OGH 3Ob160/16z

OGH3Ob160/16z23.11.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin Dr. Lovrek, die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch und die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Bollmann & Bollmann Rechtsanwaltspartnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei A*****, vertreten durch Burghofer Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen Aufkündigung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 22. Juni 2016, GZ 40 R 7/16z‑10, womit das Urteil des Bezirksgerichts Favoriten vom 17. November 2015, GZ 7 C 413/15t‑6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00160.16Z.1123.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Der Vater der Klägerin vermietete im Jahr 1958 eine in seinem Eigentum stehende Liegenschaft samt darauf errichtetem Einfamilienhaus an den Vater der Beklagten. Die Streitteile traten in der Folge auf Vermieter‑ bzw Mieterseite in den Mietvertrag ein. Die 1949 geborene Beklagte lebt seit 1958 in diesem Haus und verfügt über keine andere Wohnmöglichkeit. Die Klägerin hat sich nie um das Mietobjekt gekümmert. Persönlichen Kontakt zwischen den Streitteilen gab es (bis zur Aufkündigung) nur zweimal, „ nämlich 1974/75 und 1981 “. Sämtliche Renovierungs- und Erhaltungsarbeiten wurden ausschließlich von der Beklagten beauftragt und finanziert.

Die Klägerin bewohnte ursprünglich zusammen mit ihrem (mittlerweile verstorbenen) Lebensgefährten viele Jahre lang eine in Wien 4 gelegene, sehr große Wohnung. „ Nach jahrelangem Rechtsstreit mit dem dortigen Vermieter wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 27. 12. 2012, GZ 44 C 293/08b‑5, einer gerichtlichen Aufkündigung der dortigen Vermieter stattgegeben und die Beklagte zur Räumung dieser Wohnung verurteilt ( siehe OGH vom 25. 6. 2014, 3 Ob 43/14s bzw 3 Ob 211/14x ).“ Aufgrund dieser rechtskräftigen Entscheidung musste die Klägerin diese Wohnung am 13. April 2015 räumen. Da sie seither über keine andere eigene Wohnmöglichkeit mehr verfügt, übernachtet sie etwa zwei bis drei Tage in der Woche bei einer Freundin in Wien 6, die übrigen Tage bei anderen Freunden.

Die Klägerin kündigte der Beklagten den Mietvertrag aus dem Kündigungsgrund des Eigenbedarfs gemäß § 30 Abs 2 Z 8 MRG zum 30. September 2015 auf.

Die Beklagte wendete ein, der Mietvertrag unterliege nicht dem MRG, sondern dem MG und könne deshalb nur bei Vorliegen eines der Tatbestände des § 19 Abs 2 MG – und gemäß § 19 Abs 6 MRG nur bei Bereitstellung eines Ersatzobjekts – aufgekündigt werden. Ihr Interesse am Erhalt des Bestandverhältnisses überwiege jenes der Klägerin am Bewohnen des Bestandobjekts.

Das Erstgericht erklärte die Aufkündigung für wirksam. Nach den Feststellungen benötige die Klägerin das Mietobjekt dringend für sich selbst. Eine Interessenabwägung entfalle für vor dem 1. Jänner 2002 vermietete Einfamilienhäuser.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es seien nicht die Kündigungsbeschränkungen des MG, sondern jene der §§ 30 ff MRG anzuwenden. Nach der ursprünglich in Kraft getretenen Fassung des § 30 Abs 2 Z 8 MRG habe eine Interessenabwägung auch für Einfamilienhäuser entfallen müssen. Die durch die MRN 2001 geänderte Fassung, die jetzt nur noch auf Eigentumswohnungen abstelle, gelte nur für nach dem 31. Dezember 2001 geschlossene Mietverträge und sei vor dem Hintergrund zu sehen, dass für ab dem 1. Jänner 2002 vermietete Einfamilienhäuser überhaupt kein Kündigungsschutz mehr bestehe. Für vor dem 1. Jänner 2002 vermietete Einfamilienhäuser bleibe es daher beim Entfall der Interessenabwägung.

