soweit er sich gegen die Zuerkennung der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Entscheidung nach § 44 Abs 2 AußStrG richtet, als unzulässig zurückgewiesen.
Im Übrigen wird dem Revisionsrekurs Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache zur ergänzenden Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung
Die Eltern des 11-jährigen D***** sind seit 2007 geschieden. Im Scheidungsvergleich vereinbarten sie die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge mit hauptsächlichem Aufenthaltsort des Kindes bei der Mutter. Seit dem 16. Februar 2009 war das Kind jedoch, ursprünglich mit Zustimmung beider Elternteile, über Vermittlung des Jugendwohlfahrtsträgers auf einem Pflegeplatz untergebracht, weil die Mutter mit seiner angemessenen Betreuung aus psychischen Gründen überfordert war.
Am 19. 10. 2010 stellte der Jugenwohlfahrtsträger, gestützt auf § 176 iVm § 215 Abs 1 ABGB, den Antrag, der Mutter die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung sowie die gesetzliche Vertretung in diesem Bereich zu entziehen und dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Die Mutter habe ihre Zustimmung zur Fremdunterbringung widerrufen, sie sei aber nicht imstande, das Kind adäquat zu betreuen.
Beide Elternteile stellten in der Folge ebenfalls Anträge auf Übertragung der jeweils alleinigen Obsorge. Die Mutter vertrat den Standpunkt, ihre persönlichen Verhältnisse hätten sich konsolidiert und sie könne nun wieder bestens für das Kind sorgen; der Vater erklärte, mit der Fremdunterbringung einverstanden zu sein und diese auch im Fall einer Zuteilung der Obsorge an ihn bis auf weiteres beibehalten zu wollen.
Mit dem angefochtenen Beschluss entzog das Erstgericht im zweiten Rechtsgang beiden Elternteilen die gemeinsame Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung sowie der gesetzlichen Vertretung in diesem Bereich und betraute damit das Land als Jugenwohlfahrtsträger. Gleichzeitig wies es den Antrag der Mutter auf Zuteilung der alleinigen Obsorge ab und erklärte seinen Beschluss gemäß § 44 Abs 1 AußStrG für sofort vollstreckbar.
Die Übertragung der Obsorge sei zur Wahrung des Kindeswohls erforderlich, weil die Mutter ihre Zustimmung zu der für seine positive Entwicklung notwendigen Unterbringung des mj D***** in der Pflegefamilie verweigere.
Eine Entscheidung über den Antrag des Vaters steht noch aus.
Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss des Erstgerichts und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfragen für nicht zulässig.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Mutter ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts gemäß § 62 Abs 1 AußStrG zulässig und ‑ im Ergebnis ‑ im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses berechtigt, weil die seit 1. 2. 2013 geänderte Rechtslage eine neuerliche Überprüfung der Entscheidungen der Vorinstanzen erfordert.
1. Gegen den Beschluss auf Zuerkennung der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Entscheidung ist nach § 44 Abs 2 AußStrG überhaupt kein Rechtsmittel zulässig. In diesem Punkt war der Revisionsrekurs zurückzuweisen.
2. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Mutter, der im Revisionsrekurs darin erblickt wird, dass sie sich nicht zu einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen äußern habe können, ist nicht aufzugreifen. Ein solcher Mangel wäre jedenfalls nach § 58 Abs 1 AußStrG durch ihre Beteiligung am Rekursverfahren geheilt. Die Mutter hatte wegen der im außerstreitigen Verfahren bestehenden Neuerungserlaubnis nicht nur Gelegenheit, in ihrem Rekurs das in erster Instanz verhinderte Vorbringen nachzutragen, sondern auch neue Beweisanträge zu stellen (vgl ErläutRV 224 BlgNR 22. GP, 53; Fucik/Kloiber AußStrG § 58 Rz 1). Einen Verstoß des Rekursgerichts gegen die in § 58 Abs 1 AußStrG normierten Bedingungen für eine Sachentscheidung zeigt der Revisionsrekurs nicht auf.
3. Es trifft zwar zu, dass Obsorgeentscheidungen eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt haben und nur dann sachgerecht sein können, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS-Justiz RS0106312). Eine wesentliche Veränderung der Tatsachengrundlage, die von den Vorinstanzen noch nicht berücksichtigt worden wäre, ist hier aber weder aus dem Akt ersichtlich, noch wird sie im Revisionsrekurs behauptet.
