OGH 3Ob35/22a

OGH3Ob35/22a19.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verein für Konsumenteninformation, *, vertreten durch Kosesnik‑Wehrle & Langer Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei D* GmbH, FN *, vertreten durch Koller & Schreiber Rechtsanwälte‑Partnerschaft in Wien, wegen 227,68 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. November 2021, GZ 60 R 83/21t‑24, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 10. Juni 2021, GZ 15 C 552/20s‑18, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00035.22A.0519.000

 

Spruch:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

 

1. Ist Art 12 Abs 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 11. 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen so auszulegen, dass dem Reisenden – unabhängig vom Zeitpunkt seiner Rücktrittserklärung – der kostenfreie Rücktritt jedenfalls dann zusteht, wenn die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, die die Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, am (geplanten) Beginn der Reise tatsächlich eingetreten sind?

2. Ist Art 12 Abs 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 11. 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen so auszulegen, dass dem Reisenden der kostenfreie Rücktritt bereits dann zusteht, wenn zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung mit dem Eintritt unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände zu rechnen war?

3. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

A. Sachverhalt

[1] Der klagende Verein begehrt von der Beklagten die Zahlung des ihm abgetretenen Ersatzanspruchs eines Verbrauchers in Höhe der Stornokosten einer für den Sommer 2020 geplanten, aber nicht durchgeführten Maturareise.

[2] Der Verbraucher M* (im Folgenden: „Kläger“) buchte im Jänner 2020 bei der Beklagten für die Zeit von 27. Juni bis 3. Juli 2020 eine „X‑Jam Maturareise“ in Kroatien auf der Halbinsel Laterna; in der Buchung war auch die An‑ und Abreise mit dem Bus enthalten. Der Preis bestand aus 679 EUR für die Reise, 99 EUR für die Busbeförderung, 25 EUR für die Bearbeitungsgebühr und 54 EUR für Storno‑ und Reiseversicherungsprämie, abzüglich eines Early‑Bird Rabatts von 70 EUR, insgesamt daher 787 EUR, und wurde zur Gänze im Vorhinein bezahlt. Die gebuchte Reise war als „Partyreise“ mit vielen Teilnehmern und ausgelassenen Feiern geplant.

[3] Am 13. März 2020 verhängte das österreichische Außenministerium Reisewarnstufe 4 über alle Länder weltweit, womit dringend geraten wurde, nicht unbedingt notwendige Reisen zu verschieben oder von Rücktrittsmöglichkeiten Gebrauch zu machen.

[4] Am 21. April 2020 informierte die Beklagte den Kläger per Mail darüber, dass eine kostenlose Stornierung der Reise derzeit „nicht möglich“ sei, sondern „nur aufgrund von äußeren Umständen wie beispielsweise einer Reisewarnung der Stufe 6“ und dann erst sieben Tage vor dem geplanten Reiseantritt. Gleichzeitig bot sie ihm eine Stornierung der Reise zu einer reduzierten Stornogebühr an. Der Kläger nahm dieses Angebot an. Bis auf eine Stornogebühr in Höhe von 227,68 EUR hat er den Reisepreis rückerstattet erhalten.

B. Prozessstandpunkte der Parteien und bisheriges Verfahren

[5] Der Kläger begehrte die Rückzahlung des einbehaltenen Betrags. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung über die Stornierung wäre er berechtigt gewesen, kostenfrei vom Reisevertrag zurückzutreten. Im Vertrauen auf die Auskunft der Beklagten, es sei eine Stornierung noch nicht möglich, habe er das Angebot einer vergünstigten Stornierung angenommen; diese Vereinbarung sei im Vergleich zu § 10 Abs 2 PRG für ihn nachteilig und daher iSd § 3 PRG unwirksam.

[6] Die Beklagte ist der Auffassung, dass dem Kläger ein Zuwarten zumutbar und im April 2020 noch nicht absehbar gewesen sei, ob die Reise aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände tatsächlich nicht durchführbar sein würde. Eine kostenfreie Stornierung nach § 10 Abs 2 PRG habe es daher zum Zeitpunkt der Vereinbarung über die Stornogebühr (bzw der Rücktrittserklärung) nicht gegeben, die Vereinbarung sei wirksam und das Zahlungsbegehren nicht berechtigt.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[8] Die Streitteile hätten sich wirksam darauf geeinigt, die vertraglich vereinbarte Entschädigungspauschale zu mäßigen. Damals habe keine der Vertragsparteien wissen können, wie sich die Pandemie entwickeln würde; ein kostenfreies Rücktrittsrecht habe daher im Zeitpunkt der Stornierung nicht bestanden und die Vereinbarung sei daher wirksam.

[9] Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung im klagestattgebenden Sinn ab.

[10] Zum Zeitpunkt des Rücktritts habe eine Maturareise auf die vereinbarte Weise („Partyreise“) aufgrund der Corona‑Pandemie nicht stattfinden können; dies habe bei der Stornovereinbarung bereits festgestanden und daher seien die Voraussetzungen für einen kostenfreien Rücktritt vorgelegen. Gemäß § 10 Abs 4 PRG seien dem Reisenden alle Beträge zu erstatten, daher auch die Bearbeitungsgebühr sowie die Kosten der Stornoversicherung.

