European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00039.13Y.0320.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Rekursgericht wird die neuerliche Entscheidung aufgetragen.
Begründung
Die mj E***** und der mj D***** N***** sind die außerehelichen Kinder des Antragstellers und der Antragsgegnerin. Die Minderjährigen und der Antragsteller sind italienische Staatsangehörige, die Antragsgegnerin ist Österreicherin. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt der Kinder war in Italien in R*****. Anfang September 2012 übersiedelte die Mutter mit den Minderjährigen nach B***** in Österreich. Der Antragsteller erteilte hiezu nicht seine Zustimmung.
Mit Beschluss des Jugendgerichts Florenz vom 7. 4. 2011 war bereits zuvor das gemeinsame Obsorgerecht der Eltern mit dem Wohnsitz bei der Mutter festgelegt worden. Weiters war entschieden worden, dass der Antragsteller jedes Wochenende mit den Kindern verbringen darf, die Kinder während der Weihnachtszeit eine Woche bei sich behalten kann und die Kinder eine Woche bei der Mutter verbringen; ebenso war ein detailliertes Osterbesuchsrecht und Sommerbesuchsrecht festgelegt. Schließlich wurde angeordnet, dass die Antragsgegnerin „den Lebenskreis der Kinder zu versichern“ habe. Die Rechtskraft und Vollstreckbarkeit dieser Entscheidung wurde bescheinigt.
Mit Verfügung des Jugendgerichts Florenz vom 16. 10. 2012 wurde dieser Beschluss bestätigt. Zudem wurde in einer mit 2. 11. 2012 datierten Bescheinigung unter Berufung auf „Art 47“ Brüssel IIa‑VO die vollstreckbare Rückgabeanordnung des Jugendgerichts Florenz bestätigt.
Mit Beschluss vom 28. 2. 2013 ordnete das Jugendgericht Florenz an, dass (weiterhin) das Sorgerecht beiden Eltern zustehe, die Kinder jedoch beim Vater unterzubringen seien. Der Beschluss enthielt auch eine detaillierte Besuchsrechtsregelung.
Mit Beschluss vom 20. 9. 2012 beauftragte das Familiengericht Florenz den International Social Service unter Mitarbeit der Neuropsychiatrie die gegenwärtige Situation der Minderjährigen in Österreich zu überprüfen.
Mit Beschluss vom 16. 10. 2012 bestätigte das Familiengericht Florenz die Entscheidung vom 7. 4. ‑ 6. 5. 2011 und ordnete deren sofortige Vollstreckbarkeit an. In dieser Entscheidung sprach das Familiengericht Florenz auch aus, dass das Verhalten der Kindesmutter äußerst nachteilig für die Minderjährigen erscheine und im Gegensatz zur Anordnung stehe, den Aufenthalt in Italien in R***** zu garantieren.
Nach einer anderen, gleichfalls im Akt erliegenden Übersetzung derselben Entscheidung (AS 87) muss die Mutter „den aktuellen Lebensumfeld der Kinder gewährleisten“.
Am 2. 11. 2012 stellte das Familiengericht Florenz eine Bescheinigung gemäß Art 39 Brüssel IIa‑VO für die Entscheidung vom 7. 4. 2011 aus. Darin wurde unter Punkt 11.1 ausgeführt: „In der Entscheidung wird die Rückgabe der Kinder angeordnet. Die Minderjährigen wohnen bei ihrer Mutter und verbringen jedes Wochenende mit dem Vater, der in G***** lebt.“
Die folgende Rubrik 11.2 „Rückgabeberechtigter“ war nicht ausgefüllt.
