OGH 7Ob107/21t

OGH7Ob107/21t23.6.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des minderjährigen Bewohners M* H*, geboren * 2007, *, vertreten durch den Verein Vertretungsnetz‑Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 8010 Graz, Grazbachgasse 39 (Bewohnervertreterin S* K*), vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, in Obsorge des Landes Steiermark als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Südsteiermark, 8330 Feldbach, Bismarckstraße 11–13), Einrichtungsleiterin U* K*, vertreten durch Dr. Johannes Dörner und Dr. Alexander Singer, Rechtsanwälte in Graz, wegen freiheitsbeschränkender Maßnahmen, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 15. April 2021, GZ 1 R 83/21i‑13, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 16. März 2021, GZ 229 Ha 1/21m‑5, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132102

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Mit Beschluss des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 3. 7. 2020, AZ 234 Ha 1/20x, wurde am Bewohner die Verabreichung der Einzelfallmedikation Zyprexa VT 10 mg (1x1 bis maximal 2x1 täglich bei akuter innerer Anspannung/Unruhe) und der Dauermedikation Risperdal 1 mg (1/2‑1‑1) für die Dauer von sechs Monaten für zulässig erklärt.

[2] Am 4. 3. 2021 beantragte der Verein neuerlich, die am Bewohner vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen durch die Einzelfallmedikation Zyprexa VT 10 mg (1x1 bis maximal 2x1 täglich bei akuter innerer Anspannung/Unruhe) und durch die Dauermedikation Risperdal 1 mg (1/2‑1‑1) für unzulässig zu erklären. Im Vorverfahren sei die Medikation bis 3. 1. 2021 für zulässig erachtet worden. Obwohl die Medikamente dem Bewohner über diesen Zeitpunkt hinaus verabreicht worden seien, sei keine Verlängerungsmeldung erfolgt. Die Einrichtungsleiterin stehe nunmehr auf dem unrichtigen Standpunkt, die Einrichtung falle nicht unter das HeimAufG.

[3] Die Einrichtungsleiterin beantragte die Abweisung des Antrags. Bei der Einrichtung handle es sich um keine nach dem HeimAufG, weil weder die rechtlichen noch die personellen Möglichkeiten bestünden, minderjährige Bewohner mit psychischen Krankheiten oder geistigen Behinderungen zu betreuen oder zu pflegen. Beim Bewohnerbestehe auch keine psychische Krankheit oder geistige Behinderung; es würden in der Einrichtung auch sonst keine Bewohner mit schweren medizinisch diagnostizierten Störungsbildern betreut werden. Es seien keine freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gesetzt worden.

[4] Das Erstgericht erklärte die Freiheitsbeschränkungen durch die genannten Medikationen für unzulässig. Bei der Einrichtung handle es sich um eine solche nach § 2 HeimAufG. Nach Ablauf der Zulässigkeitsfrist und sofern die medikamentösen Freiheitsbeschränkungen beim Bewohner noch angewendet würden, hätte eine Verlängerungsmeldung vorgenommen werden müssen.

[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Einrichtungsleiterin Folge und wies den Antrag zurück. Das HeimAufG ziele tendenziell eher auf spezifische Einrichtungen zur Pflege und Betreuung psychisch/kognitiv beeinträchtigter Menschen ab und nicht auf Einrichtungen, die primär auf die Aufnahme geistig „gesunder“ Menschen ausgerichtet seien und – nur im Rahmen der gesellschaftlich erwünschten und auch von der Behindertenrechtskonvention geforderten Inklusion – Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen mitbetreuen würden. Nach der Steiermärkischen Kinder‑ und Jugendhilfegesetz‑Durchführungsverordnung (StKJHG‑DVO), die Grundlage des Rahmenvertrags zwischen dem Land Steiermark und der Einrichtung sei, dürften Kinder und Jugendliche, die aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung spezielle Förderung und Betreuung sowie bauliche Spezialeinrichtungen benötigten, nicht aufgenommen werden. Die Einrichtung sei daher schon rechtlich nicht in der Lage, psychisch Kranke oder geistig behinderte Menschen ständig zu betreuen, sodass diese Einrichtung nicht in den Anwendungsbereich des HeimAufG im Sinn der Generalklausel des § 2 Abs 1 HeimAufG falle.