C. Relevante Normen

[11] 1. Art 12 Abs 2 der (neuen) Pauschalreise‑Richtlinie (2015/2302/EU ) lautet:

„Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise

Art. 12 (1) […]

(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.“

[12] 2. § 10 (österreichisches) Pauschalreisegesetz (PRG, BGBl I 2017/50) lautet auszugsweise:

„Rücktritt vom Pauschalreisevertrag vor Beginn der Pauschalreise

§ 10 (1) […]

(2) Unbeschadet des Rücktrittsrechts nach Abs 1 kann der Reisende vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Entschädigung vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Tritt der Reisende nach diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so hat er Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, nicht aber auf eine zusätzliche Entschädigung.“

[13] 3. § 3 (österreichisches) Pauschalreisegesetz (PRG, BGBl I 2017/50) lautet:

„Unwirksame Vereinbarungen

§ 3. Soweit Vereinbarungen zum Nachteil des Reisenden von den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes abweichen, sind sie unwirksam.“

D. Begründung der Vorlage

Begründung:
Rechtliche Beurteilung

[14] Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt maßgeblich von der Auslegung des Art 12 Abs 2 der Richtlinie ab, an der sich ihrerseits die Auslegung von § 10 Abs 2 PRG (sowie des § 3 PRG) zu orientieren hat. Nach Einschätzung des Obersten Gerichtshofs besteht hinsichtlich der eingangs gestellten Fragen kein acte clair.

[15] Maßgeblich für die Entscheidung über die Berechtigung des vom Kläger erhobenen Zahlungsbegehrens ist die Frage, ob die mit der Beklagten geschlossene Stornierungsvereinbarung wirksam oder für den Reisenden nachteilig und daher unwirksam ist. Dafür bedarf es der Auslegung des Art 12 Abs 2 der Pauschalreise‑Richtlinie dahin, wie die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, die die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen (und den Reisenden zum kostenfreien Rücktritt berechtigen), zu verstehen sind: Reicht es aus, wenn diese Umstände bis zum Antritt der Reise (zum spätest möglichen Rücktrittszeitpunkt) tatsächlich – ex post betrachtet – aufgetreten sind, oder ist es für ein kostenfreies Rücktrittsrecht entscheidend, dass im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung (oder des Abschlusses einer Vereinbarung über die Stornierung der Pauschalreise) solche unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände – ex ante betrachtet – wahrscheinlich oder zu erwarten waren?

[16] Aus dem Erwägungsgrund 31 Satz 2 der Pauschalreise‑Richtlinie lässt sich keine Einschränkung des kostenfreien Rücktritts des Reisenden (nach Art 12 Abs 2) erkennen; in Fällen schwerwiegender Beeinträchtigungen der Sicherheit oder der Gesundheit durch die vereinbarte Pauschalreise sollen Reisende „ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr“ vom Vertrag zurücktreten können. Eine bestimmte Wahrscheinlichkeit derartiger Umstände oder Fristen für einen beeinträchtigungsbedingten, kostenfreien Rücktritt des Reisenden sieht die Richtlinie nicht vor.

[17] In der österreichischen Literatur finden sich unterschiedliche Auffassungen zu den Fragen, ob die zum Rücktritt berechtigende Unzumutbarkeit der Durchführung der Reise ex ante beurteilt werden muss (so Lindinger, Erste Hilfe – das ABG der Corona‑Entscheidungen im Reiserecht, ZVR 2021, 451 [453]; Lindinger, Pauschalreise und ‑reiserecht in der Krise – Positionen und Begriffe, ZVR 2020, 235 [237]), ob bereits eine erhebliche Wahrscheinlichkeit genügt, dass es zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen könnte (so Treu in Bammer, PRG § 10 Rz 38 mwN; Bammer/Treu, Reiserücktritt und Corona, ecolex 2020, 356 [357]; differenzierend Kern, Leitfaden: COVID‑19 und Reiserecht, VbR 2020, 128 [130]), und ob die Beeinträchtigung auch noch im Zeitpunkt der Reise bestehen muss (so Löw, Die Auswirkungen von Epidemien und Pandemien auf Pauschalreise- und Luftbeförderungsverträge, ZVR 2020, 156 [158]; eine „gewisse zeitliche Nähe zwischen dem Auftreten der [...] Umstände und dem Antritt der Reise“ fordern Laimer/Schickmair, Corona‑Handbuch1.06 Kapitel 11 Rz 33).

[18] Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte eine Interpretation des Art 12 Abs 2 der Pauschalreise‑Richtlinie dahin nahe liegen, dass ein Recht des Reisenden auf einen kostenfreien Rücktritt wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände im Sinn dieser Bestimmung immer (auch) dann bestehen soll, wenn diese Umstände später tatsächlich eintreten und die Pauschalreise, von der der Reisende wegen dieser Umstände zurückgetreten ist, erheblich beeinträchtigt oder unmöglich gemacht hätten. Auf eine unrichtige Einschätzung der Situation „ex ante“ durch den Reisenden, der nur quasi „zu früh“ (mit Stornogebühr) zurückgetreten wäre (oder wie im Anlassfall eine für ihn nachteilige Vereinbarung abschloss), käme es dann nicht an; eine vom Reisenden geleistete Rücktrittsgebühr könnte vom Reiseveranstalter zurückverlangt werden. Ebenso denkbar wäre aber auch eine Auslegung des Art 12 Abs 2 der Pauschalreise‑Richtlinie dahin, dass ausschließlich die objektive Situation im Zeitpunkt der Erklärung des Rücktritts dafür maßgeblich ist, ob dem Reisenden ein kostenfreier Rücktritt zustand. Dann wären zwar allfällige spätere Verbesserungen der Gefahrensituation für das Rücktrittsrecht unschädlich, eine unrichtige (allzu „vorsichtige“) Einschätzung der Gefahrenlage durch den Reisenden im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung hätte aber auch bei später tatsächlich eingetretener Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Durchführung der Pauschalreise zur Folge, dass seine Verpflichtung zur Zahlung von Stornogebühren aufrecht bliebe.

[19] E. Bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens ist das Verfahren über die Revision nach § 90a Abs 1 Gerichtsorganisationsgesetz auszusetzen.

Stichworte