Gleichfalls mit Datum vom 2. 11. 2011 stellte das Familiengericht Florenz auch eine Bescheinigung gemäß Art 47 Abs 1 Brüssel IIa‑VO für die Entscheidung vom 7. 4. ‑ 6. 5. 2011 aus. Unter Punkt 13 findet sich dort folgender Satz:
„In der Entscheidung wird die Rückgabe der Kinder angeordnet, und das Gericht hat in seinem Urteil die Gründe und Beweismittel berücksichtigt, auf die sich die nach Art 13 HKÜ über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ergangene Entscheidung stützt. Ja.“
Der Antragsteller beantragt die Rückführung der Kinder nach Italien im Wesentlichen mit der Begründung, dass die Rückführung der Kinder bereits vom Jugendgericht Florenz angeordnet worden sei; dessen Entscheidung sei in Österreich unmittelbar anzuerkennen und zu vollstrecken. Nur aus prozessualer Vorsicht werde die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung der italienischen Rückführungs‑ entscheidung im Sinne des Art 8 HKÜ beantragt. Die Antragsgegnerin habe trotz bestehender Obsorge die Minderjährigen ohne seine Zustimmung nach Österreich verbracht.
Die Antragsgegnerin hielt dem Rückführungsantrag des Vaters entgegen, dass dieser die Obsorge tatsächlich nicht ausgeübt habe; außer durch Wochenendbesuche habe der Vater am Leben der Kinder keinen Anteil genommen. Eine Widerrechtlichkeit des Verbringens liege nicht vor, da der Vater mit der Ausreise der Kinder nach Österreich einverstanden gewesen sei. Auch hätten sich die Kinder gegen eine Rückkehr nach Italien ausgesprochen; deren Wille sei jedenfalls zu berücksichtigen. Die Entscheidung des Jugendgerichts Florenz schränke die berufliche Freiheit der Mutter extrem ein; die Mutter verfüge in G***** weder über Arbeit noch eine Wohnung, sodass sie nicht dorthin zurückkehren könne. Eine Rückführung nach Italien, ohne dass sie von ihrer Mutter begleitet würden, brächte die Kinder in eine unzumutbare Lage.
Beide Kinder gaben in ihrer Einvernahme vor dem Erstrichter an, dass sie in Österreich bleiben und nicht mehr nach Italien zurückkehren wollen.
Die Antragsgegnerin gab zunächst an, falls die Rückführung der Kinder angeordnet würde, werde sie mit den Kindern nach Italien gehen.
Nach einem Bericht des Jugendwohlfahrtsträgers haben sich die Kinder in ihrem Umfeld in B***** gut eingelebt, sind im gesellschaftlichen Umfeld gut eingebunden, kommen schulisch gut voran und erwecken den Eindruck, dass sie zur Ruhe gekommen sind. Aus Sicht des Jugendwohlfahrtsträgers entspricht eine Rückführung der Kinder nach Italien gegen ihren ausdrücklichen Wunsch nicht dem Kindeswohl.
Das Erstgericht ordnete die Rückführung der Kinder in das Staatsgebiet der Republik Italien an.
Dabei ging es zusätzlich zu dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt von folgenden Feststellungen aus: Die Kindesmutter will mit ihren Kindern in B***** bleiben. Der Antragsteller ist nicht damit einverstanden, dass die Kinder ihren dauernden Aufenthalt in Österreich genommen haben; er wünscht ausdrücklich die Rückkehr der Kinder in das Staatsgebiet der Republik Italien.
Der Antragsteller hat seine (Mit‑)Obsorge jedenfalls dahin ausgeübt, dass er die Kinder am Wochenende besucht, beaufsichtigt und mit ihnen Freizeit verbracht hat. Er hatte bis Juli 2012 Kontakt zu seinen Kindern und hat diese besucht. Der Vater will seine Obsorge sowie die Besuche zu den beiden minderjährigen Kindern weiterhin ausüben.
Das Rekursgericht hob diese Entscheidung ersatzlos auf und trug dem Erstgericht die Vollstreckung der Rückführungsanordnung des Jugendgerichts Florenz vom 2. 11. 2012/16. 10. 2012 auf.
