European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00219.23D.0423.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Erbrecht und Verlassenschaftsverfahren
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.788,98 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 464,83 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die im Juli 2020 verstorbene Erblasserin hinterließ fünf Kinder, darunter die Streitteile. Sie setzte mit Testament vom 20. März 2002 alle Kinder mit Ausnahme des Beklagten zu gleichen Teilen zu Erben ein. Den Beklagten setzte sie auf den Pflichtteil und ordnete die Anrechnung einer ihm 1994 gemachten Schenkung auf den Pflichtteil an. Weitere letztwillige Verfügungen verfasste sie nicht.
[2] Der Beklagte steht in Verdacht, zu Lasten seines damaligen Arbeitgebers mehr als 1 Mio EUR veruntreut zu haben. Nach ihm wird seit 2002 mittels internationalen Haftbefehls gefahndet.
[3] Am 21. Februar 2002 erhob der Beklagte Klage gegen die Erblasserin auf Feststellung des Bestehens einer Dienstbarkeit für die ihm 1994 geschenkte Liegenschaft zu Lasten einer im Eigentum der Erblasserin stehenden, benachbarten Liegenschaft. Grundlage dieser Klage war (unter anderem) eine vom Beklagten erstellte „Vereinbarung vom 26. August 1996“ über die Einräumung eines Nutzungsrechts, auf der er die Unterschrift der Erblasserin mit dem Vorsatz fälschte, dass diese Urkunde im Rechtsverkehr zum Beweis des Nutzungsrechts gebraucht wird. Mit Schriftsatz vom 8. März 2002 zog der Beklagte die Klage unter Anspruchsverzicht zurück.
[4] Ab 1. April 2002 war der Beklagte für niemanden mehr zu erreichen, weil er sich der Strafverfolgung entziehen wollte. Seit dem bestand kein Kontakt mehr zwischen ihm und der Erblasserin. Letztere war aufgrund der Klagsführung gegen sie und „von den Vorwürfen des Beklagten hinsichtlich seiner möglichen Taten“ zu Lasten des Arbeitgebers gekränkt. Sie wollte wegen der Vorwürfe gegen den Sohn zu Lasten des Arbeitgebers „wohl wegen medialer Berichterstattung“ nicht mehr „unter die Leute“ gehen und schämte sich auch vor den Nachbarn.
[5] Mit Schreiben vom 22. März 2021 teilte der für den Beklagten bestellte Abwesenheitskurator der Klägerin mit, dass sich der Pflichtteilsanspruch des Beklagten auf knapp 367.000 EUR belaufe, er aber eine einvernehmliche Lösung anstrebe. Er wäre „grundsätzlich bereit“ auf Zinsen zu verzichten, wenn der Pflichtteil in der bezifferten Höhe gezahlt werde.
[6] Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die in der Verlassenschaft nach der Erblasserin geltend gemachten Pflichtteilsansprüche des Beklagten nicht zu Recht bestehen. Der Abwesenheitskurator des Beklagten habe sich eines Pflichtteilsanspruchs des Beklagten berühmt. Tatsächlich sei der Beklagte jedoch erbunwürdig, sodass ihm kein Pflichtteilsanspruch zustehe.
[7] Dem Beklagten werde die Unterschlagung von mehr als 1 Mio EUR zu Lasten seines früheren Arbeitgebers zur Last gelegt. Seit 18. April 2002 werde mit internationalem Haftbefehl nach ihm gefahndet. Ohne sich von seiner Familie verabschiedet zu haben, sei er ab 1. April 2002 nicht mehr erreichbar gewesen. Der Beklagte habe der Erblasserin in vorwerfbarer Weise schweres seelisches Leid zugefügt, indem er eine Straftat begangen und Schande über die Familie gebracht habe.
[8] Der Beklagte habe die ihm 1994 von den Eltern geschenkte Liegenschaft verkaufen wollen. In diesem Zusammenhang habe er gefälschte Dokumente hergestellt und die Unterschrift der Erblasserin gefälscht. Er habe eine Feststellungsklage gegen die Erblasserin eingebracht, aus der sich ergebe, dass diese durch den Liegenschaftsverkauf bereits „extremst gekränkt“ gewesen sei. Dem Beklagten sei ein Prozessbetrug mit einer gefälschten Urkunde vorzuwerfen.
[9] Der Beklagte habe seine Pflichten gegenüber der Erblasserin gröblich vernachlässigt, es habe nahezu 20 Jahre keinen Kontakt mehr gegeben.
