European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131916
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werdendahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich seines in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt lautet:
„1. Die Klageforderung besteht mit 3.316 EUR zu Recht.
2. Die eingewendete Gegenforderung besteht nicht zu Recht.
3. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 3.316 EURsamt 4 % Zinsen seit 16.10.2019 binnen 14 Tagen zu zahlen.
4. Das Mehrbegehren, die beklagten Parteien seien schuldig, dem Kläger weitere 2.954 EUR samt 4 % Zinsen seit 16.10.2019 zu zahlen, wird abgewiesen.“
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei an anteiliger Pauschalgebühr 172,70 EUR für das Verfahren erster Instanz sowie 314,05 EUR für das Verfahren zweiter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien deren mit 695,80 EUR (darin 76,73 EUR USt und 235,40 EUR Barauslagen) bestimmte Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger war als Lenker eines PKW an einem Verkehrsunfall mit dem von der Erstbeklagten gehaltenen und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten LKW (Müllwagen) beteiligt. Der Unfall erfolgte während einer „Dienstfahrt“ des Müllfahrzeugs. Dessen Lenker hielt das Fahrzeug am linken Fahrbahnrand mit eingeschalteter Warnblinkanlage und gelben Drehlicht an, um dem am Trittbrett mitfahrenden Mitarbeiter das Entleeren von Mülltonnen zu ermöglichen. Der Kläger lenkte seinen PKW mit einem Seitenabstand von 0,6 Meter mit Schrittgeschwindigkeit rechts am Müllfahrzeug vorbei. Als der Lenker des Müllwagens losfuhr, stieß er mit dem Fahrzeug des Klägers zusammen und beschädigte dieses. Der Kläger konnte auf das plötzliche Losfahren des Müllfahrzeugs nicht mehr reagieren. Hätte dessen Lenker in den Außenspiegel geblickt, hätte er den vorbeifahrenden PKW bemerken und die Kollision verhindern können.
[2] Der Kläger begehrt von den Beklagten den Ersatz des an seinem Fahrzeug entstandenen Schadens. Er stützt seinen Anspruch nur auf das EKHG.
[3] Die Beklagten wandten das alleinige Verschulden des Klägers am Unfall ein; die Erstbeklagte hielt der Klageforderung auch eine aus dem an ihrem Fahrzeug entstandenen Schaden abgeleitete Gegenforderung entgegen.
[4] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil die Klageforderung nicht zu Recht bestehe.
[5] Das Berufungsgericht änderte die erstinstanzliche Entscheidung ab, sprach aus, dass das Klagebegehren mit 4.974 EUR zu Recht und die von der Erstbeklagten eingewandte Gegenforderung nicht zu Recht bestehe, und verpflichtete die Beklagten zum Ersatz des genannten Betrags. Es ging davon aus, dass Ansprüche nach dem EKHG neben solchen nach dem AHG geltend gemacht werden können. Der Geschädigte habe daher die Möglichkeit, anstelle eines auf ein Organverschulden gestützten Amtshaftungsanspruchs die Haftung des Rechtsträgers als Fahrzeughalter in Anspruch zu nehmen. Darauf habe sich der Kläger beschränkt. Die durch den Unfall an beiden Fahrzeugen entstandenen Schäden seien nach § 11 Abs 1 EKHG jedoch nur der Erstbeklagten zuzurechnen, weil der Lenker ihres (Müll‑)Fahrzeugs den Unfall verschuldet habe, wohingegen den Kläger kein Verschulden treffe. Er habe nur die gewöhnliche Betriebsgefahr seines PKW zu verantworten, die hinter das Verschulden des Unfallgegners zurücktrete.
[6] Der Kläger habe aber keinen Anspruch auf Ersatz des gesamten von ihm geltend gemachten Schadens, den er aus der Differenz zwischen dem Wert seines Fahrzeugs vor dem Unfall und dem danach verbleibenden Restwert ableitet, weil er die (ihm konkret angebotene) Möglichkeit, das beschädigte Fahrzeug zu einem höheren als dem von ihm angesetzten Restwert zu verkaufen, ausgeschlagen und insoweit gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen habe. Es stehe ihm daher nur die Differenz zwischen dem Wert des Fahrzeugs vor dem Unfall und dem angebotenen Kaufpreis zu.
[7] Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht nachträglich zugelassen, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, „ob das Verschulden des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs als Organ aus den Haftungskriterien des § 11 EKHG herausfalle“.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision der Beklagten ist zulässig und teilweise berechtigt.
[9] 1. Nach ständiger Rechtsprechung schließen einander Amts- und Gefährdungshaftung nicht aus (RIS‑Justiz RS0049894 [T1]), weshalb der Geschädigte die Möglichkeit hat, neben oder anstelle eines Amtshaftungsanspruchs die Haftung des Rechtsträgers als Fahrzeughalter nach dem EKHG in Anspruch zu nehmen (vgl RS0049900; 1 Ob 135/18m mwN).
