European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E128733
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Die Vorinstanzen haben den Antrag der Mutter auf Einholung eines (weiteren) kinderpsychologischen Gutachtens zurückgewiesen, den hauptsächlichen Aufenthalt der beiden Kinder vom Wohnsitz der Mutter an jenen des Vaters übertragen und ihm die Auflagen erteilt, seine Arbeitstätigkeit auf 25 Stunden in der Woche zu reduzieren und mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger zusammenzuarbeiten und eine allenfalls angebotene ambulante Betreuung in Anspruch zu nehmen. Der Vater sei uneingeschränkt erziehungsfähig, bei der Mutter liege aufgrund mangelnder Bindungstoleranz eine Einschränkung der Erziehungsfähigkeit vor. Bei der Beurteilung des Kindeswohls in einer Gesamtschau und unter Einbeziehung einer Zukunftsprognose entspreche die Übertragung des hauptsächlichen Aufenthalts an den Vater mit jener nötigen Gewichtung dem Kindeswohl, welche das Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund treten lasse.
Rechtliche Beurteilung
Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs beantragt die Mutter, den Antrag des Vaters auf Verlegung des Wohnsitzes der Kinder abzuweisen. Das Rechtsmittel zeigt aber keine erheblichen Rechtsfragen auf und ist daher zurückzuweisen.
1.1. § 180 Abs 3 ABGB sieht vor, dass jeder Elternteil, sofern sich die Verhältnisse maßgeblich geändert haben, bei Gericht eine Neuregelung der Obsorge beantragen kann. Nach ständiger Rechtsprechung (5 Ob 118/17i; 3 Ob 212/14v) gilt § 180 Abs 3 ABGB – wenngleich nicht ausdrücklich angeführt – dem Zweck der Regelung entsprechend auch für den Fall, wonach zwar die vereinbarte Obsorge beider Elternteile aufrecht erhalten werden soll, aber – wie hier – über den Antrag eines Elternteils zu entscheiden ist, der eine hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen in seinem Haushalt anstrebt. Eine derartige Bestimmung des Aufenthaltsorts setzt daher (bloß) eine „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ voraus, nicht aber eine Gefährdung des Kindeswohls iSd § 181 ABGB.
1.2. Gemäß § 180 Abs 3 ABGB kann daher jeder Elternteil bei einer wesentlichen („maßgeblichen“) Änderung der Verhältnisse eine Neuregelung beantragen (3 Ob 212/14v). Nach wie vor ist dem Grundsatz der Erziehungskontinuität Bedeutung beizumessen. Eine Änderung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts des Kindes muss daher, um eine Neuregelung zu begründen, bei Beurteilung des Kindeswohls in einer Gesamtschau und unter Berücksichtigung einer Zukunftsprognose so gewichtig sein, dass das Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (5 Ob 118/17i; 3 Ob 212/14v). Ganz generell darf der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung nicht um seiner selbst Willen aufrechterhalten werden, sondern ist dem Wohl des Kindes unterzuordnen. Die Forderung nach Kontinuität entspringt dem Gedanken des Kindeswohls, weil nach der Lebenserfahrung die Stetigkeit und Dauer Grundbedingungen für eine erfolgreiche und damit dem Wohl des Kindes dienende Erziehung sind (RS0047928). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist dabei für die Kontinuität der Erziehung nicht nur die (hauptsächliche) Pflegeperson zu beachten, sondern auch die räumliche Umgebung und das soziale Umfeld (3 Ob 212/14v, 3 Ob 115/14d). Als maßgebliche Änderung der Verhältnisse kann auch eine zu erwartende deutliche Verbesserung der Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes gewertet werden (vgl 10 Ob 68/11i). Die Möglichkeit der Neuregelung dient aber jedenfalls nicht dazu, die Bewährung einer getroffenen Obsorgeregelung durch einen binnen kurzer Zeit erhobenen, auf eine angebliche Umstandsänderung gestützten Antrag auf Neuregelung zu vereiteln (vgl 7 Ob 77/19b).
1.3. In der Entscheidung 5 Ob 118/17i wurde zwar dem Aspekt der Erziehungskontinuität Bedeutung zugemessen, gleichzeitig aber festgehalten, dass aufgrund von vorliegenden Zweifeln an der Erziehungs- und Betreuungsfähigkeit der Mutter insbesondere in schulischen Belangen das Postulat der Erziehungskontinuität nicht gegen einen Wechsel des hauptsächlichen Betreuungsorts der Minderjährigen spreche.
1.4. Ob bei einer Gesamtschau die Änderung der Verhältnisse so wesentlich ist, dass ein Aufenthaltswechsel des Minderjährigen zu befürworten ist, ist eine typischerweise nach den Umständen des Einzelfalls zu lösende Frage (5 Ob 118/17i; 3 Ob 212/14v). Dieser Entscheidung kommt daher keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, wenn dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde und keine Verletzung der leitenden Grundsätze der Rechtsprechung vorliegt (5 Ob 118/17i, RS0115719, RS0007101).