Gegen eine gemäß Art 42 Brüssel IIa‑VO ausgestellte Bescheinigung seien keine Rechtsbehelfe möglich. In der Bescheinigung des Jugendgerichts Florenz vom 2. 11. 2012 sei unter anderem festgehalten, dass in der Entscheidung vom 7. 4. ‑ 6. 5. 2011 die Rückgabe der Kinder angeordnet wurde und das Gericht dabei die Gründe und Beweismittel berücksichtigt habe, auf die sich die nach Art 13 HKÜ ergangene Entscheidung stützt. Richtigerweise handle es sich bei dieser Bescheinigung um eine solche nach Art 42 Abs 1 Brüssel IIa‑VO. Die bloße unrichtige Bezeichnung schade nicht, zumal die fälschlicherweise genannte Bestimmung einen gänzlich anderen Regelungsinhalt habe und jedenfalls keine auszustellenden Bescheinigungen regle. Für die Wirksamkeit der Bescheinigung sei die Verwendung eines bestimmten Formblatts nicht erforderlich; die Bescheinigung enthalte jedenfalls sämtliche von der Verordnung vorgegebenen Rubriken.
Es möge zutreffen, dass nach dem exakten Wortlaut der den Bescheinigungen zu Grunde liegenden Entscheidungen eine ausdrückliche Rückführung der Kinder nicht angeordnet worden sei. Aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin den Kindern „den bisherigen Lebenskreis zu versichern“ habe, ergebe sich aber, dass die Kinder ihren Wohnsitz weiterhin in Italien haben müssten. Darin sei implizit eine Rückführungsverpflichtung enthalten. Davon sei das Jugendgericht Florenz offensichtlich auch ausgegangen. Diese Rechtsansicht dürfe von österreichischen Gerichten im gegenständlichen Verfahren nicht weiter nachgeprüft werden. Die Aufgabe des Erstgerichts beschränke sich darauf, die konkrete Vorgangsweise bei der Vollstreckung festzulegen.
Selbst wenn man davon ausginge, dass eine in Österreich unmittelbar vollstreckbare Rückführungs‑ entscheidung nicht vorläge, wäre dem Rekurs kein Erfolg beschieden. Nach Verneinung einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens erwog das Rekursgericht in rechtlicher Sicht, dass sich aus den Äußerungen der beiden Minderjährigen zwar ergebe, dass diese nicht mehr nach Italien zurückkehren wollten, jedoch auch, dass sie insbesondere bei ihrer Mutter in Österreich verbleiben und ihren Vater in Italien nicht mehr wiedersehen wollen. Diese Äußerungen reichten in Anbetracht des Gegenstands des Rückführungsantrags, der nicht auf Rückgabe der minderjährigen Kinder in die Obsorge des Antragstellers, sondern gemäß Art 8 HKÜ auf Rückführung der Kinder in das Staatsgebiet der Republik Italien gerichtet ist, nicht hin, die begehrte Rückführung zu verweigern.
Der Mutter stehe nicht das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht zu; diese habe bei einem geplanten Ortswechsel mit den Kindern die Zustimmung des Antragstellers bzw die Genehmigung durch das zuständige italienische Pflegschaftsgericht einzuholen. Durch die Verbringung der Minderjährigen sei daher das Mitobsorgerecht des Antragstellers verletzt worden. Allein aufgrund des Umstands, dass im Zeitraum nach einer Obsorgeentscheidung keinerlei Obsorgemaßnahmen konkret zu treffen waren, könne nicht der Schluss gezogen werden, dass sich ein Elternteil an der faktischen (Mit‑)Obsorge nicht mehr beteiligt hat und deshalb nicht mehr von den Bestimmungen des HKÜ geschützt sei.
Zu Recht habe das Erstgericht auch eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ durch die Anordnung der Rückführung der Minderjährigen nach Italien verneint. Ob und inwieweit das Kindeswohl einer Rückführung entgegenstehe, sei nämlich nicht von Amts wegen, sondern nur über Vorbringen jener Person zu prüfen, die sich der Rückführung widersetzt. Eine Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung des Sachverhalts bestehe insofern nicht.
