OGH 1Ob95/14y

OGH1Ob95/14y17.6.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** GmbH (richtig: J*****gesellschaft mbH), *****, vertreten durch Tramposch & Partner Rechtsanwälte KG in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1, Singerstraße 17‑19, wegen 119.882,46 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 8. April 2014, GZ 4 R 47/14i‑21, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 10. Jänner 2014, GZ 12 Cg 28/13t‑17, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0010OB00095.14Y.0617.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die Staatshaftung der Mitgliedstaaten bei Verletzung des Unionsrechts tritt unter drei Voraussetzungen ein: Erstens muss die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen wurde, die Verleihung von Rechten an die Geschädigten bezwecken, zweitens muss der Verstoß gegen diese Norm hinreichend qualifiziert sein und drittens muss zwischen dem entstandenen Schaden und dem vom Mitgliedstaat zu vertretenden Verstoß ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen (RIS‑Justiz RS0113922; EuGH 25. 11. 2010, C‑429/09, Fuß , Slg 2010, I‑12167, Rn 47). Die Beurteilung der Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten obliegt grundsätzlich den nationalen Gerichten (EuGH aaO Rn 48).

Ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht setzt nach der Rechtsprechung des EuGH (aaO Rn 51 f mwN) voraus, dass der Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, wobei zu den insoweit zu berücksichtigenden Gesichtspunkten insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie der Umfang des Ermessensspielraums gehören, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt. Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkannt wurde (vgl auch RIS‑Justiz RS0114183).

2. Am 27. 5. 2003 erließ der Landeshauptmann von Tirol für die Inntalautobahn (A 12) ein sektorales Fahrverbot (Sektorales Fahrverbot‑Verordnung [SF‑VO] 2003, BGBl II 2003/279), das Transporte von bestimmten Massengütern durch Lastkraftwagen mit einem 7,5 t übersteigenden höchstzulässigen Gesamtgewicht betraf. Der EuGH stellte mit Urteil vom 15. 11. 2005, C‑320/03, Slg 2005, I‑9871, fest, dass die Republik Österreich mit dieser Erlassung verkehrsbeschränkender Maßnahmen gegen ihre Verpflichtungen aus den Art 28 und 29 EG verstoßen hatte. Er gestand der Republik Österreich zu, dass diese aufgrund der Überschreitung der Schadstoffemissionsgrenzwerte im Sinn der Richtlinie 96/62/EG des Rates vom 27. 9. 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität nach deren Art 8 Abs 3 zum Handeln (Erstellen eines Aktionsplans zur Erreichung der Grenzwerte) verpflichtet gewesen war (Rn 80). Er vermisste aber eine schlüssige Darstellung, inwieweit die österreichischen Behörden bei Ausarbeitung der SF‑VO 2003 hinreichend untersucht hätten, ob das Ziel der Verringerung von Schadstoffemissionen nicht durch andere, den freien Verkehr weniger beschränkende Maßnahmen erreicht werden könnte und tatsächlich eine realistische Ausweichmöglichkeit auf andere Verkehrsträger oder andere Straßenverkehrsverbindungen bestünde (Rn 89).

3. Die am 17. 12. 2007 erlassene SF‑VO 2007 (LGBl für Tirol 2007/92) und die nachfolgenden Verordnungen (LGBl 2008/74; LGBl 2008/84; LGBl 2009/49 idF LGBl 2010/93) des Landeshauptmanns von Tirol verboten ‑ für die Klägerin relevant ‑ ab 1. 1. 2009 auf Abschnitten der A 12 den Transport von Keramikfliesen durch Lastkraftwagen oder Sattelkraftfahrzeuge mit einem 7,5 t übersteigenden höchstzulässigen Gesamtgewicht. Mit Urteil vom 21. 12. 2011, C‑28/09, stellte der EuGH fest, dass die Republik Österreich mit der Erlassung eines Sektoralen Fahrverbots durch die SF‑VO 2007 und die nachfolgenden Verordnungen gegen ihre Verpflichtungen aus den Art 28 und 29 EG verstoßen hat.

