OGH 4Ob198/15v

OGH4Ob198/15v30.3.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Musger, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Rassi als weitere Richter in der Rechtssache des Klägers S***** B*****, vertreten durch Dr. Christian Margreiter, Rechtsanwalt in Hall i.T., gegen die Beklagte A***** L***** GmbH & Co. KG, *****, vertreten durch Dr. Michael Meyenburg, Rechtsanwalt in Wien, wegen 18.986 EUR sA, über die Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 20. August 2015, GZ 1 R 100/15p‑26, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 29. April 2015, GZ 15 Cg 21/14m‑19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil insgesamt wie folgt zu lauten hat:

„Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger zu Handen des Klagevertreters 18.986 EUR samt 4 % Zinsen seit 22. 3. 2014 Zug um Zug gegen Rückstellung des Fahrzeugs Fiat DOBLO Cargo 2, 0M3135SX, Type/Variante/Version 263/ZXF1B/B1E, Fahrzeugidentifizierungsnummer (FIN) *****, zu zahlen und die mit 14.805,64 EUR (darin 1.560,44 EUR USt und 5.443 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen zu ersetzen, beides binnen 14 Tagen.“

Entscheidungsgründe:

Der Kläger kaufte beim beklagten Autohaus am 11. 7. 2013 das Neufahrzeug der Marke Fiat DOBLO Cargo 2, 0M3135SX mit einer Leistung von 135 PS zum Preis von 19.340 EUR. Nach einigen Fahrten mit dem neuen Fahrzeug stellte er fest, dass beim plötzlichen starken Beschleunigen und beim plötzlichen „vom Gas Gehen“ erhöhte Seitenkräfte spürbar sind. Unter normalen Fahrbedingungen (wie bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbe-schränkungen) sowie bei einer angepassten Fahrweise entsprechend dem Fahrbahnbelag und auch der einwirkenden physikalischen Kräfte weist das Fahrzeug keine konkreten Mängel auf. Bei der Durchführung von plötzlichen erheblichen Beschleunigungsvorgängen ist an der Lenkung ein Ziehen des Fahrzeugs zur linken Fahrbahnseite hin spürbar. Die am Lenkrad einwirkenden Kräfte sind allerdings bei einer korrekten Lenkradhaltung (beide Hände am Lenkrad) leicht zu korrigieren. Bei einer anschließenden plötzlichen Beendigung der Beschleunigungsphase ist ein Ausweichen des Fahrzeugs hin zur rechten Seite am Lenkrad spürbar, aber auch dieses Fahrzeugverhalten ist bei korrekter Lenkradhaltung ohne weiteres korrigierbar. Beim beschriebenen Fahrverhalten handelt es sich um eine Bauarteigenschaft von Fahrzeugen dieses Typs. Ohne konstruktive Veränderung an dieser Fahrzeugbaureihe kann dieses Fahrverhalten nicht geändert werden. Der Kläger fuhr bis zur Klagseinbringung mit dem gekauften Fahrzeug 2.722 Kilometer.

Der Kläger begehrte die Wandlung des Kaufvertrags; es liege ein unbehebbarer grober Mangel des Kaufgegenstands vor. Er habe den Mangel unverzüglich gerügt, die Beklagte habe das Fahrzeug überprüft und verschiedene Austauscharbeiten durchgeführt, der Mangel sei jedoch unverändert vorhanden geblieben. Er fordere daher die Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer im Revisionsverfahren nicht mehr strittigen Abgeltung für den Wertverlust von 354 EUR. Für den Fall, dass der Mangel als leicht qualifiziert werden sollte, erhob der Kläger ein Eventualbegehren auf Preisminderung in Höhe von 3.000 EUR. Die festgestellten Mängel seien aber als schwere Mängel zu qualifizieren, weil es verkehrsbedingt verschiedene Situationen gebe, die es erforderten, eine Hand vom Lenkrad zu nehmen. Speziell in unerwarteten Situationen sei ein unverlässliches Spurverhalten eines Fahrzeugs gefährlich und inakzeptabel.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen eines Mangels, jedenfalls aber eines schweren Mangels. Der Kläger habe durch Gebrauch des Fahrzeugs auf die Wandlung verzichtet. Im Fall einer Wandlung wäre jedoch der Gebrauchsnutzen mit der Differenz zwischen dem angemessenen Kaufpreis des konkret übergebenen Fahrzeugs abzüglich des Händlereinkaufspreises zum Zeitpunkt der Wandlung zu berechnen.