Die Beklagte strebt mit ihrer außerordentlichen Revision die Abänderung des angefochtenen Urteils in eine „Abweisung“ der Aufkündigung an; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

In ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Entgegen der von der Beklagten auch noch in dritter Instanz vertretenen Auffassung ist die Berechtigung der Aufkündigung nach der zum Zeitpunkt ihres Zugangs an den Erklärungsgegner geltenden Rechtslage – hier also nach § 30 Abs 2 Z 8 MRG – zu beurteilen, und nicht nach den bei Abschluss des Mietvertrags in Geltung gestandenen Bestimmungen des MG (RIS‑Justiz RS0070464; vgl auch RS0008702; RS0070282 und 3 Ob 43/14s).

2. Der Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 8 MRG setzt voraus, dass der Vermieter die gemieteten Wohnräume für sich selbst oder für Verwandte in absteigender Linie dringend benötigt.

Die jüngere Rechtsprechung geht von einem gemäßigteren Verständnis der im Zusammenhang mit dem dringenden Eigenbedarf ausgeformten Begriffe „Notstand“ und „Existenzgefährdung“ aus, wenngleich bei der Beurteilung des dringenden Bedarfs nach wie vor ein strenger Maßstab anzulegen ist (

RIS-Justiz

RS0070482 [T24]).

3. Die Revisionswerberin zeigt im Ergebnis zutreffend auf, dass die Feststellungen noch keine abschließende Beurteilung des Vorliegens eines dringenden Eigenbedarfs der Klägerin – und damit der Berechtigung der Aufkündigung – ermöglichen:

3.1. Das Erstgericht hat (offenbar erst nach Schluss der Verhandlung) Einsicht in das ADV-Register bezüglich des Aufkündigungsverfahrens 44 C 293/08b des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien genommen und in seinen Feststellungen insbesondere durch Zitierung der (in jenem Verfahren ergangenen) Entscheidungen 3 Ob 43/14s und 3 Ob 211/14x darauf Bezug genommen.

3.2. Unabhängig davon, ob diese Vorgangsweise zulässig war, ergibt sich aus den zitierten, durch den Verweis des Erstgerichts zum Bestandteil der Feststellungen gemachten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, dass die ursprünglich gegen den während des damaligen Verfahrens verstorbenen Lebensgefährten der Klägerin gerichtete, auf § 30 Abs 1 Z 6 MRG gestützte Aufkündigung letztlich deshalb erfolgreich war, weil der Mieter gemeinsam mit der Klägerin ein von ihm gleichfalls gemietetes Haus in Wiener Neustadt bewohnte, und dass die Klägerin nach seinem Tod in jenen weiteren Mietvertrag eingetreten ist.

3.3. Mit diesem Sachverhalt lassen sich die übrigen dem Ersturteil zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen, wonach die Klägerin aufgrund dieser für wirksam erklärten Aufkündigung über keine andere eigene (gesicherte) Wohnmöglichkeit mehr verfüge, aber nicht in Einklang bringen.

4.1. Im Hinblick auf die somit widersprüchlichen Feststellungen, die keine abschließende rechtliche Beurteilung ermöglichen und daher grundsätzlich eine erhebliche Rechtsfrage begründen, ist mit einer Aufhebung in die erste Instanz vorzugehen (RIS‑Justiz RS0042744 [T1])

.

4.2. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren mit der Klägerin zu erörtern haben, ob sie nach wie vor Mieterin des Hauses in Wiener Neustadt ist; in diesem Fall hätte sie – entgegen ihrem bisherigen Prozessvorbringen und ihrer Parteienaussage – keinen dringenden Bedarf am aufgekündigten Objekt.

4.3. Sollte die Klägerin hingegen mittlerweile nicht mehr über dieses Mietrecht verfügen, wäre zu klären, seit wann und aus welchem Grund dies der Fall ist. Dabei wäre zu beachten, dass eine Aufkündigung nach § 30 Abs 2 Z 8 MRG auch dann erfolglos bleiben muss, wenn der Eigenbedarf auf Verschulden des Vermieters beruht, Letzterer also schuldhaft eine Sachlage herbeigeführt hat, die ihn zwingt, zur Deckung seines Eigenbedarfs zur Kündigung zu schreiten (RIS-Justiz RS0070602).

5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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