[6] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil das maßgebliche Abgrenzungskriterium nach § 2 Abs 1 HeimAufG bislang nicht Gegenstand höchstgerichtlicher Entscheidungen gewesen sei.

[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit dem Antrag, die Einzelfall‑ und Dauermedikation für unzulässig zu erklären; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Einrichtungsleiterin begehrt, den Revisionsrekurs als verspätet zurückzuweisen; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

[9] Der Revisionsrekurs ist – entgegen der Ansicht der Einrichtungsleiterin – schon deshalb rechtzeitig, weil der Gesetzgeber des HeimAufG die grundsätzlich zulässige 14‑tägige Rechtsmittelfrist ausschließlich für bestimmte Rechtsmittel der Einrichtungsleiter (§ 16 Abs 2 und 3 HeimAufG) verkürzte. Die Frist für die Erhebung des Revisionsrekurses beträgt für den Bewohner, dessen Vertreter und dessen Vertrauensperson 14 Tage (vgl Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth Kommentar zum AußStrG II [2017] HeimAufG § 17a Rz 6).

[10] § 16 HeimAufG enthält Sonderregeln für den Rekurs, soweit er sich gegen bestimmte erstgerichtliche Beschlüsse richtet und die Rekurslegitimation, die Rekurs‑und Rekursbeantwortungsfrist sowie die Einseitig‑ bzw Zweiseitigkeit des Rekurses betrifft. Die Bestimmung bezieht sich abschließend auf Rekurse gegen Beschlüsse, mit denen eine Freiheitsbeschränkung für zulässig (Abs 1) oder für unzulässig (Abs 2) erklärt wird (7 Ob 174/19t mwN). Im vorliegenden Fall wies das Rekursgericht den Antrag des Vereins mit der Begründung, dass die Einrichtung nicht in den Anwendungsbereich des HeimAufG falle, zurück (richtig: ab: vgl 7 Ob 194/12y, 7 Ob 1/14v [Bestätigung der Abweisung durch das Rekursgericht]). Im Fall einer solchen Antragsabweisung richten sich die Rechtsmittelbefugnisse nicht unmittelbar nach § 16 HeimAufG, sondern gemäß § 11 Abs 3 HeimAufG nach den allgemeinen Grundsätzen des Außerstreitverfahrens (Höllwerth aaO § 16 Rz 3). Die Revisionsrekursbeantwortung der Einrichtungsleiterin ist damit gemäß § 68 AußStrG zulässig. Zwar besteht Rechtsprechung, dass der Einrichtungsleiter unabhängig davon kein Rekursbeantwortungsrecht hat, ob mit dem Rekurs die Zulässigerklärung einer Freiheitsentziehung oder die Abweisung eines Überprüfungsantrags bekämpft wurde. Grund dafür ist, dass in diesem Fall beide Formulierungen sinngemäß dasselbe bedeuten, nämlich die Bejahung der Zulässigkeit der getroffenen Maßnahme, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen (vgl RS0121226). Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch auf den mit dem vorliegenden nicht vergleichbaren Fall der Abweisung des Überprüfungsantrags mit der Begründung, dass die zu prüfende Maßnahme keine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 HeimAufG darstellt.

[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] 1.1 Mit § 2 Abs 2 HeimAufG idF des 2. Erwachsenenschutz‑Gesetzes, BGBl I 2017/59 (2. ErwSchG), ist die Ausnahme des Anwendungsbereichs des Heimaufenthaltsgesetzes auf Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger weggefallen. Dadurch sind nunmehr alle Einrichtungen, auch jene, die unter der Aufsicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers stehen, vom HeimAufG umfasst, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 HeimAufG erfüllen. Nach den Materialien (222/ME 25. GP , 78) fallen darunter sowohl Einrichtungen der Länder, als auch private Kinder‑ und Jugendhilfeeinrichtungen, etwa Landesjugendheime, Heime privater Träger, sonder‑, heil‑ und sozialpädagogische Wohngemeinschaften, SOS‑Kinderdörfer und Sonderschulen (7 Ob 80/19v).

