OGH 1Ob4/08g

OGH1Ob4/08g26.2.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Univ.-Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau, Dr. E. Solé und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der Antragstellerin Carolin P*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Hirsch und Dr. Ursula Leissing, Rechtsanwälte in Bregenz, wider die Antragsgegnerin Monika P*****, vertreten durch Dr. Arnulf Summer, Dr. Nikolaus Schertler und Mag. Nicolas Stieger, Rechtsanwälte in Bregenz, wegen Feststellung des Nichtbestehens einer Unterhaltspflicht, über den Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 30. Oktober 2007, GZ 1 R 253/07z-29, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 2. September 2007, GZ 14 FAM 2/06g-25, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin ist schuldig, der Antragstellerin binnen vierzehn Tagen die mit 199,87 EUR (darin enthalten 33,31 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Antragstellerin ist die (volljährige) Tochter der Antragsgegnerin. Seit ihrem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch am 6. September 1987 liegt die Antragsgegnerin im Koma. Sie ist in einem Seniorenheim untergebracht und wird dort gepflegt.

Mit ihrer am 28. März 2006 beim Bezirksgericht Bregenz eingelangten „Klage" begehrte die Antragstellerin die Feststellung des Nichtbestehens einer Unterhaltspflicht gegenüber ihrer Mutter. Mit Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Bregenz vom 15. Juni 2005 seien sie und ihr Bruder darauf hingewiesen worden, dass die Antragsgegnerin aus Mitteln der Sozialhilfe unterstützt werde und diese Unterstützung monatlich 1.600 EUR betrage. Nach Rechtsansicht der Verwaltungsbehörde sei sie ihrer Mutter gegenüber unterhaltspflichtig und daher gemäß § 10 des Vorarlberger Gesetzes über die Sozialhilfe verpflichtet, im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht und Leistungsfähigkeit die Kosten der Sozialhilfe zu ersetzen. Als sie das Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Bregenz erreicht habe, seien weder sie noch ihr Bruder selbsterhaltungsfähig gewesen. Sobald sie jedoch ihr Medizinstudium abgeschlossen habe und über ein eigenes Einkommen verfügen werde, sei zu befürchten, dass sie von der Verwaltungsbehörde zur Zahlung eines Kostenbeitrags für den Unterhalt ihrer Mutter herangezogen werde. Die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens einer Unterhaltspflicht zwischen Kindern und Eltern sei von den Gerichten zu beurteilen. Diese Frage stelle eine Vorfrage im Verwaltungsverfahren vor der Bezirkshauptmannschaft dar, in welchem über eine allfällige Kostenersatzpflicht nach dem Vorarlberger Sozialhilfegesetz entschieden werde. Sie habe daher ein rechtliches Interesse an der gerichtlichen Feststellung, dass sie gegenüber ihrer Mutter grundsätzlich nicht zu Unterhalt verpflichtet sei. Zum Zeitpunkt, als die Mutter den Selbstmordversuch unternommen habe, sei sie fünf und ihr Bruder sieben Jahre alt gewesen. Es habe ihrer Mutter bewusst sein müssen, dass sie danach nicht mehr in der Lage sein werde, ihren Unterhaltspflichten nachzukommen. Darin sei eine gröbliche Verletzung der Unterhaltsverpflichtung zu sehen.

Die Antragsgegnerin wendete im Wesentlichen ein, sie habe sich im Zeitpunkt ihres Selbstmordversuchs in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden. Von einem bewussten „Imstichlassen" ihrer Kinder könne keine Rede sein. Auch ein Selbstverschulden an der Notlage des Elternteils schließe dessen Unterhaltsanspruch gegenüber einem Kind nicht aus.

Das Erstgericht stellte im Wesentlichen folgenden (weiteren) Sachverhalt fest:

Die Antragsgegnerin versorgte die Antragstellerin und ihren Bruder bis zum 6. September 1987 ordnungsgemäß. An diesem Tag unternahm sie einen Selbstmordversuch, der fehlschlug. Seither liegt sie im Koma, ist gelähmt und nicht ansprechbar. Eine Kommunikation mit ihr ist nicht möglich. Es kann nicht festgestellt werden, dass sie anlässlich des Selbstmordversuchs psychisch krank war. Die Kosten für das Pflegeheim, in welchem sie betreut wird, werden zum Teil durch ihre monatliche Pension und durch Unterhaltsbeiträge ihres geschiedenen Ehegatten bzw ihres Vaters abgedeckt. Darüber hinaus werden aus Mitteln der Sozialhilfe durchschnittlich 1.600 EUR monatlich beigesteuert. An eigenem Vermögen besitzt die Antragsgegnerin Wertpapiere, die am 22. Mai 2006 einen Gesamtkurswert von 90.036 EUR hatten. Derzeit weist das Wertpapierdepot aufgrund ständiger Abbuchungen für Ausgaben einen geringeren Gesamtkurswert auf; dessen genaue Höhe kann nicht festgestellt werden.

