European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00120.22F.0928.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Der Bewohner leidet an frühkindlichem Autismus, einer bipolar-affektiven Störung und an einer Intelligenzminderung. Er zeigt dadurch autoaggressives Verhalten und durchlebt manische und depressive Phasen. Er lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung und besucht tagsüber zusätzlich die Erlebniswerkstätte der Einrichtung. In manischen Episoden findet sich bei ihm ein sehr stark ausgeprägter Bewegungs- und Explorationsdrang, der ihn vermehrt dazu verleitet, die Einrichtung unbeaufsichtigt zu verlassen. In solchen Phasen kommt es aufgrund seiner plötzlich einsetzenden extremen Neugier immer wieder zu unbeaufsichtigten Ausgängen. Demgegenüber äußert sich bei ihm in depressiven Phasen ein erhöht autoaggressives Verhalten, wodurch es zu schweren (vorwiegend Selbst-)Verletzungen kommen kann.
[2] Derzeit besteht in der Einrichtung ein Türsicherungssystem, welches die Türen grundsätzlich verschlossen hält und den Ausgang nur für mittels Chip berechtigte Personen ermöglicht. Der Bewohner hat keinen Chip erhalten; er versteht aber diesen Mechanismus; es gelingt ihm – vor allem in seinen manischen Phasen – immer wieder unbemerkt aus der Einrichtung hinauszugehen, wobei er in der Vergangenheit zum Teil auch schon weite Strecken zurückgelegt hat. Meistens wird sein Fehlen von den Betreuern schnell bemerkt und er kann sicher wieder zurück in die Einrichtung begleitet werden. Es ist aber im Zuge eines seiner Ausgänge auch schon zu einem Autounfall und einer daraus resultierenden Beinverletzung gekommen. Aufgrund der geistigen Behinderung ist es dem Bewohner nicht möglich, Gefahrenmomente für sich selbst und andere zu erkennen. Seine mentale Einschränkung führt zu einer eingeschränkten Entfernungs- und Geschwindigkeitswahrnehmung und damit auch zu Fluchtreaktionen, wie etwa bei der Begegnung mit Hunden.
[3] Die von außen verschlossenen Gruppentüren sind geeignet, den Eindruck von „geschlossenen Bereichen“ zu erwecken. Im Gegensatz zum vorhandenen Chipsystem gibt es mittlerweile zahlreiche, als „state-of-the-art“ geltende Systeme für heilpädagogische Einrichtungen mit basaler Ausrichtung, die geeignet sind, ausgangsberechtigten Bewohnern ein ungehindertes Verlassen der Einrichtung zu ermöglichen und gleichzeitig ein unkontrolliertes Aus- und Eingehen freiheitsbeschränkter Bewohner zu verhindern. Dementsprechend ist etwa ein Gesichtserkennungssystem zum Öffnen der Gruppentüren ein solches barrierefreies und sicheres System. Praktikable Lösungen sind auch verschiedene biometrische Sensorsysteme, wie etwa ein Fingerabdrucksensor, sogenannte „Smart Soles“ oder in die Kleidung der Bewohner eingenähte Sensorchips. Da sie unauffällig sind, lösen sie viel unwahrscheinlicher ein beengtes Gefühl beim Bewohner aus. Ein gewisses Restrisiko für das unbeaufsichtigte Verlassen freiheitsbeschränkter Klienten besteht auch bei der Anwendung von diesen modernen Systemen. Auch das grundsätzliche Offenlassen der Gruppentüren wäre denkbar, wennder stark ausgeprägte Bewegungs- und Explorationsdrang des Bewohners durch eine andere Ausgestaltung der Gruppenräume umgelenkt und gemindert wird.
[4] Der Verein beantragte die Überprüfung der am Bewohner vorgenommenen Freiheitsbeschränkung durch Versperrung des Gruppenraums der Erlebniswerkstätte der Einrichtung. Das benutzte Chipsystem sei zur Abwehr der Gefahr ungeeignet; es gebe schonendere und gleichzeitig effektivere Maßnahmen.
[5] DerEinrichtungsleiterhielt dem entgegen, dass die Freiheitsbeschränkung aufgrund der Gefährdungssituation des Bewohners erforderlich und zur Zeit mangels besserer Alternativen unerlässlich sei.
[6] Das Erstgericht erklärtedie Freiheitsbeschränkung für unzulässig, weil sie keine geeignete Maßnahme zur Gefahrenabwehr darstelle und schonendere Mittel zur Verfügung stehen würden.
[7] Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Die Freiheitsbeschränkung sei schon deshalb unzulässig, weil der Bewohner sie nach den Feststellungen überwinden könne und sie damit zur Gefahrenabwehr nicht geeignet sei. Ob es gelindere Mittel gebe, könne daher dahingestellt bleiben. Den Antrag des Einrichtungsleiters auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wies es zurück.
[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[9] Der Verein begehrt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs nicht zuzulassen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
[10] Weitere Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist aber nicht berechtigt.
