OGH 7Ob167/97b

OGH7Ob167/97b4.6.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D***** Versicherungs-AG, ***** vertreten durch Dr.Reinhard Pitschmann und Dr.Rainer Santner, Rechtsanwälte in Feldkirch, wider die beklagte Partei Nurettin K*****, vertreten durch Dr.Anton Tschann, Rechtsanwalt in Bludenz, wegen S 100.000,-- infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Berufungsgericht vom 4.Februar 1997, GZ 2 R 23/97s-25, mit dem das Urteil des Bezirksgerichtes Bludenz vom 4.November 1996, GZ 2 C 1061/95g-19, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Die Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 6.086,40 (darin S 1.014,40 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Am 23..1994 überquerte Ernest K***** zu Fuß den O*****weg in R*****, als der Beklagte mit dem von Mustafa K***** gehaltenen und mit dessen Zustimmung gelenkten PKW in diese Straße einbog und ihn niederstieß. Ernest K***** erlitt eine Prellung des linken Außenknöchels und einen Riß des medialen Knieseitenbandes. Nach dem Unfall stieg der Beklagte aus dem Fahrzeug aus und erkundigte sich bei Ernest K*****, ob ihm etwas passiert sei und er Schmerzen habe. Als dieser keine entsprechende Antwort gab, verließ der Beklagte schließlich die Unfallstelle, ohne sich um Ernest K***** zu kümmern.

Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Feldkirch vom 11.10.1994 wurde der Beklagte schuldig erkannt, das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB und das Vergehen des Im-Stichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs 1 StGB begangen zu haben. Es wurde ihm unter anderem zur Last gelegt, daß er die Unfallstelle verlassen habe, ohne dem Verletzten die erforderliche Hilfe zu leisten bzw über dessen Hilfsbedürftigkeit sich ausreichend zu überzeugen. Die Klägerin hat aus diesem Unfall dem Geschädigten mehr als S 150.000,-- an Zahlungen erbracht.

Die klagende Partei begehrt vom Beklagten die Bezahlung von S 100.000,-- und behauptet, daß es der Beklagte nach dem Unfall unterlassen habe, dem Verletzten Hilfe zu leisten oder für fremde Hilfe zu sorgen. Die klagende Partei sei bis zu einem Betrag von S 100.000,-- leistungsfrei.

Der Beklagte beantragte die Klagsabweisung und wendete ein, daß er nicht Versicherungsnehmer der klagenden Partei sei und eine allfällige Obliegenheitsverletzung sich nur im Verhältnis der klagenden Partei zu Mustafa K***** auswirken könne. Im übrigen habe der Beklagte nach dem Unfall sein Fahrzeug angehalten und sich erkundigt, ob Ernest K***** Hilfe benötige und verletzt sei. Dieser habe einen Verletzung verneint und ihn aufgefordert, zu verschwinden und ihn in Ruhe zu lassen. Der Beklagte habe aufgrund des Verhaltens des Ernest K***** nicht schließen können, daß dieser verletzt sei. Im übrigen habe sich dieser rechtzeitig ärztlich versorgt, sodaß durch eine allfällige unterlassene Unfallmeldung kein weiterer Schade entstanden sei. Außerdem sei § 6 Abs 3 nF VersVG anzuwenden. Eine allfällige Obliegenheitsverletzung habe weder auf den Schadenseintritt noch auf den Umfang oder die Feststellung des Schadens einen Einfluß gehabt.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Rechtlich vertrat es die Ansicht, daß die klagende Partei auch gegen den mitversicherten berechtigten Fahrzeuglenker Regreß im Sinne des § 158 f VersVG nehmen könne. Auf den gegenständlichen Unfall sei § 6 Abs 3 idF vor der am 1.1.1995 in Kraft getretenen Novelle zum VersVG, BGBl 509/1994 anzuwenden. Dies bedeute, daß die klagende Partei lediglich die vorsätzliche Verletzung einer Obliegenheit nachzuweisen habe. Davon sei im Hinblick auf die strafrechtliche Verurteilung auszugehen. Der Kausalitätsgegenbeweis sei nicht zulässig. Dies führe zum Ergebnis, daß das Verhalten des Beklagten nach § 6 Abs 3 VersVG aF iVm § 8 Abs 1 AKHB die Freiheit der klagenden Partei von der Verpflichtung zur Leistung bewirkt habe und ein Regreßanspruch zulässig sei.