[10] Der Beklagte bestreitet. Er sei nicht erbunwürdig, die Erblasserin habe ihn auch nicht enterbt. Die behaupteten relativen Erbunwürdigkeitsgründe hätten keinen Niederschlag im Testament gefunden und seien daher nicht beachtlich. Der Beklagte habe den Kontakt zur Erblasserin nicht grundlos abgelehnt, sondern aus seinem „Streben nach Freiheit“. Sowohl die dem Beklagten zur Last gelegte Urkundenfälschung als auch „allfällige Drohungen“ seien mit nicht mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht. Es liege nicht einmal ein versuchter Prozessbetrug vor, jedenfalls aber ein Rücktritt vom Versuch durch Zurückziehung der Klage.
[11] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es ging davon aus, dass der Beklagte vom versuchten Prozessbetrug durch Zurücknahme der Klage freiwillig zurückgetreten sei. Die bei der Erblasserin aufgrund der Vorwürfe gegen den Beklagten im Zusammenhang mit den Straftaten gegen den früheren Arbeitgeber eingetretene Kränkung sei zwar erheblich, allerdings habe der Beklagte keine Schritte zur „direkten“ Kränkung gesetzt.
[12] Vielmehr sei die Kränkung „wohl auf die mediale Berichterstattung“ zurückzuführen gewesen, sodass der Tatbestand des § 541 Z 2 ABGB nicht erfüllt sei. Der Kontaktabbruch sei „nur“ Folge des Entziehens vor einer Strafverfolgung gewesen.
[13] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es erwog, dass dem Beklagten höchstens ein versuchter Prozessbetrug zu Lasten der Erblasserin anzulasten sein könnte. Wegen § 166 StGB reiche dies aber nicht zur Annahme von Erbunwürdigkeit gemäß § 539 ABGB aus. Es schade daher nicht, dass Feststellungen zur subjektiven Tatseite des Beklagten und zur Freiwilligkeit des Rücktritts fehlten. Im Hinblick auf die weiteren Erbunwürdigkeitsgründe schloss sich das Berufungsgericht den Ausführungen des Erstgerichts an.
[14] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn gänzlicher Klagsstattgebung. Hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
[15] Der Beklagte beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.
[17] Die Klägerin argumentiert, dass im Anwendungsbereich des ErbRÄG 2015 auf die Privilegierung nach § 166 StGB generell nicht mehr Bedacht zu nehmen sei. Der Beklagte habe die Erblasserin durch die Einbringung der Servitutenklage und das langjährige Entziehen vor Strafverfolgung so schwer gekränkt, dass sie sich nicht mehr außer Haus getraut habe. Darüber hinaus habe er familienrechtliche Pflichten gröblich vernachlässigt, die Ablehnung des Kontakts sei grundlos erfolgt und vom Beklagten, der immerhin schwere Straftaten begangen habe, zu verantworten.
Dazu hat der Fachsenat erwogen:
[18] 1. Da die Erblasserin nach dem 31. Dezember 2016 verstorben ist, sind die hier maßgeblichen Bestimmungen der §§ 539 und 541 ABGB in der Fassung des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87) anzuwenden (§ 1503 Abs 7 Z 1 und 2 ABGB; 2 Ob 174/20g Rz 22).
[19] 2. Die im Zentrum der Revisionsausführungen stehende Frage, ob bei Beurteilung des Vorliegens einer zur Erbunwürdigkeit führenden strafbaren Handlung nach § 539 ABGB idF ErbRÄG 2015 die Bestimmung des § 166 StGB Berücksichtigung zu finden hat, hat der Fachsenat in der Entscheidung 2 Ob 200/23k vom 20. Februar 2024 dahin beantwortet, dass § 166 StGB im Fall einer strafbaren Handlung gegen den Erblasser auch im Anwendungsbereich des ErbRÄG 2015 Berücksichtigung zu finden hat. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht damit im Einklang.
[20] 3. Nach § 541 Z 2 ABGB ist (relativ) erbunwürdig, wer dem Erblasser in verwerflicher Weise schweres seelisches Leid zugefügt hat.