[10] 2. Die Gefährdungshaftung nach diesem Gesetz hat den Ersatz von Schäden zum Gegenstand, die nicht durch rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten, sondern durch den Betrieb einer gefährlichen Sache verursacht wurden (vgl nur Schauer in Schwimann/Kodek 4, Vorbemerkungen zum EKHG, Rz 1). Die betraglich beschränkte Haftung nach dem EKHG stellt sich gegenüber der unbeschränkten (deliktischen) Verschuldenshaftung nach den §§ 1295 ff ABGB nicht als aliud, sondern als minus dar (RS0038123), weshalb eine auf Verschulden gestützte Klage zwar die Haftung aus Gefährdung mit einschließt (RS0038123 [T1]), umgekehrt aber die Prüfung einer Haftung aus Verschulden nicht möglich ist, wenn der Anspruch nur auf das EKHG gegründet wird (vgl etwa SchaueraaO Rz 11 mit Judikaturnachweisen).
[11] 3. § 11 EKHG regelt die Schadensverteilung und den Schadensausgleich unter den Unfallbeteiligten für den Fall, dass – wie hier – mehrere Fahrzeuge einen Schaden herbeigeführt haben. Abs 1 erster Satz leg cit sieht einen Schadensausgleich (Regress) zwischen mehreren Beteiligten, die einem Dritten für einen Schaden ersatzpflichtig geworden sind, vor und normiert, dass dabei in erster Linie das jeweilige Verschulden der Beteiligten und in zweiter Linie die von den jeweiligen Fahrzeugen ausgehende (gewöhnliche oder außergewöhnliche) Betriebsgefahr zu berücksichtigen sind. Der zweite Satz dehnt diese Abwägungsregel auf die „gegenseitige Ersatzpflicht“ der Beteiligten aus und ordnet damit die Zurechnung der durch den Unfall entstandenen Schäden unter umfassender Berücksichtigung und Abwägung sämtlicher genannten Umstände auf beiden Seiten an (vgl RS0058418; zur Anwendung auf Fälle, bei denen durch einen Unfall mit mehreren Fahrzeugen nur eines beschädigt wurde, siehe 2 Ob 15/81 mwN).
[12] 4. Da die Schadenszurechnung bei (ausschließlich) auf das EKHG gestützten Ersatzansprüchen ebenso nach dessen § 11 Abs 1 zweiter Satz zu erfolgen hat, wie bei (zumindest auch) aufgrund des ABGB erhobenen Ansprüchen (vgl RS0058396; siehe auch Schauer aaO § 11 EKHG Rz 12; Koziol / Apathy / Koch , Haftpflichtrecht III³ [2014] A/2/88), können die dort normierten Zurechnungskriterien im Einzelfall nur dann herangezogen werden, wenn sie in der geltend gemachten Anspruchsgrundlage Deckung finden. Hat sich der Geschädigte – wie hier der Kläger – nur auf eine (Gefährdungs‑)Haftung des Unfallgegners nach dem EKHG berufen, sind bei der für die Schadenszurechnung nach § 11 Abs 1 zweiter Satz EKHG vorzunehmenden Abwägung auf Seite des Schädigers nur jene Umstände zu berücksichtigen, die eine Haftung auf dieser Rechtsgrundlage begründen könnten, sohin die vom schädigenden Fahrzeug ausgehende gewöhnliche oder außergewöhnliche Betriebsgefahr, nicht hingegen das Verschulden dessen Lenkers. In diesem Sinn ist auch die vom Fachsenat für Verkehrssachen zu 2 Ob 273/62 (ZVR 1963/179, RS0058075) gefällte Entscheidung zu verstehen, wonach dann, wenn der Geschädigte seinen Anspruch nur auf die Gefährdungshaftung des EKHG stützt, ein allfälliges Verschulden des Schädigers (ersichtlich gemeint: bei der Anwendung des § 11 EKHG) „nicht in den Kreis der Betrachtung zu ziehen“ ist. Damit stellen sich aber auch Fragen einer Verschuldenshaftung nach dem AHG nicht, womit der Verweis des Revisionsgegners auf die Entscheidung zu 1 Ob 49/95 in jeder Hinsicht ins Leere geht.
