OGH 7Ob189/15t

OGH7Ob189/15t16.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj M***** L*****, geboren am ***** 1998, *****, Mutter: G***** L*****, Vater: K***** L*****, beide *****, beide vertreten durch Dr. Hans Kaska, Rechtsanwalt in St. Pölten, weitere Verfahrenspartei: Land Steiermark als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Liezen, 8940 Liezen, Hauptplatz 12), wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter und des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom 9. September 2015, GZ 2 R 156/15p‑78, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Liezen vom 27. April 2015, GZ 16 Ps 16/13w‑70, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0070OB00189.15T.1216.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Entscheidung über den Antrag des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers betreffend die Übertragung der Obsorge an ihn an das Erstgericht zurückverwiesen.

Der Antrag der Eltern auf Zuspruch der Kosten des Revisionsrekurses wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der nunmehr 17‑jährige Sohn entstammt der Ehe seiner Eltern. Er lebt (im Wesentlichen seit 2009) als Pflegekind bei einer Familie in B*****.

Am 20. 6. 2013 beantragte das Land Steiermark als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (kurz: Jugendwohlfahrtsträger), den Eltern die Obsorge über ihren Sohn zu entziehen und diese ihm zu übertragen. Die Eltern beabsichtigten, ihren Sohn, der bei einer Pflegefamilie untergebracht war, nach Beendigung seiner Schulpflicht im Juli 2013 zu sich zu nehmen. Das erscheine aus Sicht des Jugendlichen problematisch, weil dadurch die Fortsetzung seiner positiven Entwicklung aufgrund der sehr guten Betreuung im stabilen Umfeld der Pflegefamilie gefährdet werde. Die Eltern würden die Situation des Minderjährigen nicht problembewusst wahrnehmen. Dieser sollte in seinem bisherigen Umfeld, in dem er sich ausgesprochen wohlfühle, belassen werden. Er habe die Möglichkeit, im Herbst eine „Anlehre“ im Gärtnerbereich über die Lebenshilfe zu absolvieren.

Die Eltern sprachen sich gegen diesen Antrag aus. Ein weiterer Verbleib des Minderjährigen bei den Pflegeltern und insbesondere die vom Jugendwohlfahrtsträger geplante „Anlehre“ erscheine nicht dem Kindeswohl zu entsprechen. Ihr Sohn weise dem Vernehmen nach den Geisteszustand eines 12‑Jährigen auf, weshalb er sicherlich nicht in der Lage sei, den Berufsanforderungen einer solchen Lehre nachzukommen. Sie beabsichtigten daher, ihren Sohn in S***** weitere zwei Jahre zur Schule gehen zu lassen; in dieser Schulform sei eine optimale behindertengerechte Unterstützung gewährleistet.

Laut dem in der Folge eingeholten familienpsychologischen Sachverständigengutachten vom 15. 11. 2013 zeigt der Minderjährige im Vergleich zu Gleichaltrigen Leistungen in der Verbalintelligenz, die einer leichten Intelligenzminderung und einem mentalen Alter bis unter 12 Jahren entsprechen. Handlungsintelligenz und Gesamtintelligenz entsprechen einer mittleren Intelligenzminderung mit einem mentalen Alter von 6 bis unter 9 Jahren. Er benötigt einen genauen und überschaubaren Plan für seine Handlungen. Dieser Plan muss ihm in kleinen Schritten und mit Geduld vermittelt werden, sodass er ihn verinnerlichen kann. Die Eltern haben aus familienpsychologischer Sicht keine hinreichenden Voraussetzungen, die nötige Sensibilität für die Bedürfnisse ihres Sohnes zu entwickeln und diese wahrzunehmen. Es ist ein geduldiger kommunikativer Austausch erforderlich, damit mit einem kooperativen und konsequenten Vorgehen das angestrebte Ziel erreicht werden kann. Für die Begleitung des Minderjährigen bedarf es besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten. Für die Eltern scheint die Bewältigung der Erziehungsaufgabe eine massive Überforderung darzustellen, sodass aus familienpsychologischer Sicht mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass ein Verbleib des Minderjährigen bei den Eltern eine Gefährdung seiner Entwicklungsfortschritte bedeutet.

Am 19. 11. 2013 erachteten es die Eltern nicht für erforderlich, den Aufenthaltsort ihres Sohnes nach dessen missglückter Fahrt nach S***** mit öffentlichen Verkehrsmitteln herauszufinden. Der Polizei gelang es nur schwer, sie zur Mithilfe bei der Suche nach ihrem abgängigen Sohn zu motivieren.