[21] 3.1. Nach den Gesetzesmaterialien kann dieses Leid darin liegen, dass der Erbe unabhängig von der Verletzung familiärer Pflichten den Erblasser in einer Notsituation im Stich gelassen, verächtlich gemacht oder sonst durch ein verpöntes Verhalten in eine sehr missliche Lage gebracht hat. In Betracht kommen dabei Verletzungen in der Rechtssphäre des Erblassers außerhalb des Strafrechts nach den §§ 1325 ff ABGB. Nicht erfasst sein sollen Schmerzen oder Leiden, die sich nur aus gesetzlich zulässigen und menschlich verständlichen Handlungen ergeben. Das Leid muss zudem objektiv nachvollziehbar sein, die das Leiden herbeiführende Handlung muss gesellschaftlich verpönt sein. Die konkrete Partner- oder Berufswahl eines Kindes etwa – mag sie auch für den Erblasser subjektiv betrachtet eine überaus leidvolle Erfahrung sein – ist nicht „verwerflich“ und erfüllt daher nicht den Tatbestand des § 541 Z 2 ABGB. Erforderlich ist schließlich eine gewisse Intensität der psychischen Beeinträchtigung, wie sie auch bei § 49 EheG verlangt wird. In Betracht kommen wiederholte Beschimpfungen, Psychoterror, aber auch die lang dauernde, gezielte Ausübung subtilen psychischen Drucks. Bei einem gelegentlichen Streit oder einer gelegentlichen verbalen Kränkung wird es hingegen im Allgemeinen an der geforderten Schwere des seelischen Leides fehlen (ErläutRV 688 BlgNR 25. GP 6).
[22] 3.2. In der Literatur finden sich auszugsweise folgende Stellungnahmen zu diesem durch das ErbRÄG 2015 neu eingeführten relativen Erbunwürdigkeitsgrund:
[23] 3.2.1. Likar‑Peer (in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 540 ABGB Rz 79 f sowie in Ferrari/Likar‑Peer, Erbrecht² Rz 8.44 ff) betont, dass sich der Tatbestand des § 541 Z 2 ABGB grundsätzlich aus einer objektiven und einer subjektiven Komponente zusammensetze. Der Erblasser müsse einerseits schweres seelisches Leid (subjektiv) empfunden haben, andererseits müsse auch ein „maßstabsgerechter“ Mensch in einer solchen Situation ebenso empfinden – das schwere seelische Leid müsse damit objektiv nachvollziehbar sein. In Grenzfällen– etwa bei einem Erblasser in sehr schlechter geistig‑seelischer Verfassung – könne auch auf die subjektive Komponente verzichtet werden. Unklar sei, welcher Verschuldensgrad für die Annahme von Erbunwürdigkeit erforderlich sei. Da § 541 Z 2 ABGB nach den Materialien ident mit dem Enterbungsgrund des § 770 Z 4 ABGB sei und dieser wiederum den Tatbestand des § 768 Z 2 ABGB aF mitumfasse, für dessen Verwirklichung grobes Verschulden genüge, sei grobe Fahrlässigkeit als ausreichend anzusehen.
[24] 3.2.2. Welser (Erbrechts‑Kommentar § 541 ABGB Rz 6) argumentiert, dass das Handeln „in verwerflicher Weise“ Wissen über das seelische Leid voraussetze, sodass grobe Fahrlässigkeit nicht ausreiche.
[25] 3.2.3. Bittner/Hawel (in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 770 Rz 2) betonen (zur als Parallelbestimmung zu § 541 Z 2 ABGB anzusehenden Norm des § 770 Z 4 ABGB), dass „verwerflich“ nicht mit „rechtswidrig“ gleichzusetzen sei, sondern unmoralisch oder tadelnswert meine. Die Handlung müsse zudem vorwerfbar – im Sinn von zumindest fahrlässig – sein. Im Spannungsfeld zwischen den (objektiv) berechtigten Erwartungen des Erblassers und der Privatautonomie des Pflichtteilsberechtigten werde die nötige Abwägung in der Regel zu Gunsten der Letzteren ausgehen. Die Familie solle auf Lebensentscheidungen des Pflichtteilsberechtigten keinen ungebührlichen Einfluss nehmen, zumal die Enterbungsmöglichkeit wegen eines sittlich anstößigen Lebenswandels durch das ErbRÄG 2015 beseitigt worden sei. Ein verwerfliches Vergehen liege nur dann vor, wenn der Erblasser eine Rücksichtnahme auf seine Belange und Wünsche billigerweise erwarten dürfe. Je wichtiger dem Erblasser das Anliegen objektiv sein dürfe und je weniger Einschränkungen seine Umsetzung dem Pflichtteilsberechtigten abverlange, umso eher dürfe der Erblasser eine Rücksichtnahme auf seine Belange und Wünsche billigerweise erwarten.
