OGH 6Ob79/22v

OGH6Ob79/22v17.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein für Konsumenteninformation, 1060 Wien, Linke Wienzeile 18, vertreten durch Kosesnik-Wehrle & Langer Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei R* GmbH, *,vertreten durch BICHLER ZRZAVY Rechtsanwälte GmbH & Co KGin Wien, wegen Unterlassung und Urteilsveröffentlichung, über die Revision der beklagten Partei gegen dasUrteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 18. Februar 2022, GZ 5 R 174/21a‑13, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 20. Oktober 2021, GZ 58 Cg 60/21p‑8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00079.22V.0217.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.197,80 EUR (darin 366,30 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger ist ein klageberechtigter Verband nach § 29 KSchG. Die Beklagte vermittelt und veranstaltet gewerbsmäßig Reisen und bietet ihre Leistungen im gesamten österreichischen Bundesgebiet an, und zwar teils über Reisebüros und teils im Fernabsatz. In ihrer geschäftlichen Tätigkeit tritt sie laufend mit Verbrauchern iSd § 1 KSchG in rechtsgeschäftlichen Kontakt und schließt mit diesen Verträge. Im Zuge dessen verwendete sie im Jahr 2021 in ihren Reiseausschreibungen sowie Bestellscheinen für Pauschalreisen folgenden vorformulierten Text:

„Stornierungen aufgrund von zukünftigen 'coronabedingten' Reisebeschränkungen führen nicht mehr zu einem unentgeltlichen Rücktrittsrecht des Reisenden, da mittlerweile jedermann die Auswirkungen der COVID‑19 bedingten Einschränkungen hinsichtlich der Reisefreiheit bekannt sein müssen. Das Rücktrittsrecht kommt nur bei unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umständen zum Tragen, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht bekannt gewesen sind. Sofern solche Umstände bereits bei der Buchung bekannt waren und sich in der Folge auch nicht wesentlich verschlechtert haben, kann ein kostenloser Reiserücktritt jedenfalls nicht gewährt werden.“

[2] Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren, der Beklagten im geschäftlichen Verkehr mit Verbrauchern zu untersagen, in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern diese Klausel zu verwenden oder sich darauf zu berufen, sowie die Veröffentlichung des klagestattgebenden Urteils in einer bundesweit erscheinenden Samstagsausgabe der „Kronen-Zeitung“, statt.

[3] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil zum Rücktrittsrecht nach § 10 Abs 2 PRG und zu Reisestornierungen als Folge der Covid‑19-Pandemie keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.

[4] Rechtlich bejahte es das Vorliegen einer § 28 Abs 1 KSchG unterliegenden Vertragsbedingung. Satz 1 der Klausel sei bei kundenfeindlichster Auslegung dahin zu verstehen, dass „Stornierungen aufgrund von zukünftigen 'coronabedingten' Reisebeschränkungen“ in keinem Fall mehr zu einem unentgeltlichen Rücktrittsrecht des Reisenden führten und das Rücktrittsrecht laut Satz 2 nur bei anderen „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umständen, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht bekannt gewesen sind“, zum Tragen komme. Auch Satz 3 beziehe sich nur auf Satz 2 und stelle keine Verknüpfung zu Satz 1 her. Der pauschale Ausschluss eines kostenlosen Rücktrittsrechts bei jedweder Form von „'coronabedingten' Reisebeschränkungen“ sei allerdings mit § 10 Abs 2 PRG unvereinbar und gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB. Darüber hinaus seien die Beschränkungen, aufgrund derer die kostenfreie Stornierung ausgeschlossen werde, nur allgemein als „Reisebeschränkungen“ und „Einschränkungen hinsichtlich der Reisefreiheit“ bezeichnet, wodurch der Beklagten ein unangemessener Beurteilungsspielraum verbleibe.

[5] Satz 2 und 3 der Klausel genügten den gesetzlichen Anforderungen weder in dem Fall, dass man darin eine eigenständige Regelung für nicht „coronabedingte“ unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände sehe, noch für den Fall, dass man sie als Einheit mit dem ersten Satz als Ausnahme für bei Vertragsabschluss noch nicht bekannte „coronabedingte“ Umstände werte.

[6] Auf die Frage, ob Art 12 Abs 2 Pauschalreise‑RL (Richtlinie [EU] 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 11. 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen) und § 10 Abs 2 PRG implizit voraussetzten, dass die Umstände bei der Buchung nicht vorhersehbar waren, oder ob diese Bestimmungen die Vereinbarung von Einschränkungen, wie sie die Beklagte vornehme, sogar ausschlössen, müsse nicht eingegangen werden, weil jedenfalls ein Verstoß gegen § 6 Abs 3 KSchG vorliege: Das folge daraus, dass die „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände“ nicht näher definiert würden. Auch aus Satz 1 und 3 ergäben sich keine Anhaltspunkte, was darunter zu verstehen sei und wie dieser Begriff mit den „coronabedingten Reisebeschränkungen“ in Bezug zu setzen sei. Die Beklagte weiche zudem vom Gesetzestext des § 10 Abs 2 PRG ab. Sie könne daher nicht argumentieren, keinen höheren Transparenzanforderungen genügen zu müssen als der Gesetzgeber. Auch nach Satz 3 bleibe undurchschaubar, welche Umstände wann einen kostenfreien Rücktritt rechtfertigten.