4. Der Oberste Gerichtshof hat bereits im Beschluss 1 Ob 44/12w ausgesprochen, dass den österreichischen Behörden bei Erlassung der SF‑VO 2007 keine offenkundige Verkennung der Vorgaben des EuGH, die ihnen als qualifiziert rechtswidrig im Sinn der Rechtsprechung des EuGH zum Unionsrecht oder als unvertretbar im Sinn des AHG vorzuwerfen wäre, unterlaufen ist. Vor Ausarbeitung und Erlassung der Verordnungen wurden verkehrstechnische Analysen und Vermessungen der Luftqualität vorgenommen, ein „Aktionsprogramm Luft“ erstellt sowie die Möglichkeit, auf Alternativrouten oder die „Rollende Landstraße“ auszuweichen, ebenso geprüft wie die Auswirkungen alternativer verkehrsbeschränkender Maßnahmen auf die Luftqualität.

5. Die Klägerin vermag in ihrer außerordentlichen Revision nicht aufzuzeigen, dass die Beurteilung der Vorinstanzen, die das auf die Erlassung der unionsrechtswidrigen SF‑VO 2007 und der weiteren Verordnungen gestützte Schadenersatzbegehren abwiesen, korrekturbedürftig ist.

Wenn die Klägerin vermeint, dass schon der Verstoß gegen die Bindungswirkung der Entscheidung C‑320/03 ein qualifiziert rechtswidriges Verhalten der verordnungserlassenden Behörde darstelle, ist darauf zu verweisen, dass der EuGH im Urteil vom 21. 12. 2011, C‑28/09, damit nicht argumentierte und darin auch nicht die Rechtswidrigkeit sah. Auch die von der Klägerin behauptete Diskriminierung durch die Auswahl der „bahnaffinen“ Güter und den Ausschluss des lokalen und regionalen Verkehrs vom Anwendungsbereich des sektoralen Fahrverbots erachtete der EuGH nicht als gegeben (Rn 131 ‑ 138). Der Punkt, an dem der EuGH das Sektorale Fahrverbot scheitern ließ, war dessen Erforderlichkeit. Die Republik Österreich hatte die Ungeeignetheit von zwei von der Kommission angeführten Alternativmaßnahmen ‑ die mögliche Ausweitung emissionsabhängiger Fahrverbote für Lkw ab 7,5 t und die Einführung einer ständigen Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h ‑ nicht nachgewiesen (Rn 140‑150). Die erstmalige Beurteilung des EuGH, dass der Beklagten der Nachweis der mangelnden Eignung der beiden genannten Alternativmaßnahmen nicht gelungen ist, führt noch nicht zu einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht. Nach dem in der Revision angesprochenen IG‑L‑Bericht 2006/2008 des Bundesministers für Land‑ und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft an den Nationalrat (Mai 2010) wurde auf der A 12 durch das verordnete dynamische Tempolimit die NO 2 ‑Belastung um 3,6 % reduziert und daneben durch das sektorale Fahrverbot eine Reduktion der NO 2 ‑Belastung um 1,5 % erzielt. Inwiefern die Beklagte dadurch gewusst haben soll, dass die im Verfahren C‑28/09 „aufgestellten Behauptungen nicht zu verifizieren sind“, ist nicht nachvollziehbar. Entgegen der Ansicht der Klägerin wurden die vom EuGH im Urteil C‑320/03 konkret genannten Beurteilungskriterien vor der Erlassung der SF‑VO 2007 berücksichtigt.

Ausgehend von den in Punkt 1. genannten Leitlinien ist die Beurteilung der Vorinstanzen, dass der Beklagten weder ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht noch eine unvertretbare Rechtsansicht (im Sinn des Amtshaftungsrechts) vorgeworfen werden kann, nicht zu beanstanden.

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