[26] 3.2.4. Gitschthaler (Erbunwürdigkeit/Enterbung bei Vernachlässigung familienrechtlicher Pflichten, EF‑Z 2018/51, 108 [111]) verweist darauf, dass die Ausführungen in den Materialien zur Notwendigkeit des Vorliegens einer „gesellschaftlich verpönten“ Handlung einen Rückgriff auf die Missbilligungsgründe der Eltern in Zusammenhang mit ihrer Verpflichtung zur Leistung einer Ausstattung (§ 1222 ABGB) zuließen.
[27] 3.3. Der Bestimmung des § 541 Z 2 ABGB ist durch die Verwendung des Verbums „zugefügt hat“ und des Dativobjekts „dem Erblasser“ zu entnehmen, dass die Annahme relativer Erbunwürdigkeit eine zumindest in einem gewissen Mindestumfang auf die Zufügung schweren seelischen Leides des Erblassers ausgerichtete Handlung voraussetzt.
[28] Nach den Gesetzesmaterialien wollte der Gesetzgeber den Begriff „verwerflich“ im Sinn einer „gesellschaftlich verpönten“ Handlung verstanden wissen. Es überzeugt damit die Auffassung von Bittner/Hawel, dass der potenziell Erbunwürdige nicht rechtswidrig, sondern (nur) unmoralisch oder tadelnswert handeln müsse (so auch Likar‑Peer in Ferrari/Likar‑Peer, Erbrecht² Rz 8.45). Ebenso zutreffend weisen diese Autoren – im Zusammenhang mit § 770 Z 4 ABGB – darauf hin, dass im Spannungsfeld zwischen den (objektiv) berechtigten Erwartungen des Erblassers und der Privatautonomie des Pflichtteilsberechtigten die nötige Abwägung in der Regel zu Gunsten der Letzteren ausgehen muss und die Familie auf Lebensentscheidungen des Pflichtteilsberechtigten keinen ungebührlichen Einfluss nehmen soll. Letzteres überzeugt schon wegen des Entfalls der Enterbungsmöglichkeit wegen eines sittlich anstößigen Lebenswandels im Rahmen des ErbRÄG 2015 (ErläutRV 688 BlgNR 25. GP 29: „nicht mehr zeitgemäß“). Ein verwerfliches Vorgehen liegt nach den zutreffenden Erwägungen von Bittner/Hawel damit nur dann vor, wenn der Erblasser eine Rücksichtnahme auf seine Belange und Wünsche billigerweise erwarten durfte. Je wichtiger dem Erblasser das Anliegen objektiv sein durfte und je weniger Einschränkungen seine Umsetzung dem Pflichtteilsberechtigten abverlangte, umso eher durfte der Erblasser eine Rücksichtnahme auf seine Belange und Wünsche billigerweise erwarten (ebenso Gitschthaler, EF‑Z 208/51, 111).
[29] 3.4. Nach den Feststellungen hat die Erblasserin unter der medialen Berichterstattung über die dem Beklagten zur Last gelegten Straftaten zum Nachteil seines früheren Arbeitgebers gelitten und sich deswegen geschämt, „unter Leute zu gehen“. Auch wenn die Handlungen des Beklagten bei der Erblasserin (über den Umweg medialer Berichterstattung) schweres seelisches Leid ausgelöst haben mögen, fehlte ihnen doch jede auf die Zufügung solchen Leids abzielende Handlung des Beklagten. Nach den Feststellungen resultierte der Kontaktabbruch nämlich aus dem Wunsch des Beklagten, sich einer Strafverfolgung entziehen (und in Freiheit bleiben) zu wollen. Zutreffend sind die Vorinstanzen damit davon ausgegangen, dass die Handlungen des Beklagten lediglich nach Art einer Reflexwirkung Auswirkungen auf die Erblasserin hatten. Die in der Revision vertretene Annahme, der Beklagte habe billigend in Kauf genommen, dass sich die Erblasserin für dessen Straftaten schämen müsse, entfernt sich von den getroffenen Feststellungen.
[30] 3.5. Soweit die Klägerin argumentiert, dass der Beklagte der Erblasserin durch die Einbringung der Servitutenklage schweres seelisches Leid zugefügt habe, handelt es sich um eine im Revisionsverfahren unbeachtliche Neuerung.