[13] 5. Soweit der Revisionsgegner argumentiert, dass der Oberste Gerichtshof auch ein bloß „verkehrswidriges“– nicht zwingend schuldhaftes – Verhalten des Unfallgegners für die Schadenszurechnung nach § 11 Abs 1 zweiter Satz EKHG ausreichen lässt, ist ihm zu entgegnen, dass nach der damit angesprochenen Rechtsprechung des zweiten Senats (RS0110986) nur die außergewöhnliche Betriebsgefahr eines Fahrzeugs demjenigen Unfallbeteiligten gegenüber außer Betracht zu bleiben hat, der diese durch ein „verkehrswidriges“ Verhalten verursachte (vgl 2 Ob 80/10v mwN). Dass dieses Verhalten nicht unbedingt schuldhaft gewesen sein muss, wird damit begründet, dass mitunter auch ein schuldloses „verkehrswidriges“ Verhalten andere Verkehrsteilnehmer zu folgenschweren Reaktionen zwingt (wodurch eine außergewöhnliche Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs hervorgerufen wird) und es nicht sachgerecht wäre, jemanden für einen Schaden verantwortlich zu machen, wenn die ihn verursachende außergewöhnliche Betriebsgefahr durch den Unfallgegner herbeigeführt wurde (vgl 2 Ob 2341/96w). Dass für die Schadenszurechnung nach § 11 Abs 1 zweiter Satz EKHG auch in anderen Fällen ein bloß „verkehrswidriges“ Verhalten des Schädigers ausreicht, kann weder dieser Bestimmung noch der vom Kläger ins Treffen geführten Judikatur entnommen werden.
[14] 6.1. Für die Beurteilung der Klageforderung ergibt sich somit, dass für die Zurechnung des Schadens des Klägers, der die Haftung der Erstbeklagten ausschließlich auf das EKHG stützte, auf deren Seite nur die von ihrem (Müll‑)Fahrzeug ausgehende Betriebsgefahr (und nicht auch das Verschulden des Lenkers) zu berücksichtigen ist. Die Beklagten warfen dem Kläger zwar ein Verschulden am Unfall vor. Da sich ein solches nicht ergab, ist auch auf Seite des Klägers (für die Zurechnung seines Schadens) nur die von seinem Fahrzeug ausgehende Betriebsgefahr in die Abwägung nach § 11 Abs 1 EKHG einzubeziehen. Da bei keinem Unfallbeteiligten eine außergewöhnliche Betriebsgefahr vorlag, sind einander die gewöhnlichen Betriebsgefahren beider Fahrzeuge gegenüberzustellen. Ein LKW weist bereits aufgrund seiner Größe und seines Gewichts gegenüber einem PKW eine typischerweise höhere Betriebsgefahr auf (vgl 2 Ob 639/59 = ZVR 1960/168; siehe auch RS0058677). Da sich diese bei einem Müllfahrzeug durch das laufende Anfahren und Stehenbleiben noch weiter erhöht, ist der Schaden am Fahrzeug des Klägers zu einem Drittel diesem und zu zwei Dritteln der Erstbeklagten zuzurechnen. Ausgehend von einem festgestellten Schaden des Klägers von 4.974 EUR besteht die Klageforderung daher mit 3.316 EUR zu Recht.
[15] 6.2. Da der Kläger seinen Ersatzanspruch auch gegenüber dem zweitbeklagten Haftpflichtversicherer nur auf das EKHG stützte, haftet auch dieser – wie die Erstbeklagte – bloß im genannten Umfang. Ob sich der Kläger – im Hinblick auf die Schadensverursachung durch eine hoheitliche Tätigkeit der Erstbeklagten – gegenüber dem Versicherer auf die Verschuldenshaftung nach dem ABGB berufen hätte können, was er in seiner Revisionsbeantwortung vertritt, kann dahingestellt bleiben.
[16] 7. Die aus der Beschädigung des Müllfahrzeugs der Erstbeklagten abgeleitete Gegenforderung wurde zwar auf ein Verschulden des Klägers gestützt. Da ein solches – wie dargelegt – nicht erwiesen werden konnte, ist auch bei der Beurteilung der Ersatzforderung der Erstbeklagten im Rahmen des § 11 Abs 1 EKHG nur die vom PKW ausgehende gewöhnliche Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Umgekehrt hielt der Kläger der Gegenforderung nicht nur die vom Müllfahrzeug ausgehende – im Vergleich zum PKW höhere – Betriebsgefahr entgegen, sondern auch das Verschulden des Lenkers dieses Fahrzeugs. Da dieser nach den erstinstanzlichen Feststellungen den Unfall allein verschuldet hat, wodurch die vom PKW des Klägers ausgehende gewöhnliche Betriebsgefahr zur Gänze zurückgedrängt wird (vgl RS0058551), kommt der Gegenforderung keine Berechtigung zu. Fragen des AHG stellen sich auch insoweit nicht, geht es doch um einen vom und nicht gegen den Rechtsträger erhobenen Anspruch.
[17] 8. Aufgrund der Abänderung der Entscheidung der Vorinstanzen ist die Kostenentscheidung für alle drei Instanzen neu zu fassen. In erster und zweiter Instanz obsiegten die Parteien jeweils rund zur Hälfte, sodass insoweit Kostenaufhebung eintritt (§ 43 Abs 1 ZPO; hinsichtlich des Berufungsverfahrens iVm § 50 ZPO) und die Beklagten dem Kläger die halbe Pauschalgebühr für das Verfahren erster und zweiter Instanz zu ersetzen haben. Im Revisionsverfahren drangen die Beklagten mit rund 90 % ihres Rechtsmittelantrags durch; die Kostenentscheidung beruht daher insoweit auf §§ 50, 43 Abs 2 erster Fall ZPO.
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