OGH 8Ob15/12g

OGH8Ob15/12g30.5.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ö***** AG, *****, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1011 Wien, Singerstraße 17‑19, gegen die beklagte Partei DDr. P***** L*****, vertreten durch Mag. Herwig Holzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Räumung (Streitwert: 1.740 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 30. Mai 2011, GZ 18 R 281/10t‑79, womit über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Neunkirchen vom 29. September 2009, GZ 3 C 762/09f‑63, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

1. Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird ersatzlos behoben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

2. Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird als nichtig aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Räumung eines Forsthauses. Der zwischen den Streitteilen vereinbarte Bestandvertrag habe durch Zeitablauf am 31. 3. 2004 geendet, sodass der Beklagte das Bestandobjekt titellos benutze.

Der Beklagte wandte dagegen ein, dass das Bestandverhältnis auf unbestimmte Zeit verlängert worden sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Beklagte habe nach Ablauf des Bestandvertrags über mehrere Jahre hinweg weiterhin den vereinbarten Mietzins bezahlt, der als solcher auch von der Klägerin angenommen worden sei. Das Mietverhältnis sei daher stillschweigend verlängert worden.

Gegen dieses (auch dem Beklagten zugestellte) Urteil erhob die Klägerin Berufung, die dem (unvertretenen) Beklagten nicht zugestellt werden konnte, weil dieser vom 19. 10. 2009 bis 11. 1. 2010 und wiederum vom 20. 1. 2010 bis 6. 4. 2010 ortsabwesend war, wovon er dem Gericht keine Mitteilung gemacht hatte. Nachdem auch eine Zustellung an einem Nebenwohnsitz des Beklagten fehlgeschlagen war, verfügte das Erstgericht über Antrag der Klägerin die Zustellung der Berufung durch Hinterlegung ohne vorangehenden Zustellversuch gemäß § 8 Abs 2 ZustG, welche am 24. 2. 2010 erfolgte.

Am 26. 7. 2010 beantragte der ‑ auch zu diesem Zeitpunkt noch unvertretene ‑ Beklagte die Zustellung der Berufung und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung der Berufungsbeantwortung, ohne aber gleichzeitig eine Berufungsbeantwortung zu erstatten.

Das Erstgericht bewilligte die beantragte Wiedereinsetzung. Der darüber gefasste Beschluss und die Berufung der Klägerin wurde dem Beklagten am 18. 8. 2010 zugestellt, der daraufhin (nunmehr durch einen Rechtsanwalt) am 22. 9. 2010 die Berufungsbeantwortung erstattete.

Das Berufungsgericht wies die Berufungsbeantwortung des Beklagten zurück und änderte in Stattgebung der Berufung der Klägerin das Urteil im klagestattgebenden Sinn ab.

Zum Zurückweisungsbeschluss führte das Berufungsgericht aus, dass die Berufung dem Beklagten gemäß § 8 Abs 2 ZustG durch Hinterlegung am 24. 2. 2010 wirksam zugestellt worden sei. Zwar habe das Erstgericht einen am 26. 7. 2010 eingelangten Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erstattung der Berufungsbeantwortung bewilligt. Der Beklagte habe die Berufungsbeantwortung jedoch nicht zugleich mit dem Wiedereinsetzungsantrag, sondern erst am 22. 9. 2010 erstattet, weshalb sie verspätet sei.

In der Sache selbst führte das Berufungsgericht aus, dass die Parteien den mit Ablauf des 31. 12. 2003 befristeten Mietvertrag weder ausdrücklich noch schlüssig verlängert hätten. Der Beklagte habe daher das Bestandobjekt titellos benützt, weshalb das Räumungsbegehren berechtigt sei. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Gegen den Beschluss des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs des Beklagten, gegen das Urteil des Berufungsgerichts die Revision des Beklagten.

Die Klägerin beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt. Die Revision ist zulässig und ebenfalls berechtigt.

1. Zum Rekurs des Beklagten:

1.1 Die Zurückweisung der Berufungsbeantwortung ist analog zu § 519 Abs 1 Z 1 ZPO mit Rekurs anfechtbar (RIS‑Justiz RS0117039, RS0043877), sofern der Rekurswerber durch die Zurückweisung der Berufungsbeantwortung beschwert ist (8 Ob 124/11k ua). Die Beschwer des Beklagten ist im vorliegenden Fall zu bejahen, weil ihm die Möglichkeit genommen wurde, der (letztlich erfolgreich gebliebenen) Berufung entgegenzutreten.

1.2 Ändert eine Partei während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat, die Abgabestelle, ohne dies der Behörde unverzüglich mitzuteilen, so ist gemäß § 8 Abs 2 ZustG die Zustellung durch Hinterlegung ohne vorangehenden Zustellversuch vorzunehmen, falls eine Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten ermittelt werden kann. Entgegen der Rechtsansicht des Beklagten lagen die Voraussetzungen für die Zustellung der Berufung durch Hinterlegung gemäß § 8 Abs 2 ZustG hier vor.