Die Antragsgegnerin habe sich lediglich darauf berufen, dass eine Rückführung die Minderjährigen in eine „unerträgliche Lage“ bringen würde. Worin konkret diese unerträgliche Lage bestehen solle, habe die Antragsgegnerin jedoch zu keinem Zeitpunkt konkret ausgeführt.
Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob bereits eine Bescheinigung nach Art 42 Abs 1 Brüssel IIa‑VO, die ohne nähere Modalitäten festgehalten wurde, dass in einem Mitgliedstaat eine vollstreckbare Rückführungsanordnung erlassen wurde, ausreiche, um diese im ersuchten Mitgliedstaat unmittelbar zu vollstrecken, oder ob vom ersuchten Gericht des Mitgliedstaats auch zu überprüfen sei, ob eine derartige vollstreckbare Rückführungsentscheidung überhaupt existiere und bejahendenfalls exequierbar formuliert worden sei.
Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; er ist auch im Sinne eines Aufhebungsantrags berechtigt.
1. Zweck des HKÜ ist es, die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederherzustellen, um zu gewährleisten, „dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird“ (Art 1 HKÜ). Das Übereinkommen soll verhindern, dass für das Kind im Zufluchtsland eine Aufenthaltszuständigkeit begründet wird, die eine Abänderung der Obsorgeregelung im Herkunftsland ermöglicht (RIS‑Justiz RS0109515). Das Übereinkommen strebt die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse nach einem unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten Schnellverfahren an (RIS‑Justiz RS0074532).
2. Sachliche Anwendungsvoraussetzung für das HKÜ ist die „Entführung“, das ist das „widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes außerhalb des Herkunftslands (6 Ob 73/12x; Nademleinsky/Neumayr , Internationales Familienrecht Rz 09.04).
3. Gemäß Art 3 Abs 1 HKÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn
a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Herkunftsstaats zusteht, und
b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
4. Die in dieser Bestimmung angeführten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (RIS‑Justiz RS0106624). Bei der Beurteilung der Widerrechtlichkeit der Verbringung von Kindern nach dem HKÜ und der Frage des Bestehens eines (Mit‑)Sorgerechts nach dem anzuwendenden Sachrecht knüpft Art 3 HKÜ unmissverständlich an den Zeitpunkt unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes an (RIS‑Justiz RS0119948).
5.1. Das Rekursgericht ging davon aus, die Voraussetzungen der Rückführung nach dem HKÜ nicht mehr prüfen zu müssen, weil das Jugendgericht Florenz bereits eine anzuerkennende und zu vollstreckende Rückgabeentscheidung gefällt habe. Dem kann nicht gefolgt werden:
5.2. Dabei ist nicht entscheidend, dass in den Entscheidungen des Jugendgerichts Florenz keine ausdrückliche Rückführungsanordnung enthalten ist. Bei der Anerkennung ausländischer Entscheidungen sind abweichende ausländische Tenorierungsgewohnheiten zu berücksichtigen; an ausländische Entscheidungen dürfen nicht dieselben Bestimmtheitsanforderungen gestellt werden wie an inländische (vgl zur EuGVVO Czernich/Tiefenthaler/Kodek , Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht² Art 38 Rz 7). Dabei ist auch nicht von vornherein auszuschließen, dass Anordnungen, die nach österreichischem Verständnis im Spruch der Entscheidung zu treffen wären, nur implizit erfolgen.