2.1. Im vorliegenden Fall sind die Vorinstanzen vertretbar davon ausgegangen, dass sich die Verhältnisse so wesentlich geändert haben, dass ein Wechsel des hauptsächlichen Aufenthalts zu bewilligen ist. Beide Elternteile sind zwar grundsätzlich allgemein erziehungsfähig; nach den Feststellungen liegt jedoch bei der Mutter eine Einschränkung der speziellen Erziehungsfähigkeit dadurch vor, dass die Bindungstoleranz deutlich eingeschränkt ist und die Mutter bindungsblockierend wirkt. Des weiteren wurde eine Instrumentalisierung der minderjährigen I* durch die Mutter festgestellt, die das Kind in nicht kindgerechter Weise in das Verfahren miteinbezogen und dahingehend informiert hat, dass es für die Mutter jetzt „eng werde“, was bei I* dazu führte, dass sie Angst vor einer Fremdunterbringung entwickelte. Außerdem fällt bei Beurteilung der Wesentlichkeit der Änderung der Verhältnisse besonders ins Gewicht, dass nach den Feststellungen der Vater besser in der Lage sein wird, den zu erwartenden erhöhten Förderbedarf sowie den allgemeinen Unterstützungsbedarf der Kinder zu bewältigen, da er den Entwicklungsstand, den Förderbedarf und den allgemeinen Unterstützungsbedarf der beiden Kinder realistischer wahrnehmen kann als die Mutter. Darüber hinaus gibt es nach den Feststellungen bei der Mutter eine beengte Wohnsituation, was ein Risikofaktor hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Kinder ist.
2.2. Wenn die Revisionsrekurswerberin im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Erziehungskontinuität die Entscheidung 1 Ob 46/16w ins Treffen führt, ist sie darauf zu verweisen, dass dort bei beiden Elternteilen Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit gegeben waren, während im vorliegenden Fall nur bei der Mutter, nicht aber beim Vater solche Einschränkungen festgestellt wurden.
2.3. § 105 Abs 1 AußStrG normiert, dass das Gericht Minderjährige in Verfahren über Pflege und Erziehung oder die persönlichen Kontakte persönlich zu hören hat, dass aber der Minderjährige auch durch den Kinder- und Jugendhilfeträger, die Familiengerichtshilfe, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, gehört werden kann, wenn er das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Wenn im vorliegenden Fall die damals siebenjährige I* durch die Sachverständige gehört wurde, während mit dem vierjährigen J* kein Gespräch mit der Sachverständigen möglich war, wurde dieser Vorschrift entsprochen.
2.4. Soweit die Revisionsrekurswerberin auf Tätlichkeiten des Vaters (gegenüber der Tochter der Mutter aus einer früheren Beziehung) verweist, ist zu berücksichtigen, dass die Angaben der Zeugin, aus deren Aussage sich entsprechende Hinweise ergaben, nicht zur Grundlage von Feststellungen gemacht wurden, weil sie über das übliche Ausmaß hinaus in das Familiensystem involviert war. Sonstige konkrete Hinweise auf allfällige Tätlichkeiten sind nicht ersichtlich und auch offensichtlich bei Erhebung der Grundlagen des Sachverständigengutachtens nicht hervorgekommen, sodass dieser Aspekt vertretbar nicht weiter berücksichtigt wurde.
3. Die gerügte Aktenwidrigkeit wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
4.1. Die Revisionsrekurswerberin bringt schließlich als Neuerung vor, I* habe ihr nach der letzten Verhandlung in dieser Sache erzählt, dass der Vater regelmäßig anlässlich der Ausübung seines Kontaktrechts Nacktfotos von ihr und J* mache. Das aus diesem Grund gegen den Vater eingeleitete Strafverfahren wegen § 207a StGB wurde jedoch mittlerweile von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
4.2. Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss sind von der Rechtsmittelinstanz (auch vom Obersten Gerichtshof) zu berücksichtigen, wenn dies das Interesse des pflegebefohlenen Kindes erfordert (RS0006893). Solche Neuerungen sind aber nur dann zu berücksichtigen, wenn die bisherige Tatsachengrundlage dadurch wesentlich verändert wird. Allein neues Vorbringen in einem Rechtsmittel macht die betreffenden Behauptungen noch nicht schon zur aktenkundigen und deshalb zu berücksichtigenden Tatsachengrundlage, zumal der Oberste Gerichtshof ansonsten nahezu immer mit einer aufhebenden Entscheidung vorzugehen hätte (RS0048056 [T7, T10]).
4.3. Im vorliegenden Fall wurde das Strafverfahren wegen § 207a StGB gegen den Vater wegen der von der Mutter erhobenen Vorwürfe bereits eingestellt. Bloße Behauptungen eines Sachverhalts im Sinne des § 207a StGB sind aber gemäß der oben wiedergegebenen Rechtsprechung nicht zu berücksichtigen.
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