[7] Die Revision der Beklagten macht geltend, die Klausel sei in der Gesamtschau aller drei Sätze dahin auszulegen, dass das unentgeltliche Rücktrittsrecht in Fällen unbekannter zukünftiger „coronabedingter“ Reiseeinschränkungen nicht ausgeschlossen sei. Selbst ein völliger Ausschluss des unentgeltlichen Rücktrittsrechts bei zukünftigen coronabedingten Reiseeinschränkungen wäre jedoch nicht gröblich benachteiligend. Für das unentgeltliche Rücktrittsrecht gemäß § 10 Abs 2 PRG komme es (zwar) auf die Unvorhersehbarkeit an, coronabedingte Reiseeinschränkungen seien aber mittlerweile ihrer Art nach vorhersehbar. Entscheidend sei nicht die Vorhersehbarkeit der konkreten Entwicklung der Maßnahmen, sondern der Umstand, dass das weltweite Vorkommen des SARS-Cov-19-Erregers bekannt und daraus resultierende Reiseeinschränkungen daher vorhersehbar seien. Es bestehe auch kein unangemessener Auslegungsspielraum. Die Sätze 2 und 3 der Klausel seien nicht intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG, weil sie präziser gefasst seien als § 10 Abs 2 PRG.

[8] Die Revision der Beklagten ist zulässig, weil zu einer vergleichbaren Klausel keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliegt; sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[9] 1.1. Da der Verbandsprozess die Funktion hat, unzulässige AGB-Klauseln präventiv aus dem Rechtsverkehr zu ziehen, sind nach ständiger Rechtsprechung solche Klauseln im „kundenfeindlichsten“ Sinn auszulegen (RS0016590; 10 Ob 53/22z [ErwGr 1.2.]). Es ist – abweichend vom Individualprozess (RS0016590 [T18, T32]; 7 Ob 106/14k) – von jener Auslegungsvariante auszugehen, die für die Kunden des Unternehmers die nachteiligste ist (RS0016590 [T17]).

[10] Diesen Grundsatz hat das Berufungsgericht bei seiner Auslegung der Klausel angewandt. Das Revisionsvorbringen, das auf eine abweichende Auslegung abzielt, nach der auch bei „coronabedingten“ Reisebeschränkungen ein kostenloses Rücktrittsrecht des Reisenden bestehe, lässt den im Verbandsprozess geltenden Grundsatz der kundenfeindlichsten Auslegung außer Acht.

[11] 1.2. Nach § 10 Abs 2 PRG kann der Reisende ohne Zahlung einer Entschädigung vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.

[12] In der Revision wird vorgebracht, auch nach § 10 Abs 2 PRG bestehe ein unentgeltliches Rücktrittsrecht nur im Fall unvorhersehbarer Reiseeinschränkungen (vgl zur Relevanz der Vorhersehbarkeit die zur Auslegung von Art 12 Abs 2 Pauschalreise‑RL ergangenen Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs zu 8 Ob 130/21g, Frage 2 [Rz 17 ff] = EuGH C‑193/22 , FTI Touristik, und 3 Ob 35/22a, Frage 2 [Rz 15 ff] = EuGH C‑414/22 , DocLX Travel Events). Allerdings seien unvorhersehbare Einschränkungen aus „coronabedingten“ Gründen schlechthin nicht mehr denkbar, weil das weltweite Auftreten des SARS-Covid-19-Erregers bekannt sei. Dem ist nicht zu folgen. Die Annahme, dass ihrer Art nach bisher nicht stattgefundene Einschränkungen nicht denkbar seien, beruht vielmehr auf bloßer Spekulation.

[13] Die in der Revision vorgenommene Aufzählung von bereits vorgekommenen „Reisebeschränkungen“ (genannt werden Einreiseverbote, verpflichtende Einreisequarantänen, Einreisebeschränkungen [geimpft, getestet, genesen], Ausgangsbeschränkungen, Sperrstunden, Lockdowns) bestätigt die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach auch die Bezugnahme auf „'coronabedingte' Reisebeschränkungen“ in Satz 1 der Klausel intransparent ist und der Beklagten einen unangemessen weiten Auslegungsspielraum belässt.

[14] 2. Das Berufungsgericht erachtete Satz 2 der Klausel mangels Präzisierung der „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände“ als intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG. Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, schon wegen der intransparenten Fassung des § 10 Abs 2 PRG mit ihrer Klausel den Anforderungen des § 6 Abs 3 KSchG zu entsprechen. Es trifft zwar zu, dass in der Entscheidung 6 Ob 56/19g (Klausel 5) die nicht irreführende Wiedergabe des Gesetzeswortlauts als im Einklang mit dem Transparenzgebot des § 6 Abs 3 KSchG beurteilt wurde. Daraus ist für die Beklagte aber im vorliegenden Fall schon deshalb nichts zu gewinnen, weil die von ihr verwendete Klausel mit dem Text des § 10 Abs 2 PRG nicht übereinstimmt.

[15] 3. Zutreffend qualifizierte das Berufungsgericht bereits die Formulierung „solche Umstände“ in Satz 3 der Klausel als intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG. Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot kann nämlich auch daraus resultieren, dass auf eine intransparente Vertragsbestimmung verwiesen wird (vgl RS0122040 [T31]; 3 Ob 155/22y [Rz 49]; 4 Ob 93/07s). Im vorliegenden Fall fehlt es aber bereits an der Transparenz der in Satz 2 angesprochenen „unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände“, auf die Satz 3 verweist.

[16] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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