5.3. Die Entscheidungen des Jugendgerichts Florenz sind jedoch aus einem anderem Grund im vorliegenden Fall nicht geeignet, eine unmittelbare Grundlage für die Rückführung der Kinder nach Italien darzustellen:
Nach Art 39 Brüssel IIa‑VO hat das zuständige Gericht oder die zuständige Behörde des Ursprungsmitgliedstaats auf Antrag einer berechtigten Partei eine Bescheinigung unter Verwendung des Formblatts im Anhang I (Entscheidungen in Ehesachen) oder Anhang II (Entscheidungen über die elterliche Verantwortung) auszustellen. Art 40 ff Brüssel IIa‑VO enthalten sodann Bestimmungen über die Vollstreckbarkeit bestimmter Entscheidungen über das Umgangsrecht und bestimmter Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wird. Nach der mit „Anwendungsbereich“ überschriebenen Regel des Art 40 Brüssel IIa‑VO gilt dieser Abschnitt für das Umgangsrecht und die Rückgabe eines Kindes infolge einer die Rückgabe des Kindes anordnenden Entscheidung gemäß Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO. Ungeachtet der Bestimmung dieses Abschnitts kann jedoch der Träger der elterlichen Verantwortung die Anerkennung und Vollstreckung nach Maßgabe der Abschnitte 1 und 2 dieses Kapitels beantragen.
5.4. Im Abschnitt 4 sieht die Brüssel IIa‑VO ein System der unmittelbaren Vollstreckbarkeit ohne Exequatur vor. Dieses neue Modell der Vollstreckbarkeit gilt jedoch nur für Umgangsentscheidungen (Art 40 Abs 1 lit a iVm Art 41 Brüssel IIa‑VO) und Rückgabeentscheidungen im Sinne des Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO (Art 40 Abs 1 lit b iVm Art 42 Brüssel IIa‑VO). Das System der Art 40 ff Brüssel IIa‑VO ist beschränkt auf Fälle des Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO, also den Fall einer Kindesentführung, in der die Gerichte des Verbringungsstaats nach Art 13 HKÜ die Rückgabe verweigert haben, der frühere Aufenthaltsstaat aber die Rückgabe angeordnet hat ( Rauscher in Rauscher , EUZPR/EUIPR Brüssel IIa‑VO [2010] Art 40 Rz 8).
5.5. Nach herrschender Auffassung haben die Gerichte des Zweitstaats die Möglichkeit, die Richtigkeit der im Formular gemachten Angaben zu überprüfen ( Sengstschmid in Fasching/Konecny V/2² Art 39 EUEheKindVO Rz 10). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH 6. 9. 2012, Rs C‑619/10 Trade Agency Ltd ). Demnach ist das Gericht im Vollstreckungsmitgliedstaat befugt, eine eigenständige Beurteilung sämtlicher Beweise vorzunehmen und somit gegebenenfalls nachzuprüfen, ob diese Beweise mit den Angaben in der Bescheinigung übereinstimmen.
5.6. Im vorliegenden Fall stellt sich jedoch die Frage, inwieweit das Gericht des Zweitstaats die Richtigkeit der Bescheinigung des Gerichts des Ursprungsstaats nachprüfen kann, gar nicht:
Sowohl aus dem angeführten Datum der angeblichen Rückgabeentscheidung als auch aus der aktenkundigen ‑ insoweit zwischen den Parteien gar nicht strittigen ‑ Verfahrenssituation ist nämlich evident, dass für eine Rückgabeentscheidung im Sinne des Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO durch ein italienisches Gericht im vorliegenden Fall kein Raum bestand. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt vielmehr voraus, dass die Gerichte des Verbringungsstaats die Rückgabe nach Art 13 HKÜ abgelehnt haben. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch evident nicht erfüllt, hat doch das Erstgericht ausdrücklich die Rückgabe angeordnet und das Rekursgericht zwar diese Entscheidung aufgehoben, jedoch gleichzeitig die Vollstreckung der italienischen Rückgabeentscheidung angeordnet. Damit haben aber österreichische Gerichte noch gar keine negative Rückführungsentscheidung getroffen, sodass schon aus diesem Grund ein Vorgehen der italienischen Gerichte nach Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO nicht in Betracht kommt.