Am 30. 1. 2014 wurde vor dem Erstgericht im Einverständnis der Eltern die Vereinbarung getroffen, dass die Obsorge für ihren Sohn „in allen Teilbereichen“ an den Jugendwohlfahrtsträger übertragen wird. Gleichzeitig erfolgte eine Regelung bezüglich der persönlichen Kontakte zwischen den Eltern und dem Minderjährigen.

Mit Schriftsatz vom 12. 2. 2014 erklärten die Eltern, ihre Zustimmung zur Obsorgeübertragung an den Jugendwohlfahrtsträger zurückzuziehen. Sie hätten die Tragweite der Vereinbarung nicht im vollen Umfang abschätzen können. Die Vereinbarung gefährde jedenfalls das Kindeswohl. Über Erörterung gaben sie in der Folge an, dass ihr Schreiben als Antrag auf Rückübertragung der Obsorge an sie zu werten sei. Die Eltern hielten diesen Antrag auch nach Einschreiten ihres Rechtsvertreters aufrecht.

Nach Befragung des Minderjährigen, der zum Ausdruck brachte, dass er keine Veränderungen in seinem Lebensumfeld wünsche und weiterhin bei seiner Pflegefamilie untergebracht sein möchte, wies das Erstgericht den Antrag der Eltern, „ihnen die Obsorge in allen Teilbereichen“ hinsichtlich ihres Sohnes „in Hinkunft zukommen zu lassen“, ab. Aus dem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe sich eindeutig, dass die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl ihres Sohnes gefährdeten. Diese Schlussfolgerungen deckten sich auch mit dem Polizeibericht, wonach es die Eltern am 19. 11. 2013 nicht für erforderlich erachteten, den Aufenthaltsort des Minderjährigen nach seiner missglückten Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln herauszufinden. Der Verbleib in der Pflegefamilie entspreche auch dem Wunsch des Minderjährigen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Eltern nicht Folge. Rechtlich schloss es sich der Begründung des Erstgerichts an und führte ergänzend aus, mit einem Antrag auf Rückübertragung der Obsorge könnten die Eltern nur dann durchdringen, wenn die Voraussetzungen für die seinerzeitige Entziehung der Obsorge weggefallen seien und anzunehmen sei, dass nunmehr keine Gefahr für das Wohl des Kindes bestehe. Hier stehe nicht fest, dass die Wiederherstellung der Obsorge der Eltern dem Kindeswohl diene.

Das Rekursgericht sprach aus, dass mangels Rechtsfragen im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Der vom Jugendwohlfahrtsträger nach Freistellung der Revisionsrekursbeantwortung nicht beantwortete Revisionsrekurs der Eltern ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Er ist im Sinn des primär gestellten Aufhebungsantrags im Ergebnis auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Die unterlassene Einvernahme (nicht näher genannter) Lehrer oder Betreuer des Minderjährigen wurde im Rekurs nicht gerügt. Ein in zweiter Instanz nicht relevierter Verfahrensmangel kann aber auch im Verfahren außer Streitsachen in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden (vgl RIS‑Justiz RS0043111 [T18, T22, T26]). Zudem zeigen die Eltern nicht auf, inwiefern der behauptete Verfahrensmangel geeignet gewesen wäre, eine unrichtige Entscheidung herbeizuführen (vgl RIS‑Justiz RS0043027 [T13]).

Im Übrigen wurde der Minderjährige ‑ entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs ‑ über seine Wünsche vom Erstrichter befragt. Der diesbezüglich gerügte Verfahrensmangel wurde bereits vom Rekursgericht verneint und kann daher im Revisionsrekursverfahren nicht mehr aufgegriffen werden (RIS‑Justiz RS0050037). Gründe des Kindeswohls, die eine Einschränkung dieses Grundsatzes erfordern würden (vgl RIS‑Justiz RS0050037 [T8]), liegen nicht vor.

2. Die miteinander verheirateten Eltern sind kraft Gesetzes ab der Geburt mit der Obsorge für ihren Sohn betraut (§ 177 Abs 1 ABGB).