[12] 1. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 71 Abs 3 Satz 3 AußStrG).
[13] 2. Zu der im Revisionsrekurs aufgeworfenen Frage, ob ein Beschluss über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung eines angemeldeten Rekurses später nachgeholt werden kann, trifft das Gesetz selbst eine klare, das heißt eindeutige Regelung (RS0042656). § 15 HeimAufG regelt das Verfahren zur Fassung des Beschlusses über die Zulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung. Gemäß § 15 Abs 3 HeimAufG kann das Gericht im Fall der Rekurserhebung durch den Leiter der Einrichtung dem Rekurs sogleich aufschiebende Wirkung zuerkennen. Unmittelbar nach Einlangen des Rekurses hat gemäß § 16 Abs 2 HeimAufG das Gericht erster Instanz zu entscheiden, ob die dem Rekurs nach § 15 Abs 3 HeimAufG zuerkannte aufschiebende Wirkung weiter besteht. Eine nachträgliche Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ist nach der eindeutigen gesetzlichen Formulierung nicht vorgesehen. Das Rekursgericht hat den Antrag des Einrichtungsleisters, dem Rekurs aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, daher ohne Korrekturbedarf zurückgewiesen.
[14] 3. Dass hier eine Freiheitsbeschränkung nach § 3 HeimAufG gegeben ist, weil es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871), ist unbestritten.
[15] 4. § 4 HeimAufG normiert, dass eine Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden darf, wenn
1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet,
2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist, sowie
3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- und Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann.
[16] 4.1. Eine Maßnahme ist dann geeignet, wenn sie nach ihrer Funktionsweise tauglich ist, die bestehende Gefahr abzuwenden (vgl Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 4 HeimAufG Rz 24). Gefahren sind zu minimieren und Risiken zu begrenzen, aber ein völliger Risikoausschluss ist nicht möglich und auch rechtlich weder gefordert noch zulässig (vgl Zierl/Wall/Zeinhofer, Heimrecht I3 114 f). Dass der Bewohner hier den bestehenden Chipmechanismus „immer wieder“ durchbrochen hat, führt für sich alleine noch nicht dazu, dass die Maßnahme als solche nicht geeignet wäre, kann man doch nicht alle Menschen unter allen Umständen von allen Gefahren fernhalten.
[17] 4.2. Nach § 4 Z 3 HeimAufG darf eine Freiheitsbeschränkung aber weiters nur vorgenommen werden, wenn die in § 4 Z 1 HeimAufG näher umschriebene Selbst- und/oder Fremdgefährdung nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann (Subsidiaritätsklausel). Die Gefährdung darf also nicht durch andere (pflegerische) Maßnahmen, die nicht (oder weniger) in die Freiheitsrechte des Bewohners eingreifen, abgewendet werden können (7 Ob 134/14b; 7 Ob 67/19g; HöllwerthaaO Rz 26). Die angeordnete Freiheitsbeschränkung muss sowohl das gelindeste Mittel als auch die „ultima ratio“ sein (ErläutRV 353 BlgNR 22. GP 11). Die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit hat sich streng an den konkreten Bedürfnissen der Person, dessen subjektiven Empfinden sowie deren Wohl zu orientieren (Bürger/Halmich HeimAufG2 § 4 Rz 18). Der Einrichtungsträger hat sich an üblichen internationalen Standards und zeitgemäßen Pflegeschlüsseln zu orientieren (vgl Zierl/Wall/Zeinhofer aaO 113; HöllwerthaaO Rz 26).
[18] 4.3. Hier steht zusammengefasst fest, dass es (verschiedene) Maßnahmen gibt, die den für den konkreten Bewohner offensichtlich besonders belastenden Eindruck der verschlossenen Türen vermeiden; eine Umgestaltung der Gruppenräume im aufgezeigten Sinn würde – wie sich zusammengefasst aus den erstgerichtlichen Feststellungen ergibt – dem Bewohner das Verlassen des Gruppenraums ermöglichen und ihn damit im Ergebnis in seiner Bewegungsfreiheit weniger einschränken. Soweit der Revisionsrekurs moniert, die aufgezeigten Mittel würden nicht zeitgemäßen Pflegestandards entsprechen, entfernt er sich von den erstgerichtlichen Feststellungen, wonach die Systeme den modernen heilpädagogischen Standards besser entsprechen („state of the art“).
[19] 4.4. Die hier gewählte Methode der Freiheitsbeschränkung des Bewohners ist daher im konkreten Einzelfall nicht das schonendste Mittel iSd § 4 Z 3 HeimAufG. Damit liegen die Voraussetzungen für die Freiheitsbeschränkung nicht vor und der erstgerichtliche Beschluss war im Ergebnis zu bestätigen.
[20] 5. Der Revisionsrekurs ist daher nicht berechtigt.
[21] 6. Der Verein hat die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen, weil im Verfahren nach dem HeimAufG keine Kostenersatzpflicht besteht (RS0127366).
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