5.7. Die Entscheidung vom 7. 4. ‑ 6. 5. 2011, wonach die Mutter den Kindern „ihren Lebenskreis versichern“ müsse, kann aber schon nach ihrem Datum keine Entscheidung über die Rückgabe nach dem HKÜ sein, erging diese Entscheidung doch mehr als ein Jahr vor der Übersiedlung der Mutter nach Österreich.
5.8. Italienische Gerichte sind aber für eine Rückführungsentscheidung solange nicht zuständig, bis ein österreichisches Gericht die Rückführung abgelehnt hat (EuGH 11. 7. 2008, Rs C‑195/08 PPU, Inga Rinau ). Damit liegt aber entgegen der Ansicht des Rekursgerichts keine nach Art 40 Brüssel IIa‑VO in Österreich ohne weiteres Verfahren anzuerkennende Entscheidung vor.
6.1. Das Rekursgericht hat die Entscheidung des Erstgerichts jedoch auch inhaltlich überprüft und ausgesprochen, dass dem Rekurs auch bei inhaltlicher Prüfung kein Erfolg beschieden gewesen wäre. Diese Ausführungen halten jedoch jedenfalls im Lichte der zwischenzeitigen Entwicklungen rechtlicher Nachprüfung nicht stand:
6.2. Soweit sich die Antragsgegnerin darauf beruft, es liege schon deshalb keine Verletzung eines Obsorgerechts des Vaters vor, weil diese Voraussetzung nur der Elternteil erfülle, bei dem das Kind wohne, ist ihr entgegenzuhalten, dass der Vater die Obsorge im vereinbarten Umfang ausübte, von seinem über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Besuchsrecht vollen Gebrauch machte und zudem im betreffenden Zeitraum keine Obsorgeentscheidungen zu treffen waren. Die Verletzung des Aufenthaltsbestimmungsrechts unter Mitsorgeberechtigten ist hinreichende Anwendungsvoraussetzung des HKÜ (Art 3 Abs 1 lit a iVm Art 5 lit a HKÜ; RIS‑Justiz RS0074536; 6 Ob 36/13g).
6.3. Dass die Kinder mittlerweile in Österreich integriert sind, stünde nach Art 12 HKÜ der Rückführung nur dann entgegen, wenn der Kindesvater den Antrag erst mehr als ein Jahr nach der Verbringung der Kinder gestellt hätte. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
6.4. Das Rekursgericht hat sich jedoch noch nicht ausreichend mit der Weigerung der Minderjährigen, nach Italien zurückzukehren, befasst. Nach Art 13 HKÜ kann das Gericht es ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.
6.5. In Anbetracht des Alters der beiden Minderjährigen von zwölf bzw fünfzehn Jahren erscheint es naheliegend, dass diese bereits über eine entsprechende Einsichtsfähigkeit verfügen, wenngleich Feststellungen zu ihrer Reife fehlen. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass es im vorliegenden Fall ‑ anders als in dem der Entscheidung 5 Ob 47/09m zu Grunde liegenden Sachverhalt ‑ zwischenzeitig nicht mehr nur darum geht, ob die Kinder bei ihrer Mutter in Italien oder in Österreich leben. Vielmehr wäre in Anbetracht der zwischenzeitig ergangenen Entscheidung des Jugendgerichts Florenz mit der Rückführung verbunden, dass die Kinder hauptsächlich beim Vater leben müssen. Damit erscheinen die von den Minderjährigen gegenüber dem Vater gemachten Vorbehalte aber von größerem Gewicht.
6.6. Lediglich der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass die Vorinstanzen es bislang verabsäumt haben, nach § 111a iVm § 104 AußStrG dem mündigen Minderjährigen volle Parteistellung einzuräumen.
7. Daher war aber spruchgemäß mit Aufhebung der angefochtenen Rekursentscheidung vorzugehen. Dabei war zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung in der Sache selbst aufzutragen, zumal sich das Rekursgericht gegebenenfalls durch ergänzende Einvernahme der Minderjährigen leicht selbst ein Bild von deren Reifegrad machen kann.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)