Das Berufungsgericht bestätigte mit der angefochtenen Entscheidung dieses Urteil. Es erklärte die Erhebung der ordentlichen Revision für zulässig. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen. Die vom Erstgericht getroffene Feststellung, wonach der Beklagte die Unfallsstelle verlassen habe, "ohne sich um den Zeugen Ernest K***** zu kümmern", könne nur einschränkend dahin verstanden werden, daß er sich zwar bei Ernest K***** erkundigt habe, ob etwas passiert sei und ob dieser Schmerzen habe, daß er sich aber nicht "weiter" um den Zeugen K***** gekümmert habe. Die zweite Instanz stimmte der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes zu. Der Oberste Gerichtshof habe zwar zunächst mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß die am 1.1.1995 in Kraft getretene VersVG-Novelle BGBl 509/194 auch auf Sachverhalte anzuwenden sei, die vor Inkrafttreten dieser Novelle verwirklicht worden seien (7 Ob 4/95 = VR 1995/375, 7 Ob 35/95 in ecolex 1996, 246), sei aber von dieser Rechtsansicht wieder abgegangen und habe zum Ausdruck gebracht, daß die Neufassung des § 6 Abs 3 VersVG iSd BGBl 509/1994 nur dann anzuwenden sei, wenn sich der Versicherungsfall nach dem 1.1.1995 ereignet habe (7 Ob 43/95 in VR 1995/413, S 141). Da der gegenständliche Unfall sich vor dem 1.1.1995 ereignet habe, komme § 6 Abs 3 VersVG aF zur Anwendung. Demnach sei bei einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung der Kausalitätsgegenbeweis unzulässig. Zur Erfüllung der Obliegenheit des Art 8 Abs 1 Z 1 AKHB 1988 (Hilfeleistungspflicht) sei gemäß § 78 VersVG iVm Art 1 Abs 2 AKHB 1988 auch der mitversicherte Lenker verpflichtet. Obliegenheitsverletzungen des Mitversicherten führten ihm gegenüber zur Leistungsfreiheit des Versicherers. Eine entsprechende Hilfeleistung im Sinne des § 8 Abs 1 Z 1 AKHB 1988 setze aber voraus, daß sich der Verursacher eines Verkehrsunfalles darüber vergewissere, ob ein Personenschaden eingetreten ist und ob der Verletzte seiner Hilfe bedarf. Vorsatz fehle demnach nicht schon bei Zweifeln oder Glauben, daß es zu keiner Verletzung gekommen sei. Die Obliegenheit verlange vielmehr die positive Überzeugung vom Fehlen eines Personenschadens. Daß diese Überzeugung nicht vorsätzlich unterlassen wurde, müsse der Versicherungsnehmer beweisen. Wer eine sichere Prüfung unterlasse, handle in der Regel zumindest mit bedingtem Vorsatz. Demnach hätte der Beklagte erst bei Gewißheit, daß K***** nicht verletzt worden ist und keiner Hilfe bedarf, die Unfallstelle verlassen dürfen.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung vom Beklagten erhobene Revision erweist sich als unzulässig.

In ihr wird allein die Anwendbarkeit des § 6 Abs 3 idF der VersVG-Novelle BGBl 509/1994 auf den vorliegenden Sachverhalt releviert. Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, daß der erkennende Senat zwar ursprünglich eher der Auffassung zuneigte, daß die novellierte Fassung des § 6 Abs 3 VersVG auch auf Versicherungsfälle vor dem 31.12.1994 anzuwenden sei (vgl. VR 1995/375, ecolex 1996, 246). In der Folge hat jedoch der Senat stets die Auffassung vertreten, daß die Neufassung des § 6 Abs 3 VersVG iSd BGBl 509/1994 nur dann anzuwenden ist, wenn sich der Versicherungsfall nach dem 1.1.1995 ereignet hat. Dies wurde damit begründet, daß die Rückwirkung von Gesetzen, dh deren Anwendung auf Sachverhalte, die vor ihrem Inkrafttreten verwirklicht worden sind, grundsätzlich durch § 5 ABGB verwehrt wird. Zwar kann diese Regel durch eine Rückwirkungsanordnung (als lex specialis) durchbrochen werden (vgl. Bydlinski in Rummel ABGB2 § 5 Rz 2); im Zweifel ist dies allerdings nicht anzunehmen (vgl Koziol-Welser, Grundriß I10, 33). Den Übergangsbestimmungen der VersVG-Novelle BGBl 1994/509 (= § 191b VersVG) kann die Anordnung einer Rückwirkung nicht entnommen werden (vgl 7 Ob 43/95 in VR 1995/413 sowie 7 Ob 2068/96k). Der erkennende Senat hat in den vorzitierten Entscheidungen eindeutig zum Ausdruck gebracht, die frühere Rechtsansicht nicht mehr aufrecht zu erhalten. Aus diesem Grund war die Revision zurückzuweisen. Zur Frage der vom Beklagten zu verantwortenden Obliegenheitsverletzung ist auf die zutreffende Begründung der Vorinstanzen zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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