OGH 7Ob209/21t

OGH7Ob209/21t26.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners M* E*, geboren * 1967, *, vertreten durch den Verein Erwachsenenvertretung Salzburg, 5600 St. Johann im Pongau, Hauptstraße 91d, (Bewohnervertreterin C* H*, BA), dieser vertreten durch Mag. Siegfried Berger und Mag. Harald Brandstätter, Rechtsanwälte in St. Johann im Pongau, Einrichtungsleiter Primar Dr. M* M*, dieser vertreten durch Dr. Katharina Sedlazeck‑Gschaider, Rechtsanwältin in Salzburg, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung, über den Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 20. Oktober 2021, GZ 22 R 250/21z‑41, womit der Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 16. August 2021, GZ 523 Ha 1/20m‑36, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00209.21T.0126.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass – unter Einschluss des in Rechtskraft erwachsenen antragsabweisenden Teils – der Beschluss des Erstgerichts insgesamt wiederhergestellt wird.

 

Begründung:

[1] Der Bewohner leidet an einer katatonen Schizophrenie und wird in einer Einrichtung betreut. Am 4. Juli 2020 wurde er aufgrund seiner psychischen Erkrankung, die sich in einem mehrstündigen Angstzustand äußerte, im geschlossenen Bereich der Abteilung für Psychiatrie des K* S* Klinikums (in der Folge Klinikum) untergebracht. Aufgrund einer Verschlechterung seines Allgemeinzustands und eines beginnenden septischen Zustandsbilds wurde die Unterbringung am 5. Juli 2020 um 22:25 Uhr aufgehoben und der Bewohner auf die Intensivstation der internen Abteilung des Klinikums überstellt, wo er sich bis zum 14. Juli 2020 befand.

Der Bewohner erkrankte bei pulmonalen Vorerkrankungen an einer komplizierten Lungenentzündung. Der Beginn war atypisch, esstanden die psychischen (Delir) und nicht die respiratorischen Symptome im Vordergrund. Das Delir ist eine häufige Erkrankung von Intensivpatienten. Auch psychisch nicht vorerkrankte Patienten können im Rahmen einer intensivmedizinischen Behandlung ein Delir erleiden, allerdings ist die Inzidenz eines Delirs umso höher, je prämorbider (psychiatrische Vorerkrankung, cerebrale Morbidität) ein Patient ist. Ein Delir hat eine organische Ursache und es zeigen sich psychische Symptome. Die Behandlung ist eine komplexe Kombination aus nicht medikamentösen (zB Delir-Screening, Mobilisation, Angehörigeneinbindung) und medikamentösen Maßnahmen. Aufgrund des bestehenden Delirs versuchte der Bewohner mehrfach die Sauerstoffbrille abzustreifen und den zentralen Venenkatheter zu ziehen, er war unruhig, bettflüchtig und agitiert.

[2] Im Rahmen der Behandlung des Bewohners auf der Intensivstation kam daher auch eine Pflegedecke (Zewi‑Decke) zur Anwendung. Es kann aber nicht festgestellt werden, wann und für wie lange die Pflegedecke verwendet wurde. Die beim Bewohner verwendete Zewi‑Decke ist im Oberkörperbereich ähnlich einem Gilet geschnitten – Arme sowie Hände sind frei – und hat zwei Schulterreißverschlüsse mit je 20 cm und einen langen Reißverschluss mit ca 175 cm, der mittig von oben nach unten verläuft. Dieser Reißverschluss kann nur mit einer starken Rumpfbeugung erreicht und geöffnet werden. Die Zewi‑Decke ist wie ein Spannleintuch über die Matratze gezogen. Sie lässt sich, wenn der Patient aufsitzt, an den Schultern leicht öffnen. Dann kann man die Decke nach unten schieben und heraussteigen. Im konkreten Fall wurde die Zewi‑Decke verwendet, um dem Bewohner ein Entfernen der Zugänge zu erschweren bzw dem Pflegepersonal mehr Zeit zu verschaffen, um zu ihm zu kommen und ein Entfernen der Zugänge zu verhindern. Der Bewohner sollte darüber hinaus am Verlassen des Bettes gehindert werden, weil es auch dadurch zu einer Therapieunterbrechung durch Lösen der Zugänge kommen kann. In wacheren Phasen wäre es ihm möglich gewesen, die Zewi-Decke zu öffnen und aufzustehen. Den Einsatz der Zewi-Decke hat die Pflege mit den behandelnden Ärzten besprochen. Deren Verwendung wurde nicht dokumentiert; ihr Einsatz auch nicht gemeldet.

[3] Der Verein beantragte – soweit im Revisionsrekursverfahren noch relevant – die mechanische Freiheitsbeschränkung durch Anlegung der Zewi-Decke aufgrund der fehlenden Meldung für unzulässig zu erklären. Das HeimAufG sei auch auf psychisch kranke oder geistig behinderte Personen, die auf einer Intensivstation behandelt werden, anzuwenden. Bei der Pflegedecke handle es sich um eine freiheitsbeschränkende Maßnahme, weil sie die Ortsveränderung erschwere.