4. Die Entscheidung des Erstgerichts, von einer persönlichen Anhörung des Kindes abzusehen, wurde vom Rekursgericht geprüft und wegen eines Ausnahmetatbestands nach § 105 Abs 2 AußStrG nicht als Verfahrensmangel beurteilt. Der bereits in zweiter Instanz verneinte Mangel kann grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund mehr bilden (RIS-Justiz RS0050037, RS0030748). Gründe des Kindeswohls, die ausnahmsweise eine Berücksichtigung erfordern würden (RIS-Justiz RS0050037 [T5, T8]; zuletzt etwa 2 Ob 153/12g; 4 Ob 81/13k), sind nicht erkennbar und werden im Rechtsmittel auch nicht dargelegt.
5. Nach der im Zeitpunkt der Antragstellung und bis 31. 1. 2013 geltenden Rechtslage war die Aufrechterhaltung der Obsorge beider Eltern gegen den Willen eines Elternteils ausgeschlossen. Wurde ein Elternantrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge gestellt, war die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge auch nur in einem Teilbereich ausgeschlossen (5 Ob 202/10g mwN).
Diese Rechtslage wurde durch das KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15, grundlegend geändert. Nach § 1503 Z 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013 ist dieses, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit 1. 2. 2013 in Kraft getreten und mangels entgegenstehender Regelungen auch auf zu diesem Zeitpunkt bereits anhängige Verfahren anzuwenden (4 Ob 32/13d mwN; 4 Ob 58/13b).
Das Gericht kann nunmehr den Eltern die gemeinsame Obsorge auch gegen den Willen eines Elternteils oder sogar gegen den Willen beider Eltern auftragen, wenn es zu der Auffassung gelangt, dass diese dem Kindeswohl besser entspricht als die Alleinobsorge eines Elternteils.
6. Die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger kann nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Der Jugendwohlfahrtsträger ist nur subsidiär zu Verwandten, anderen nahestehenden Personen oder sonst besonders geeigneten Personen mit der (Teil-)Obsorge zu betrauen (RIS‑Justiz RS0123509).
7. Die Anträge der Eltern auf Übertragung jeweils der alleinigen Obsorge wären nach der alten Rechtslage einer Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge unter allen Umständen entgegengestanden. Beide Elternteile können nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen ‑ die Mutter aus persönlichen, der Vater aus beruflichen Gründen ‑ derzeit eine angemessene Pflege und Erziehung nicht gewährleisten, weshalb nur die Möglichkeit der (teilweisen) Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger verblieben wäre.
Die neue Rechtslage bietet aber weitere Möglichkeiten, die eine Erörterung in erster Instanz erfordern, um eine adäquate Lösung im Interesse des Kindes bei gleichzeitig weitestgehender Erhaltung der familiären Obsorge zu finden.
8. Nach den Ergebnissen des bisherigen Verfahrens entspricht es eindeutig dem Wohl des Kindes, weiterhin im Haushalt der Pflegefamilie zu leben, in das es sich nun schon jahrelang integrieren konnte, in dem es seine Entwicklungsdefizite aufholen konnte und wo es seinen Bedürfnissen entsprechend gefördert wird.
Die Beibehaltung der Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie erfordert es aber nach der geltenden Rechtslage nicht mehr zwingend, beiden Elternteilen die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung zu entziehen und sie dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Das anzustrebende Ergebnis könnte auch auf anderen Wegen erreicht werden.
Es besteht die Option, die gemeinsame Obsorge der Eltern aufrecht zu belassen und die ohne gerechtfertigte Gründe verweigerte Zustimmung der Mutter zur Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie nach § 176 Abs 1 ABGB gerichtlich zu ersetzen. Allenfalls käme nun, entgegen der früheren Rechtslage, auch eine Entziehung der Obsorge in einem Teilbereich gegenüber einem Elternteil unter Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge in allen übrigen Bereichen in Betracht.
Da die neuerliche Entscheidung eine Einbeziehung aller Beteiligten erfordert, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben.
Ein Kostenersatz findet im Verfahren über die Obsorge nach § 107 Abs 3 AußStrG nicht statt.
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