OGH 6Nc21/20w

OGH6Nc21/20w15.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler sowie Univ.‑Prof. Dr. Kodek als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der Betroffenen K*, geboren am * 1988, *, vertreten durch die Erwachsenenvertreterin M*, AZ 2 P 146/09t des Bezirksgerichts Klagenfurt, wegen Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129654

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 8. August 2020, GZ 2 P 146/09t‑687, gemäß § 111 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Erwachsenenschutzsache an das Bezirksgericht Linz wird genehmigt.

 

Begründung:

Für die Betroffene wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Urfahr-Umgebung vom 7. 9. 2006 eine Sachwalterin bestellt. Der Wirkungskreis der Sachwalterin umfasste alle Angelegenheiten. Bereits ab dem Frühjahr 2006 war die Betroffene in einer im Sprengel des Bezirksgerichts Klagenfurt liegenden psychotherapeutischen Einrichtung betreut worden und hatte ein in K* gelegenes Gymnasium besucht, weshalb das Bezirksgericht Klagenfurt mit Beschluss vom 4. 6. 2009 die Zuständigkeit zur Besorgung der Sachwalterschaftssache übernahm. Im Juni 2010 legte die Betroffene die Reifeprüfung ab. Danach verließ sie die psychotherapeutische Einrichtung (Therapiewohnung) und hielt sich ohne Zustimmung ihrer Sachwalterin und des Gerichts wiederum bei ihrer – ebenfalls besachwalteten – Mutter in L* auf. Im Herbst 2010 nahm sie an der Universität G* das Studium der Rechtswissenschaften auf, wo sie gemeinsam mit einer Freundin eine Wohnung bewohnte. Sie absolvierte in weiterer Folge einige Prüfungen. Seit 17. 9. 2010 liegt eine Meldung in der Wohnung ihrer Mutter in L* als Hauptwohnsitz vor; in G* hatte sie einen Nebenwohnsitz (vgl 10 Nc 14/11g).

Mit Beschluss vom 15. 6. 2011 übertrug das Bezirksgericht Klagenfurt die Sachwalterschaftssache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Linz. Die Betroffene habe ihren Hauptwohnsitz im Sprengel des Bezirksgerichts Linz und ihren Nebenwohnsitz in G*, eine persönliche Kontaktaufnahme mit dem Bezirksgericht Klagenfurt sei nicht mehr möglich; dass sie jemals wieder in die im Sprengel des Bezirksgerichts Klagenfurt gelegene Therapiewohnung zurückkehre, sei nicht zu erwarten. Nachdem das Bezirksgericht Linz mit Beschluss vom 27. 6. 2011 die Übernahme der Sachwalterschaftssache abgelehnt hatte, weil von keinem stabilen und ständigen Aufenthalt im Sprengel des Bezirksgerichts Linz auszugehen sei, genehmigte der Oberste Gerichtshof am 31. 8. 2011 die Übertragung der Sachwalterschaftssache an das Bezirksgericht Linz nicht. Es liege zwar kein örtliches Naheverhältnis zwischen der Betroffenen und dem Bezirksgericht Klagenfurt mehr vor, von einem Mittelpunkt der Lebensführung der Betroffenen in L* könne aber schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil feststehe, dass die Betroffene an der Universität G* ein Studium betreibe und in G* einen Wohnsitz begründet habe. Die – nach Ansicht der Sachwalterin der Betroffenen abträglichen – Aufenthalte im Haushalt der Mutter in L* könnten deshalb eine Zuständigkeitsübertragung an das Bezirksgericht Linz nicht rechtfertigen (10 Nc 14/11g). 

Am 11. 9. 2019 teilte die (nunmehr) Erwachsenenvertreterin dem Bezirksgericht Klagenfurt mit, sie sei darüber informiert worden, dass die Mutter der Betroffenen mit dieser und mit einer Schwester der Betroffenen „untergetaucht“ sei und sich nicht mehr in der Wohnung in L* aufhalte, weshalb sie eine Abgängigkeitsanzeige erstattet habe. Allerdings teilte die zuständige Staatsanwältin im November 2019 mit, sowohl die Betroffene als auch deren Schwester hielten sich „weiterhin“ im Haushalt der Mutter auf (ON 669), was auch vom Erwachsenenvertreter der Mutter bestätigt wurde (ON 670); darüber hinaus richtete die Betroffene am 26. 11. 2019 ein Schreiben an das Bezirksgericht Klagenfurt, in dem sie die Wohnung der Mutter als ihre Adresse anführte (ON 671). Nach dem Akteninhalt (vgl die Ausführungen des Bezirksgerichts Klagenfurt ON 687) geht die Betroffene seit Dezember 2014 weder einer Beschäftigung nach noch betreibt sie ein Studium.

Mit Beschluss vom 27. 8. 2020 übertrug das Bezirksgericht Klagenfurt die Zuständigkeit zur Besorgung der Erwachsenenschutzsache an das Bezirksgericht Linz. Die Betroffene halte sich seit mehr als acht Jahren faktisch in dessen Sprengel auf, die zuständige Richterin des Bezirksgerichts Klagenfurt habe – abgesehen von zwei Terminen in den Jahren 2010 und 2011 – keinerlei Möglichkeit gehabt, mit der Betroffenen Kontakt aufzunehmen; ein solcher werde sowohl von der Betroffenen als auch deren Mutter verweigert. Es fehle daher jeglicher Bezugspunkt zum Sprengel des Bezirksgerichts Klagenfurt.