Das Erstgericht wies das Hauptbegehren auf Wandlung ab und gab dem Eventualbegehren teilweise (mit 1.250 EUR) statt. Es beurteilte die Beeinträchtigung des Lenkverhaltens im Fall starker Beschleunigung als geringfügigen Mangel. Da dieser nicht behebbar sei, stehe dem Kläger ein Recht auf Preisminderung zu. Gemäß § 273 ZPO erscheine eine Preisminderung in der Höhe von 1.250 EUR als angemessen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ nachträglich die ordentliche Revision zur Frage zu, ob ein sicherheitsrelevanter Mangel bei einem Kraftfahrzeug stets ein nicht geringfügiger Mangel sei. Im konkreten Fall ging das Berufungsgericht vom Vorliegen eines geringfügigen Mangels aus. Der Käufer eines Mittelklassewagens dürfe zwar erwarten, dass bei einem Neufahrzeug in jeder Fahrsituation auf befestigten Straßen Spursicherheit ohne das Auftreten von deutlich spürbaren Seitenkräften gegeben sei. Das Fahrzeug sei daher mangelhaft. Jedoch schlage die bei der Prüfung des Vorliegens einer nur geringfügigen Vertragswidrigkeit vorzunehmende Interessensabwägung zugunsten der Beklagten aus, weil der Kläger den von ihm zwar als störend empfundenen, jedoch nur bei plötzlichen Fahrverhaltensänderungen bemerkbaren Seitenkräften damit begegnen könne, dass er das Lenkrad mit beiden Händen festhalte, während die Beklagte im Fall der Wandlung den Neupreis des Fahrzeugs zu ersetzen hätte und beim Wiederverkauf am Gebrauchtwagenmarkt nur einen weitaus geringeren Verkaufspreis erzielen könnte. Der vorliegende geringfügige (unbehebbare) Mangel rechtfertige nur die Preisminderung, die vom Erstgericht zutreffend ausgemittelt worden sei.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, seinem Hauptbegehren auf Wandlung vollinhaltlich stattzugeben.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig und berechtigt:

Rechtliche Beurteilung

1.1. Ob eine Eigenschaft im Sinne des Gesetzes als gewöhnlich vorausgesetzt anzusehen ist, hängt nicht davon ab, was der Erklärende wollte, sondern davon, was der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben aus der Erklärung erschließen durfte und ist daher an der Verkehrsauffassung zu messen (RIS-Justiz RS0114333).

1.2. Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Kläger bei Kauf eines Neuwagens des konkreten Typs (Mittelklassefahrzeug) Spursicherheit ohne das Auftreten deutlich spürbarer (wenn auch durch beide Hände am Lenkrad beherrschbarer) Seitenkräfte im Fall plötzlicher erheblicher Beschleunigung erwarten durfte, das Fahrzeug daher nicht den gewöhnlich vorausgesetzten Eigenschaften entspricht und somit mangelhaft ist.

1.3. Dem Kläger steht daher das Recht auf Gewährleistung nach §§ 922 ff ABGB zu. Dass es sich beim konkreten Mangel um einen Serienfehler handelt, kann am grundsätzlichen Bestehen des Gewährleistungsanspruchs nichts ändern (vgl 8 Ob 63/05f).

2.1. Zumal nach den Feststellungen Verbesserungsversuche der Beklagten fehlgeschlagen sind, hat der Kläger grundsätzlich das Recht auf Wandlung (vgl RIS‑Justiz RS0018722), sofern nicht ein unwesentlicher Mangel iSd § 932 Abs 4 ABGB vorliegt.

2.2. Bei der Prüfung, ob ein die Wandlung ausschließender unwesentlicher Mangel iSd § 932 Abs 4 ABGB vorliegt, ist eine auf den konkreten Vertrag und die Umstände des Einzelfalls bezogene objektive Abwägung der Interessen der Vertragspartner vorzunehmen. Dabei sind sowohl die Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit der Aufhebung des Vertrags im Hinblick auf die damit verbundenen Folgen für die Parteien, aber auch die „Schwere“ des Mangels zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0119978 [T5]).

2.3. Von der Rechtsprechung wurden bei Fahrzeugkaufverträgen etwa folgende Umstände nicht als geringfügige Mängel erachtet: Spurverziehen eines Fahrzeugs bei ständig erforderlichen Lenkkorrekturen und Vibrationen des Armaturenbretts, was die Fahrsicherheit beeinträchtigte (7 Ob 194/05p); außerhalb des normalen Ausmaßes liegende, vertikale Stoßbewegungen, welche die Fahrsicherheit beeinträchtigen (1 Ob 106/13i); Flackern des Scheinwerferlichts, Hartwerden der hydropneumatischen Federung, was das Fahrzeug unzuverlässig und damit gefährlich machte (2 Ob 95/06v).

2.4. Anders als in den genannten Fällen bejahte der Oberste Gerichtshof nach eingehender Auseinandersetzung mit der Literatur zu § 932 Abs 4 ABGB in der Entscheidung 1 Ob 14/05y, bei der es um ein Vibrieren und „Raunzgeräusche“ des Schalthebels eines Neuwagens ging, das Vorliegen eines geringfügigen Mangels. Im Unterschied zu den zuvor genannten Fällen lag dort keine Beeinträchtigung der Fahrsicherheit vor.