[13] 1.2 Bei diesen Einrichtungen kommt es nach der Generalklausel des § 2 Abs 1 HeimAufG darauf an, dass wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige in der Einrichtung ständig betreut oder gepflegt werden können. Ausschlaggebend ist dabei nicht, dass drei oder mehrere Minderjährige mit einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung dort aufgenommen sind, sondern einzig, ob die strukturelle Möglichkeit besteht, diese in den Einrichtungen aufnehmen und betreuen zu können (Bürger/Halmich, HeimAufG2 31; Höllwerth aaO HeimaufG § 2 Rz 15 f; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2 83 f; Bürger/Herdega in Neumayr/Resch/Wallner GmundKomm § 2 HeimAufG Rz 2 f; Rass‑Schell/Obererlacher, Die Kinder‑ und Jugendhilfe und das Heimaufenthaltsgesetz [iFamZ 2020, 210]; Ganner, Freiheitsbeschränkungen in Kinder‑ und Jugendhilfeinstitutionen, ÖZPR 2018/90; ders, Die neue Kontrolle von Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger, Schutz der persönlichen Freiheit von Minderjährigen [iFamZ 2017/194], Sengschmied/Niedermoser/Jaquemar, Wirksamer Rechtsschutz durch die Bewohnervertretung für Kinder und Jugendliche [iFamZ 2020/184]).

[14] 1.3 Mit dem Auffangtatbestand werden demnach jene Einrichtungen erfasst, in denen aufgrund der dort vorhandenen strukturellen (pflegerischen bzw pädagogischen) Bedingungen und der daraus für die betreuten und gepflegten Personen resultierenden „Lebenswelt“ heimähnliche Bedingungen vorliegen (Bürger/Halmich aaO 31). Dabei ist nicht die Bezeichnung der Einrichtung, sondern die beschriebene Struktur entscheidend (Höllwerth aaO § 2 Rz 16).

[15] 1.4 Ob diese Voraussetzungen hier vorliegen, lässt sich weder anhand der vom Erstgericht getroffenen „Feststellung“, der Minderjährige lebe in einer Einrichtung iSd § 2 HeimAufG, noch anhand des – erstmals im Rekursverfahren vorgelegten – Rahmenvertrags zwischen dem Land Steiermark und der Einrichtung über den Leistungsumfang beurteilen. Tatsächlich ist aufgrund des Fehlens jeglicher Feststellungen derzeit keine Stellungnahme möglich.

[16] Vielmehr hat das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren Feststellungen zu treffen, die die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 HeimAufG erlauben, wie etwa zu dem im Vertrag zwischen dem Land Steiermark und der Einrichtung vereinbarten Leistungsumfang, zur internen Organisationsstruktur der Einrichtung und der einzelnen Gruppen (bspw Art, Größe, Anzahl und Zusammensetzung der Bewohnergruppen [wie Kinder‑ und Jugendwohngruppen, sozialpädagogische Wohngemeinschaften, familienähnliche Wohngemeinschaften, etc], zu den in der Einrichtung versorgten Bewohnern [wie Kinder, Jugendliche, Bewohner mit besonderen Bedürfnissen], fachliche Qualifikationen des Personals), zu den von der Einrichtung erbrachten Leistungen (Art und Fachzugehörigkeit [medizinische, sozialpädagogische etc], Betreuungs‑ und Pflegetätigkeiten, Konsiliardienste, üblicher Vorgang der Medikation [Anordnung und Verabreichung durch wen], zur besonderen Betreuung zur Verfügung stehende Räumlichkeiten) und – allenfalls unter Beiziehung eines Sachverständigen –, ob die dann festgestellte Struktur die Möglichkeit bietet, psychisch Kranke oder geistig behinderte Minderjährige aufzunehmen.

[17] Sollte sich danach ergeben, dass eine Überprüfung der behaupteten Freiheitsbeschränkungen nach dem HeimAufG zu erfolgen hat, werden auch Feststellungen zu treffen sein, die die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Freiheitsbeschränkung zulassen. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RS0121227). Die Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung nicht nur Feststellungen darüber, ob das Medikament zum Einsatz kam, sondern auch, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination, dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875). Weiters wird im Sinn von 7 Ob 80/19v zu klären sein, wer die Medikation verordnet und verabreicht hat.

[18] 2. Vor diesem Hintergrund war die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung unumgänglich.

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