European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0050OB00189.22P.1201.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Die Revisionsrekurse werden zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Das Rekursgericht bestätigte die vom Erstgericht (neben anderen, im Revisionsrekursverfahren nicht mehr gegenständlichen Regelungen) beschlossene Übertragung der Obsorge für die minderjährige Le* auf die Pflegemutter, in deren Haushalt das sechsjährige Kind nunmehr seit rund fünf Jahren betreut wird.
Rechtliche Beurteilung
[2] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) – Ausspruch des Rekursgerichts hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG ab. Die Zurückweisung eines ordentlichen Revisionsrekurses wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 Satz 4 AußStrG).
[3] 1.1 Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist nach ständiger Rechtsprechung ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS‑Justiz RS0048632) und das Kindeswohl dem Elternrecht vorgeht (vgl RS0118080). Der Entscheidung über die Übertragung der Obsorge kommt im Einzelfall keine erhebliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zu, wenn dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde (RS0115719).
[4] 1.2 Die angefochtene Entscheidung hat umfassend auf das Wohl des Kindes Bedacht genommen. In der Begründung hob das Rekursgericht hervor, dass die (bereits durch zwei frühkindliche Betreuungswechsel vorbelastete) Sechsjährige eine – nahezu ausschließliche – tiefe Bindung zu ihrer Pflegemutter hat, in deren Haushalt sie seit rund fünf Jahren betreut wird, während eine tragfähige Beziehung zu den leiblichen Eltern fehlt. Eine Rückführung in den Haushalt der Eltern würde derzeit wegen deren eingeschränkter Bindungstoleranz gegenüber der Pflegemutter eine erhebliche Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten, weil ein Abbruch der Beziehung zur Pflegemutter droht. Ergänzend verwies das Rekursgericht darauf, dass Le* die anhaltende Ungewissheit darüber, wie es weitergeht, belastet, und dass die Minderjährige außerdem eine erbliche Veranlagung für psychische Erkrankungen aufweise.
[5] 1.3 Wenn die Eltern in ihren Revisionsrekursen daher meinen, das Rekursgericht habe in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass die Minderjährige wegen der Übertragung der Obsorge an die Pflegemutter nicht mit ihren beiden älteren Schwestern aufwachse, so zeigen sie damit keine aufzugreifende Fehlbeurteilung auf. Das gemeinsame Aufwachsen von Geschwistern im selben Haushalt ist für die Entwicklung der Kinder zwar von erheblicher Bedeutung und eine Trennung von Geschwistern soll tunlich vermieden werden (vgl RS0047845 [T4]), aber dies ist nur ein Teilaspekt von vielen anderen, die gemeinsam das Wohl des Kindes bestimmen (RS0047845 [T3]). Wie bereits erwähnt, konnte das Rekursgericht aufgrund der zu befürchtenden erheblichen Gefährdung der Entwicklung der Sechsjährigen im Fall einer (derzeit) angeordneten Rückführung in den elterlichen Haushalt ein Zusammenführen mit den beiden älteren Schwestern (vorläufig) nicht ermöglichen. In Anbetracht der umfangreichen Feststellungen zur konkreten Lebens- und Beziehungssituation des Kindes kann daher diesem Aspekt bei der Entscheidung über die Obsorge hier kein ausschlaggebendes Gewicht zukommen.
[6] 1.4 Die behauptete Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens wurde geprüft. Sie liegt nicht vor (§ 71 Abs 3 Satz 3 AußStrG).
[7] 2.1 Mit der vom Rekursgericht in seiner Zulassungsbegründung genannten Entscheidung 1 Ob 99/16i steht die angefochtene Obsorgeübertragung nicht im Widerspruch. Im damals entschiedenen Fall waren ergänzende Feststellungen erforderlich, weil die Obsorge durch Eltern, Großeltern oder Pflegeeltern Vorrang hat (RS0123509 [T1]) und dort eine Übertragung der Obsorge auf den Kinder- und Jugendhilfeträger zu prüfen war. Im Unterschied zum damals entschiedenen Fall, bei dem es um die Obsorge für Zwillinge ging, die den Eltern im Alter von rund drei Jahren wegen Kindeswohlgefährdung hatten abgenommen werden müssen, fand die Abnahme Le* (und ihrer beiden älteren Schwestern) wegen (damals) akuter Gefährdung (körperliche Verletzungen der beiden älteren Kinder) bereits im Alter von rund zehn Monaten statt. Eine Bindung an ihre leiblichen Eltern und ihre Geschwister war daher noch nicht in ähnlicher Weise gefestigt, wie sie in einem Alter von drei Jahren gewesen wäre, oder wie sie es nach den Feststellungen inzwischen nach rund fünf Jahren zu ihrer Pflegemutter und deren Familie ist. Ausschlaggebend war hier insbesondere die Tatsache, dass wegen der ablehnenden Haltung der leiblichen Eltern gegenüber der Pflegemutter bei der Rückführung in die Obsorge der Eltern ein Abbruch der Beziehung zwischen der Minderjährigen und ihrer engsten Bezugsperson droht, der dem Kind voraussichtlich seelischen Schaden zufügen würde, und dass von einer wesentlichen Änderung dieser Umstände in absehbarer Zeit nicht ausgegangen werden kann.
[8] 2.2 Die beiden älteren Geschwister Le* lebten seit ihrer Abnahme im Oktober 2016 in einer Wohngemeinschaft und sind erst seit September 2021 wieder im Haushalt der leiblichen Eltern. Von den Schwierigkeiten, die mit einer Eingliederung der jüngsten Tochter in die leibliche Familie verbunden wären, und von den damit einher gehenden Belastungen für das Kind haben die Eltern kein realistisches Bild; es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Eltern fähig wären, die Interessen des Kindes über die eigenen zu stellen, um einen solchen Prozess in geeigneter Weise zu begleiten, und eine wesentliche Änderung dieser Umstände ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die ungelöste Obsorgefrage belastet Le*. Die Entscheidung, mit der eine Kindeswohlgefährdung für die sechsjährige Le* hier daher nicht anders abgewendet werden konnte als durch die angeordnete Übertragung der Obsorge auf die Pflegemutter, ist daher nicht zu beanstanden.
[9] 3.1 Eine Rechtsfrage von der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität wird daher von den Revisionsrekursen nicht aufgeworfen.
[10] 3.2 Die von beiden Eltern angestrebte Rückführung ihrer jüngsten Tochter setzt – wie auch das Rekursgericht bereits ausführte – voraus, dass sie sich der engen Verbindung zwischen ihrem jüngsten Kind und der Pflegemutter bewusst werden und geeignete Maßnahmen setzen, um eine entsprechende familiäre Beziehung zwischen ihnen und ihrer Tochter zu entwickeln und zu vertiefen. Dies erfordert zunächst, dass die leiblichen Eltern die Pflegemutter nicht mehr wie bisher ablehnen oder ignorieren, sondern ihre Funktion und ihre Bedeutung für ihre jüngste Tochter akzeptieren. Es liegt daher an den Eltern, eine engere Vertrautheit mit dem Kind zu schaffen, indem sie im Einvernehmen mit der Pflegemutter über einen längeren Zeitraum einen verlässlichen, regelmäßigen und – wie bereits vom Erstgericht unbekämpft angeordnet – sukzessive intensivierten Besuchskontakt aufbauen und dabei Verunsicherungen ihrer Tochter tunlichst vermeiden.
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