OGH 2Ob571/93

OGH2Ob571/9316.9.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Unterbringungssache betreffend Karl R*****, vertreten durch die Patientenanwältin Gabriele Ebner, Universitätsklinik für Psychiatrie, Anichstraße 35, 6020 Innsbruck, infolge Revisionsrekurses der Patientenanwältin gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 14.Juli 1993, GZ 3 b R 115/93-6, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 22. Juni 1993, GZ 27 Ub 34/93-3, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Karl R***** wurde am 16.6.1993 im offenen Bereich der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck aufgenommen, weil er infolge ateriosklerotischer Demenz desorientiert war, ihm jede Einsichtsfähigkeit fehlte und er ohne Aufnahme selbstgefährdet gewesen wäre. Er wurde nach der Aufnahme keinen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit unterworfen. Für den Fall, daß er den Wunsch, die Station zu verlassen, geäußert oder in die Tat umzusetzen versucht hätte, wäre er nach der erklärten Absicht des behandelnden Arztes aus Gründen des "Selbstschutzes" daran gehindert worden.

Die Patientenanwältin verständigte das Erstgericht am 17.6.1993 von der Aufnahme des Patienten. Bei der vom Erstgericht durchgeführten Erstanhörung vertrat der (Vertreter des) Anstaltsleiter (s) den Standpunkt, es liege keine Unterbringung vor, weil der Patient keinen konkreten Beschränkungen seiner Bewegungsfreiheit ausgesetzt sei; die Patientenanwältin hingegen war der Auffassung, wegen der für den "Ernstfall (eines Fluchtversuches)" beabsichtigten Hinderung am Verlassen der Station liege auch hier eine Unterbringung im Sinne des Gesetzes vor, weil der Patient im Falle des Wunsches oder Versuches, die Station zu verlassen, daran gehindert werden würde.

Das Erstgericht trat der Rechtsauffassung des Anstaltsleiters bei, daß es sich bei dieser hypothetischen ärztlichen Anordnung nicht um eine konkrete Bewegungsfreiheitsbeschränkung handle und somit ungeachtet der sonst gegebenen Voraussetzungen des § 3 UbG keine Unterbringung vorliege, und stellte das auf Grund der Aufnahmemitteilung der Patientenanwältin eingeleitete Unterbringungsverfahren mit Beschluß ein.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung und erklärte den Revisionsrekurs für zulässig. Durch die nur für den - wegen des bisher gezeigten Verhaltens des Patienten vorläufig bloß - hypothetischen Fall der versuchten Entfernung des Patienten von der Station gegebene Anordnung, diesen daran zu hindern, werde der Patient in seinem derzeitigen Zustand in seiner Bewegungsfreiheit nicht unmittelbar beeinträchtigt, so daß eine gewichtige Beeinflussung etwa in dem Sinn, daß er auf Grund von Anordnungen oder Drohungen (daran gehindert zu werden) es von sich aus unterlasse, die Anstalt zu verlassen, nicht vorliege. Erst bei der konkreten Anwendung der in Aussicht genommenen Hinderung des Patienten könne von einer Unterbringung gesprochen werden.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen die Entscheidung der zweiten Instanz erhobene Revisionsrekurs der Patientenanwältin ist ungeachtet der am 7.7.1993 erfolgten Anstaltsentlassung des Patienten zulässig (SZ 60/12; NRSpr 1991/163; 1 Ob 584/93 uva); er ist auch berechtigt.

Der Rechtsansicht der Vorinstanzen, die ärztliche Anordnung, den vorerst unansprechbaren Patienten, der unbestrittenermaßen im Zeitpunkt der Aufnahme psychisch krank und selbstgefährdet im Sinne des § 3 Z 1 UbG war, im Falle eines Entfernungsversuches am Verlassen der Station zu hindern, sei bis zur erstmaligen Durchführung nicht als Beschränkung der Bewegungsfreiheit und somit als Unterbringung zu beurteilen, kann nicht gefolgt werden. Da der Patient im Aufnahmezeitpunkt desorientiert war, kommt bei ihm allein die Unterbringung ohne Verlangen im Sinne des § 8 UbG in Betracht. So wie jede Aufnahme eines die sonstigen Unterbringungsvoraussetzungen nach § 3 UbG erfüllenden Patienten in einer geschlossenen Abteilung von Anbeginn weg ohne Rücksicht darauf, ob der Patient etwa an den Türen rüttelt, als Unterbringung im Sinne des Gesetzes anzusehen ist, ist jede Anordnung, den Patienten im Ernstfall, an der freien Bewegung und in letzter Konsequenz am Verlassen der Krankenanstalt zu hindern, als Beschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne der §§ 2, 33 UbG und damit als Unterbringung im Sinne des Gesetzes zu beurteilen. Eine besondere Erheblichkeitsschwelle der Dauer und des Ausmaßes der Beschränkung sieht das Gesetz nicht vor (1 Ob 584/93; 4 Ob 513, 514/93; 1 Ob 639/92; 4 Ob 527/92 uam; Kopetzki, UbG Rz 31, 32). Ob der Patient die ärztliche, freiheitsbeschränkende Anordnung versteht (verstehen kann) oder sich aus welchen Gründen immer daran hält, und daher - wie vorgeblich im vorliegenden Fall - die Beschränkung nicht zwangsweise durchgesetzt werden muß, ist für die Beurteilung der die Bewegungsfreiheit einschränkenden Maßnahme als Unterbringung nicht maßgeblich.

Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung vom 25.8.1993 zu AZl 1 Ob 584/93 in einem vergleichbaren Fall - nach der Entlassung des Kranken - die Rechtswidrigkeit der dort an das Anstaltspersonal gerichteten Anordnung des Abteilungsleiters, "den Kranken am Verlassen der Station zu hindern, sofern dieser den Versuch hiezu unternehmen sollte", festgestellt. Im vorliegenden Fall ist die Sache aber noch nicht spruchreif. Es fehlen sichere Feststellungen darüber, ob der behandelnde Arzt (Vertreter des Abteilungsleiters) nur für sich die - gegenüber der Patientenanwältin und dem Erstgericht bei der Erstanhörung erklärte - Absicht hegte, im Ernstfall eine derartige Anordnung an das Personl zu erteilen, oder ob nicht doch bereits für den konkreten Patienten dieser ärztlichen Absicht entsprechende Aufträge an das Personal erteilt waren. Während die Patientenanwältin von einer solchen Anordnung ausgeht, hat der Abteilungsleiter bloß eine derartige Anordnungsabsicht geäußert. Sollte sich im fortgesetzten Verfahren herausstellen, daß eine konkrete Anordnung nicht erteilt war, kann von einer Beschränkung der Bewegungsfreiheit des Patienten im Sinn der §§ 2, 33 UbG, die eine Verständigungspflicht des Abteilungsleiters gemäß § 17 UbG auslöste, noch nicht gesprochen werden. Wäre daher eine solche Anordnung erst im "Ernstfall" erteilt und dann sogleich erstmals vollzogen worden, hätte erst sie die Beschränkung der Bewegungsfreiheit des Patienten im dargelegten Sinn bewirkt, die zur Meldung an das Unterbringungsgericht verpflichtet und das gesetzliche Verfahren über die Zulässigkeit der Beschränkung als Unterbringungsmaßnahme erfordert hätte.

Diese Erwägungen führen zur Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen und Rückverweisung der Sache vor das Erstgericht.

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