[31] 3.6. Als Zwischenergebnis folgt:
[32] Die Verwirklichung des relativen Erbunwürdigkeitsgrundes nach § 541 Z 2 ABGB setzt eine zumindest in einem gewissen Mindestumfang auf die Zufügung schweren seelischen Leids des Erblassers ausgerichtete Handlung voraus. „Verwerflich“ muss kein rechtswidriges, sondern kann auch (nur) ein unmoralisches oder tadelnswertes Handeln sein. Im Spannungsfeld zwischen den (objektiv) berechtigten Erwartungen des Erblassers und der Privatautonomie des potenziell Erbunwürdigen muss die nötige Abwägung in der Regel zu Gunsten der Letzteren ausgehen. Ob jemand dem Erblasser in verwerflicher Weise schweres seelisches Leid zugefügt hat, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.
[33] 3.7. Die in der Literatur umstrittene Frage, ob die Verwirklichung des Erbunwürdigkeitsgrundes nach § 541 Z 2 ABGB eine vorsätzliche oder doch nur eine grob fahrlässige Handlung des Erbunwürdigen voraussetzt, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben.
[34] 4. Nach § 541 Z 3 ABGB ist relativ erbunwürdig, wer sonst gegenüber dem Verstorbenen seine Pflichten aus dem Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern gröblich vernachlässigt hat.
[35] 4.1. Nach den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 688 BlgNR 25. GP 6) kann etwa die grundlose Ablehnung jeglichen Kontakts eines Kindes oder Elternteils über einen sehr langen Zeitraum eine gröbliche Vernachlässigung sein (krit dazu Gitschthaler, EF‑Z 2018/51, 113).
[36] 4.2. § 540 2. Fall ABGB aF stellt die Vorläuferbestimmung zu § 541 Z 3 ABGB dar (2 Ob 174/20g Rz 28), sodass die zu § 540 2. Fall ABGB aF ergangene Rechtsprechung grundsätzlich weiterhin Anwendung finden kann. Der Senat hat zu § 541 Z 3 ABGB – wenn auch obiter – bereits ausgesprochen, dass eine gröbliche Vernachlässigung der Pflichten aus dem Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern gegenüber dem Erblasser voraussetzt, dass mit der Pflichtverletzung in Form der Kontaktverweigerung ein Unwert im Sinn einer grundlosen Ablehnung verbunden ist (2 Ob 83/21a Rz 37). Eine solche gröbliche Vernachlässigung kann also nur bei gewichtiger oder schwer anstößiger Pflichtverletzung bejaht werden (2 Ob 60/19s Punkt 3. mwN [zu § 540 2. Fall ABGB aF]). Die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten Erbunwürdigkeit iSd § 541 Z 3 ABGB begründet, ist wegen ihrer Einzelfallbezogenheit keine erhebliche Rechtsfrage (2 Ob 10/22t Rz 3 mwN [zu § 540 2. Fall ABGB aF]).
[37] 4.3. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass das auf den Wunsch des Beklagten, sich der Strafverfolgung zu entziehen, zurückzuführende langjährige Meiden jeglichen Kontakts keine gröbliche Vernachlässigung der sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern ergebenden Pflichten darstelle, ist unter Beachtung der dargestellten Rechtsprechung schon wegen Vorliegens eines nachvollziehbaren Grundes für den Kontaktabbruch zutreffend.
[38] 5. Da ausgehend von den getroffenen Feststellungen weder eine Zufügung schweren seelischen Leids in verwerflicher Weise noch eine zu Erbunwürdigkeit nach § 541 Z 3 ABGB führende gröbliche Vernachlässigung der Pflichten aus dem Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern vorliegt, kann dahingestellt bleiben, ob die Annahme der Erbunwürdigkeit des Beklagten nach § 541 Z 2 und Z 3 ABGB überdies daran scheitern müsste, dass die Erblasserin in der Lage gewesen wäre, eine Enterbung anzuordnen.
[39] 6. Soweit die Klägerin in der Revision eine „Umdeutung“ des festgestellten Sachverhalts dahin anstrebt, dass dieser für eine Minderung des Pflichtteils ausreiche, handelt es sich um eine im Revisionsverfahren unzulässige Neuerung. Zudem erreicht der Zeitraum des fehlenden Kontakts zwischen dem Beklagten und der Erblasserin die in der Rechtsprechung im Regelfall geforderte Zeitspanne von zwanzig Jahren nicht (2 Ob 83/21a Rz 38).
[40] 7. Der außerordentlichen Revision war damit nicht Folge zu geben.
[41] 8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 iVm § 50 ZPO.
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