Das Bezirksgericht Linz lehnte die Übertragung der Zuständigkeit mit der Begründung ab, ein vom Bezirksgericht Klagenfurt im März 2019 eingeleitetes Erneuerungsverfahren sei noch „offen“ und es scheine „fraglich“, ob die Betroffene tatsächlich ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sprengel des Bezirksgerichts Linz habe bzw dauerhaft haben werde. Vor allem aber sei der Vater der Betroffenen, mit dem diese eine sehr konflikthafte Beziehung habe und gegen den sie auch Verfahren führe, als Vizepräsident des Oberlandesgerichts Linz für Personalangelegenheiten betreffend die Richter des Sprengels dieses Oberlandesgerichts (einschließlich der Dienstaufsicht) zuständig.

Die Übertragung der Zuständigkeit ist gerechtfertigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Gemäß § 111 Abs 1 JN kann, wenn dies im Interesse eines Minderjährigen oder sonst Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird, das zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte zuständige Gericht von Amts wegen oder auf Antrag seine Zuständigkeit ganz oder zum Teil einem anderen Gericht übertragen.

Selbst das Bezirksgericht Linz geht nicht davon aus, dass die Betroffene noch irgendeinen Bezug zum Sprengel des Bezirksgerichts Klagenfurt hat; ein solcher ist auch nicht aktenkundig. Damit ist aber keinesfalls ersichtlich, weshalb eine Weiterführung der Erwachsenenschutzsache durch das Bezirksgericht Klagenfurt das Wohl der Betroffenen in irgendeiner Weise befördern könnte. Dem steht jedoch gegenüber, dass sich die Betroffene ganz offensichtlich (wieder) in der Wohnung ihrer Mutter im Sprengel des Bezirksgerichts Linz aufhält, wo sie auch hauptwohnsitzgemeldet ist.

2. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass „offene Anträge“ nicht grundsätzlich einer Zuständigkeitsübertragung entgegenstehen (https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0047032&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ); vielmehr hängt es von den Umständen des einzelnen Falls ab, ob die Entscheidung über solche Anträge durch das bisherige Gericht zweckmäßiger ist (RS0046929 [T10]). Zu berücksichtigen sind offene Anträge (unabhängig davon, um welche Art des Antrags es sich konkret handelt [6 Ob 16/18g]) dann, wenn zu deren Erledigung das bisher zuständige Gericht effizienter geeignet ist, also etwa dann, wenn das übertragende Gericht bereits unmittelbar Beweise aufgenommen, vielleicht gar schon die Ermittlungen abgeschlossen hat, nicht aber, wenn ein Beweisverfahren noch gar nicht begonnen hat oder sich die Ermittlungen in einem sehr frühen Stadium befinden (stRsp, siehe bloß 6 Ob 16/18g).

Da das Bezirksgericht Klagenfurt keinerlei persönlichen Kontakt mit der Betroffenen herstellen konnte – und auch wiederholte diesbezügliche Versuche schon allein aufgrund der großen Distanz zwischen K* und L* praktisch unmöglich, jedenfalls aber nicht sinnvoll erscheinen –, verfügt das Bezirksgericht Klagenfurt über keinerlei Möglichkeiten, seinem gesetzlichen Auftrag nach § 128 Abs 3 Z 1 AußStrG nachzukommen, sich im durchzuführenden Erneuerungsverfahren von der Betroffenen einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, während dies einem räumlich näher gelegenen Erwachsenenschutzgericht eher möglich sein müsste.

3. Der Oberste Gerichtshof hat im Zusammenhang mit der Betroffenen bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass deren Vater aufgrund seiner beruflichen Position in der Lage sei, auf das berufliche Fortkommen der Richter und Richterinnen des Sprengels des Oberlandesgerichts Linz wesentlichen Einfluss zu nehmen, was deren volle Unbefangenheit sowohl in Straf- als auch in Zivilverfahren in Zweifel ziehen könnte (13 Ns 62/07g; 12 Ns 66/07p; 4 Nc 11/08t; 6 Ob 93/08g), was tatsächlich gegen eine Übertragung der Zuständigkeit für diese Erwachsenenschutzsache an das Bezirksgericht Linz sprechen könnte. Die Lösung dieser Problematik kann aber nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs nicht darin liegen, ad infinitum die Zuständigkeit bei einem Bezirksgericht zu belassen, das mehr als 250 km bzw mehr als drei Autostunden vom Wohnort der Betroffenen entfernt ist.

Sollten deshalb – nach hiermit genehmigter Übertragung der Zuständigkeit – sämtliche Richter des Bezirksgerichts Linz ihre Befangenheit nach § 19 JN anzeigen und/oder die Betroffene diese ablehnen, so wäre an eine Delegation der Erwachsenenschutzsache nach § 30 JN an das nächstgelegene Bezirksgericht außerhalb des Sprengels des Oberlandesgerichts Linz zu denken. Ein (amtswegiges) Vorgehen des Obersten Gerichtshofs, also eine sofortige Delegation der Erwachsenenschutzsache etwa an das Bezirksgericht Haag, kommt hingegen nicht in Betracht.

4. Damit liegen hier aber insgesamt keine ausreichenden Gründe dafür vor, die Pflegschaftssache nicht (zumindest vorerst) an das Bezirksgericht Linz zu übertragen, in dessen Sprengel die Betroffene nach der Aktenlage seit acht Jahren lebt. Die Übertragung ist daher vom Obersten Gerichtshof als dem den beiden Gerichten zunächst übergeordneten Gericht gemäß § 111 Abs 2 JN zu genehmigen.

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