2.5. Im gegenständlichen Fall ist jedoch eine Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit des verkauften Fahrzeugs gegeben. Auch wenn der Mangel bei Normalbetrieb nicht auftritt, so ist es doch nicht ausgeschlossen, dass auch ein vorschriftsmäßig fahrender Lenker situationsbedingt etwa bei einer erforderlichen Notbremsung oder maximalen Beschleunigung gerade nicht beide Hände am Lenkrad hat und durch das Spurabweichen des Fahrzeugs einen Verkehrsunfall erleidet. Zudem ist nicht auszuschließen, dass auch dritte Personen das Fahrzeug benützen (werden), denen der Mangel ‑ anders als dem Kläger ‑ nicht bekannt sein muss und die vom abweichenden Fahrverhalten des Fahrzeugs jedenfalls überrascht würden.

2.6. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit von Personen grundsätzlich schwerer wiegt als finanzielle Interessen des Verkäufers. Die Interessenabwägung schlägt hier somit zugunsten des Klägers aus.

2.7. Wenn auch die Formulierung „geringfügiger Mangel“ in § 932 Abs 4 ABGB auf Art 3 Abs 6 der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie (1999/44/EG) zurückgeht (vgl 1 Ob 14/05y mwN), so bedurfte das hier durch Interessenabwägung gewonnene Ergebnis (kein geringfügiger Mangel im Sinn der bezogenen Gesetzesstelle) dennoch nicht der Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union (so aber Zöchling-Jud in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.02 § 932 Rz 68), zumal die hier erfolgte Verneinung der Geringfügigkeit des Mangels an der richtigen Anwendung des Unionsrechts keinen Zweifel lässt. So leistet die Union nach Art 169 Abs 1 AEUV zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus einen Beitrag zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher sowie zur Förderung ihres Rechts auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen (vgl auch den Erwägungsgrund 1 der RL 1999/44/EG) . Ein hohes Verbraucherschutzniveau erfordert aber zweifellos, dass der Verkauf eines Kraftfahrzeugs, welches in bestimmten ‑ nicht geradezu unwahrscheinlichen ‑ Situationen die Verkehrssicherheit beeinträchtigt, nicht als geringfügige Vertragsverletzung zu qualifizieren ist.

Der Wandlungsanspruch des Klägers besteht daher grundsätzlich zu Recht.

3.1. Die Weiterbenützung der Sache in Kenntnis des Wandlungsrechts kann zwar im Einzelfall als Verzicht gewertet werden (vgl RIS-Justiz RS0014245), allerdings nur, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen (RIS-Justiz RS0018691; RS0014265).

3.2. Solche Umstände sind hier nicht gegeben: Der Kläger fuhr bis zur Klagseinbrigung mit dem gekauften Fahrzeug, wobei er jedoch von Beginn an den Mangel rügte und Verbesserung forderte. Dass er der Beklagten zunächst mehrmals die Chance zur Verbesserung gegeben hat, kann nicht dazu führen, wegen der sich für die Beklagte dadurch ergebenden Nachteile (vermehrte Abnützung des Fahrzeugs durch längeren Gebrauch) die Vertragsaufhebung abzulehnen (vgl 7 Ob 194/05p; 2 Ob 95/06v).

4.1. Weiters argumentiert die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Kläger habe Umbauarbeiten am Fahrzeug vorgenommen, die dessen Typisierung als „Steuer-LKW“ verhindern würden; damit scheide eine Wandlung aus.

4.2. Dem ist entgegen zu halten, dass die vom Erstgericht zu den Umbauarbeiten getroffenen Feststellungen mangels entsprechenden Vorbringens der Beklagten in erster Instanz überschießend und daher unbeachtlich sind (vgl RIS‑Justiz RS0040318; RS0037972). Ihr Einwand im Zusammenhang mit dem „Steuer-LKW“ verstößt gegen das Neuerungsverbot.

5. Schließlich wendet die Beklagte ein, der Kläger als vorsteuerabzugsberechtigter Unternehmer könne nur den Nettokaufpreis in Höhe von 16.116,67 EUR verlangen. Dieser steuerrechtliche Einwand ist jedoch im hier vorliegenden Prozess auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung nicht zu behandeln (vgl RIS-Justiz RS0038172), sondern in einem gesonderten Verfahren nach Art XII Z 3 EGUStG geltend zu machen (vgl RIS-Justiz RS0030251).

6. Auf das ‑ auch in erster Instanz nicht konkret bezifferte ‑ „angemessene“ Benützungsentgelt kommt die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung nicht mehr zurück.

7. Der Klagsanspruch besteht daher in seinem Hauptbegehren auf Wandlung zu Recht. Der Revision des Klägers ist somit Folge zu geben, und die Entscheidungen der Vorinstanzen sind in diesem Sinne abzuändern.

8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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