1.3 Die bisherige Abgabestelle wird nach der Rechtsprechung auch dann geändert, wenn die Partei an ihr während eines zumindest unverhältnismäßig längeren Zeitraums nicht mehr anzutreffen ist (2 Ob 44/02p; RIS‑Justiz RS0083831). Dabei ist auch die Vorhersehbarkeit der Zustellung während dieses Zeitraums zu berücksichtigen (7 Ob 119/06k mwH). Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass eine Abwesenheit von fünf Monaten (9 ObA 172/92) bzw rund einem halben Jahr (9 Ob 296/00w; 7 Ob 119/06k) als unverhältnismäßig lang und daher als Änderung der bisherigen Abgabestelle anzusehen ist, sodass Zustellungen gemäß § 8 Abs 2 ZustG zulässig sind. § 8 ZustG will jede Behinderung der Zustellung, die der Empfänger dadurch verantwortet, dass er Zustellungen an der bisherigen Abgabestelle durch sein Verhalten unmöglich macht, verhindern (Stumvoll in Fasching/Konecny 2 ErgBd § 8 ZustG Rz 6). Geht man von der dem Beklagten bekannten Lage des Verfahrens und insbesondere dem Umstand aus, dass er mit der Zustellung des Ersturteils rechnen musste, so kann keine Rede davon sein, dass er während der Zeit von ‑ abgesehen von einer geringfügigen Unterbrechung ‑ rund 5 ½ Monaten bloß vorübergehend oder kurzfristig abwesend gewesen wäre.

1.4 Dass keine Verständigung des Beklagten gemäß § 23 Abs 3 ZustG über die vorgenommene Hinterlegung erfolgte, hat nicht die von ihm behauptete Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge. § 23 Abs 3 ZustG ist eine sanktionslose Ordnungsvorschrift (VwGH 96/07/0203), deren Verletzung die Wirksamkeit der Zustellung nicht berührt (Stumvoll aaO § 23 Rz 10 mwH). Dies ergibt sich deutlich schon aus dem Wortlaut des § 23 Abs 3 ZustG, der die Unterrichtung von der Hinterlegung nur vorsieht, „soweit dies zweckmäßig ist“. Die Zustellung des Urteils des Erstgerichts erfolgte daher wirksam gemäß § 8 Abs 2 ZustG.

1.5 Richtig ist, dass der Beklagte entgegen § 149 Abs 1 ZPO mit seinem Wiedereinsetzungsantrag nicht die versäumte Berufungsbeantwortung nachgeholt hat. Dies hätte aber das Erstgericht dazu veranlassen müssen, einen befristeten Verbesserungsauftrag gemäß § 84 Abs 3 ZPO zu erteilen (RIS‑Justiz RS0036638). Dies hätte dem Beklagten Gelegenheit gegeben, innerhalb der ihm gesetzten Verbesserungsfrist die Berufungsbeantwortung nachzutragen, sodass sie ‑ im Fall der Bewilligung der Wiedereinsetzung ‑ rechtzeitig gewesen wäre. Dass das Erstgericht dem Beklagten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erstattung einer Berufungsbeantwortung bewilligt hat, ohne einen solchen Verbesserungsauftrag zu erteilen, kann dem Beklagten nicht zum Nachteil gereichen (3 Ob 546/87).

Die Berufungsbeantwortung ist daher rechtzeitig eingebracht worden, weshalb dem Rekurs Folge zu geben und der angefochtene Beschluss aufzuheben war.

Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

2. Zur Revision des Beklagten:

2.1 Die Revision ist zulässig, weil das Urteil des Berufungsgerichts mit Nichtigkeit behaftet ist (1 Ob 295/02t; 6 Ob 288/04w). Das Berufungsgericht hat ohne Beachtung der rechtzeitig erstatteten Berufungsbeantwortung des Beklagten entschieden. Diese Vorgangsweise ist im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtseinheit jedenfalls zu korrigieren (SZ 70/260).

2.2 § 468 Abs 2 ZPO räumt dem Berufungsgegner zwingend das rechtliche Gehör in Form einer Berufungsbeantwortung ein. Da dieses hier nicht gewahrt wurde, ist das Berufungsverfahren mit dem Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO behaftet (6 Ob 288/04w; RIS‑Justiz RS0042158 ua), worauf der Beklagte in seiner Rechtsmittelschrift insgesamt zutreffend hinweist.

Das Berufungsurteil ist daher als nichtig aufzuheben. Das Berufungsgericht wird über die Berufung unter Berücksichtigung der vom Beklagten erstatteten Berufungsbeantwortung neuerlich zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren beruht auf § 52 ZPO. Da nur die Entscheidung des Berufungsgerichts ohne ein vorausgegangenes Verfahren aufgehoben wurde, findet § 51 ZPO nicht Anwendung (1 Ob 295/02t; 6 Ob 288/04b; RIS‑Justiz RS0123067; RS0035870).

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