[4] Der Einrichtungsleiter beantragte die Abweisung des Antrags. Er brachte – soweit im Revisionsrekursverfahren noch relevant – vor, das HeimAufG sei nicht anzuwenden, weil dieses nur für Personen gelte, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege oder Betreuung bedürfen; dies sei in der antragsgegenständlichen Behandlungsphase gerade nicht der Fall gewesen. Außerdem sei dem Bewohner trotz der Versorgung mit der Zewi-Pflegedecke das selbstständige Verlassen des Bettes möglich gewesen.

[5] Das Erstgerichtwies – soweit im Revisionsrekursverfahren noch relevant – den Antrag auf Unzulässigerklärung der Freiheitsbeschränkung durch Anlegung der Zewi-Decke ab. Das HeimAufG sei zwar anzuwenden, jedoch sei die Verwendung der Zewi‑Pflegedecke keine freiheitsbeschränkende Maßnahme, weil dem Bewohner ein Aussteigen möglich gewesen sei.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vereins teilweise Folge und änderte die Entscheidung dahin ab, dass es die Maßnahme des Hinderns des Bewohners am Verlassen des Bettes mittels einer Zewi-Pflegedecke für unzulässig erklärte. Aufgrund der getroffenen Feststellungen sei davon auszugehen, dass es dem Bewohner infolge der Anwendung der Pflegedecke nicht mehr uneingeschränkt (nämlich nur „in wacheren Phasen“) möglich gewesen sei, das Bett zu verlassen, weshalb deren Verwendung eine freiheitsbeschränkende Maßnahme darstelle, die aufgrund der im konkreten Fall fehlenden Dokumentation und Meldung unzulässig gewesen sei.

[7] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es zu, weil zu Freiheitsbeschränkungen im Zusammenhang mit der Behandlung psychisch kranker Personen in einer lebensbedrohlichen Situation auf einer Intensivstation höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekursdes Einrichtungsleiters mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Der Verein hat sich nicht am Revisionsrekursverfahren beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch berechtigt.

[11] 1.1. Das HeimAufG regelt die Voraussetzungen für die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen, in Behindertenheimen und in anderen Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können. In Krankenanstalten ist dieses Bundesgesetz nur auf Personen anzuwenden, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege und Betreuung bedürfen (§ 2 Abs 1 HeimAufG).

[12] 1.2. Der Geltungsbereich des HeimAufG wird somit in Krankenanstalten personenbezogen abgegrenzt (7 Ob 1/14v; 7 Ob 6/17h). Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf bestimmte Arten von Spitalsabteilungen ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus den Materialien (RS0121803 [T1]). Auch darauf, ob die Grundkrankheit in der Krankenanstalt „behandelt" wird, kommt es nach dem Gesetz nicht an. Ein Zusammenhang zwischen dem Aufnahmegrund und der Grunderkrankung ist somit nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit des HeimAufG (RS0121803 [T2]).

[13] 1.3. Da sich eine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf bestimmte Arten von Spitalsabteilungen aus dem Gesetz nicht ergibt, ist das HeimAufG – wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben – grundsätzlich auch auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen psychisch kranker oder geistig behinderter Personen auf Intensivstationen anzuwenden.

[14] 2. Eine Freiheitsbeschränkung darf nach § 4 Z 1 HeimAufG nur vorgenommen werden, wenn der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet. Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn einer Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871). Mechanische Mittel der Freiheitsbeschränkung sind etwa unmittelbare körperliche Zugriffe mit dem Ziel, den Bewohner zurückzuhalten. Hierzu zählt der Gebrauch von speziellen Möbeln, von Kleidung oder Vorrichtungen, die verhindern, dass der Bewohner seinen Körper bewegt oder einen bestimmten Ort oder Raum verlässt (7 Ob 134/14b; 7 Ob 233/16i).

[15] Im vorliegenden Fall wurde das Anlegen der Zewi-Pflegedecke nicht wegen der psychiatrischen Grunderkrankung des Bewohners, sondern wegen der medizinischen Behandlung der Lungenentzündung und des durch die Intensivbehandlung aufgetretenen Delirs erforderlich. Die Pflegedecke diente nur dazu, das Entfernen der Zugänge, die zur Behandlung der Lungenentzündung und des Delirs notwendig waren, durch den Bewohner zu verhindern, weil er aufgrund des Delirs – und nicht wegen seiner psychiatrischen Grunderkrankung – mehrfach versucht hatte, sich die Sauerstoffbrille abzustreifen und den zentralen Venenkatheter zu ziehen. Die Anwendung der Pflegedecke erfolgte somit ausschließlich im Rahmen der allgemeinen Heilbehandlung wie sie jedermann zuteil wird, und nicht zur Abwehr von einer Selbst- oder Fremdgefährdung im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung des Bewohners.

[16] Zusammengefasst folgt: Es liegt keine freiheitsbeschränkende Maßnahme im Sinn des § 3 HeimAufG vor, wenn eine Zewi-Pflegedecke auf einer Intensivstation zur Behandlung eines durch die Intensivbehandlung – und nicht durch die psychische Grunderkrankung – ausgelösten Delirs angewendet wird.

[17] Die Frage, ob die Zewi‑Pflegedecke an sich eine freiheitsbeschränkende Maßnahme ist, stellt sich hier daher nicht.

[18] 3. Dem Revisionsrekurs des Leiters der Einrichtung war daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

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