Dritte dürfen in die elterlichen Rechte nur insoweit eingreifen, als ihnen dies durch die Eltern selbst, unmittelbar aufgrund des Gesetzes oder durch eine behördliche Verfügung gestattet ist (§ 139 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013). Die Eltern können damit durch Vereinbarung die faktische Ausübung der Obsorge ganz oder teilweise übertragen, nicht aber die Obsorgerechte und ‑pflichten (7 Ob 10/13s mwN; 9 Ob 16/14i = EF‑Z 2014/128, 209 [ Beck ]; Fischer‑Czermak in Kletečka/Schauer , ABGB‑ON 1.03 § 139 Rz 2; Gitschthaler in Schwimann/Kodek , ABGB 4 § 139 Rz 6 f; § 158 Rz 6; vgl Hopf in KBB 4 § 158 ABGB Rz 1). Bei der Vereinbarung freiwilliger voller Erziehung nach § 28 iVm § 29 Steiermärkisches Kinder‑ und Jugendhilfegesetz (§ 26 iVm § 27 B‑KJHG 2013) bleiben die Eltern weiterhin Obsorgeträger ( Fischer‑Czermak aaO; ErläutRV XVI. GPStLT RV EZ 2050/1, 23; vgl RIS‑Justiz RS0127384).

3. Der Jugendwohlfahrtsträger hat die Interimskompetenz nach § 211 Abs 1 ABGB wegen Gefahr im Verzug bisher nicht in Anspruch genommen. Vielmehr beantragte er gemäß § 211 Abs 1 Satz 1 iVm § 181 Abs 2 ABGB, den Eltern die Obsorge über ihren Sohn zu entziehen und diese ihm zu übertragen.

Für eine rechtswirksame Vereinbarung der Eltern, womit sie die Obsorge über ihren Sohn „in allen Teilbereichen“ an den Jugendwohlfahrtsträger übertragen, fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Ein (vertraglicher) Verzicht auf die elterlichen Rechte ‑ wie hier die Obsorge ‑ ist nicht möglich. Das Gesetz kennt keinen einseitigen Verzicht auf die Elternrechte und die damit verbundenen Pflichten (RIS‑Justiz RS0006513 [T1, T2]; Gitschthaler aaO § 158 ABGB Rz 6; Hopf aaO; Beck , Verzicht auf Obsorge?, EF‑Z 2012/6, 22 ff; Stefula/Thunhart , Die Ausübung der elterlichen Obsorge durch Dritte, iFamZ 2009, 70 [70 f; 76 f]).

Die Eltern des Minderjährigen sind verheiratet und leben in aufrechter Lebensgemeinschaft, wenn auch nicht gemeinsam mit ihrem Sohn. Mit der am 30. 1. 2014 vor dem Erstgericht getroffenen (schriftlichen) Vereinbarung konnten sie nicht die ihnen kraft Gesetzes zustehende Obsorge auf den Jugendwohlfahrtsträger übertragen. Vielmehr könnten die Eltern nur die Wahrnehmung der Obsorgeaufgaben, insbesondere Pflege und Erziehung, dem Jugendwohlfahrtsträger als Dritten übertragen. Selbst wenn dies mit dieser gerichtlichen Vereinbarung bezweckt worden sein sollte, könnten sie jederzeit ihr Kind zurückfordern (3 Ob 165/11b = EF‑Z 2012/67, 115 [ Jaksch‑Ratajczak ]; Fischer‑Czermak aaO § 139 Rz 3) und die Ausübung der Obsorge jederzeit wieder an sich ziehen ( Stefula/Thunhart aaO 77 mwN).

4.1. Nachdem die Eltern nach wie vor obsorgeberechtigt sind, ist ein Antrag auf Rückübertragung der Obsorge nicht zielführend und geht, weil auf die Wiederherstellung eines bereits bestehenden Zustands gerichtet, ins Leere. Seinem Inhalt nach ist das Rechtsschutzbegehren der Eltern als Gegenantrag zum Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf Übertragung der Obsorge zu werten. Über dessen Antrag, den Eltern die Obsorge über ihren Sohn zu entziehen und diese ihm zu übertragen, haben die Vorinstanzen (noch) nicht entschieden.

4.2. Die Beschlüsse der Vorinstanzen über das inhaltlich als Gegenantrag zum Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers anzusehende Rechtsschutzbegehren der Eltern sind daher ersatzlos aufzuheben und dem Erstgericht ist die Entscheidung über den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf Übertragung der Obsorge aufzutragen. Auf die Möglichkeit, dass der Jugendwohlfahrtsträger wegen Gefahr im Verzug bei Bedarf die Interimskompetenz nach § 211 Abs 1 ABGB in Anspruch nehmen kann, wird hingewiesen.

4.3. § 107 Abs 5 AußStrG schließt einen Kostenersatz in Verfahren über die Obsorge und die persönlichen Kontakte aus. Den Eltern steht daher kein Kostenersatzanspruch zu (3 Ob 238/14t; vgl 1 Ob 98/14i; 6 Ob 118/13s).

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