Die Antragstellerin wird für ihr Medizinstudium voraussichtlich noch zwei Semester benötigen. Sie erhält von ihrem Vater monatliche Unterhaltsbeiträge von derzeit 720 EUR. Außer einem Sparbuch mit einem Einlagestand von 1.000 EUR und einem Bausparguthaben von ca 800 EUR verfügt sie über kein Vermögen. Mit Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Bregenz vom 15. Juni 2005 wurde der Antragstellerin mitgeteilt, dass sie nach den Bestimmungen des ABGB gegenüber ihrer Mutter unterhaltspflichtig sei, weswegen sie gemäß § 10 des Sozialhilfegesetzes verpflichtet sei, im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht und Leistungsfähigkeit die geleisteten Sozialhilfebeiträge zu ersetzen. Unter einem wurde sie aufgefordert, ihre Einkommensverhältnisse offen zu legen, damit überprüft werden könne, ob sie zu einem Kostenbeitrag heranziehbar sei. Ein gleichlautendes Schreiben erhielt der Bruder der Antragstellerin. Dessen Rechtsvertreterin nahm gegenüber der Verwaltungsbehörde den Standpunkt ein, dass keine Unterhaltspflicht bestünde, weil die Antragsgegnerin ihre Unterhaltspflichten gegenüber den Kindern gröblich vernachlässigt habe. Die Bezirkshauptmannschaft teilte daraufhin dem Bruder der Antragstellerin mit, dass sie diese Rechtsansicht nicht teile. Eine endgültige Beurteilung dieser Frage sei jedoch derzeit nicht notwendig, da der Bruder mangels Einkommens derzeit ohnehin nicht zum Kostenersatz verpflichtet werden könne.

Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht nach Durchführung eines streitigen Verfahrens das „Klagebegehren" mit der Begründung ab, es bestehe kein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung.

Das Gericht zweiter Instanz erklärte aus Anlass der Berufung der Klägerin das Urteil sowie das gesamte erstinstanzliche Verfahren ab Klagszustellung für nichtig und trug dem Erstgericht auf, die als einen im außerstreitigen Verfahren gestellten Antrag umzudeutende Klage im Außerstreitverfahren zu behandeln und zu erledigen. Der streitige Rechtsweg ist unzulässig.

Im zweiten Rechtsgang gab das Erstgericht dem Antrag der Antragstellerin statt. Über die Frage, ob eine Unterhaltspflicht der Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin bestehe, seien die zivilen Gerichte entscheidungsbefugt. Habe die Verwaltungsbehörde im Sinne des § 10 des Vorarlberger SHG über eine etwaige Ersatzpflicht zu entscheiden, so stelle die Frage des Bestehens der Unterhaltspflicht dort eine Vorfrage dar. Eine solche habe die Verwaltungsbehörde nur dann selbst zu entscheiden, wenn nicht bereits eine gerichtliche Entscheidung vorliege. Es sei sohin im Interesse der Antragstellerin gelegen, dass bereits jetzt von einem Gericht festgestellt werde, ob eine Unterhaltspflicht gegenüber ihrer Mutter bestehe. Eine rechtskräftige Entscheidung der Zivilgerichte könne als Grundlage für das Verwaltungsverfahren herangezogen werden und erübrige einen weiteren Rechtszug im Verwaltungsverfahren. Dass die Antragstellerin derzeit noch über kein eigenes Einkommen verfüge, schade nicht. Die Vorschreibung des Ersatzanspruchs nach § 10 SHG werde nur eine Frage der Zeit sein, weil die Bezirkshauptmannschaft schon jetzt ihrer Rechtsmeinung Ausdruck verliehen habe, es sei dem Grunde nach vom Bestehen einer Unterhaltspflicht gegenüber der Antragsgegnerin auszugehen. Auch bedingte Rechte seien schon vor Eintritt der Bedingung feststellungsfähig, sofern nur mehr der Eintritt der Bedingung - hier die Selbsterhaltungsfähigkeit der Antragstellerin - offen stehe. Es liege daher ein rechtliches Interesse der Antragstellerin vor, vorweg eine gerichtliche Entscheidung über das (Nicht-)Bestehen ihrer Unterhaltspflicht zu erhalten. Bei Klärung der Frage, ob eine gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht vorliege, seien Verschuldenselemente nicht einzubeziehen, da es sich bei der „gröblichen Unterhaltsverletzung" um einen objektiven Tatbestand handle, welcher keine subjektiven Elemente enthalte. Selbst wenn auf ein Verschulden abzustellen wäre, wäre eine gröbliche Unterhaltsverletzung zu bejahen, weil der Antragsgegnerin beim Selbstmordversuch habe klar sein müssen, dass sie ihren elterlichen Pflichten nicht mehr werde nachkommen können. Dass sie sich mit diesem Umstand abgefunden habe, sei ihr als Verschulden anzulasten.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es bejahte das Feststellungsinteresse der Antragstellerin aus den vom Erstgericht genannten Gründen. Der Wille der Antragsgegnerin, sich das Leben zu nehmen, habe jedenfalls mitumfasst, dass die Möglichkeit, für die Kinder zu sorgen, ein für allemal beseitigt sei. Diesen Erfolg ihres Handelns habe die Antragsgegnerin billigend in Kauf genommen. Eine gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht sei daher zu bejahen. Damit entfalle die Verpflichtung der Antragstellerin, ihrer Mutter in Hinkunft Unterhalt leisten zu müssen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Antragsgegnerin ist unzulässig.

1. Die Antragstellerin begehrt im Hinblick auf die ihr drohenden Kostenersatzansprüche nach § 10 Vorarlberger SHG die gerichtliche Feststellung das Nichtbestehen ihrer Unterhaltspflicht. Dass ihr diesbezüglicher Feststellungsantrag einen privatrechtlichen Anspruch iSd § 1 JN betrifft, über den die ordentlichen Gerichte zu entscheiden haben, ist unzweifelhaft; ebenso, dass für gesetzliche Unterhaltsansprüche zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern zufolge § 101 AußStrG und § 114 JN nunmehr der außerstreitige Rechtsweg vorgesehen ist (Deixler-Hübner in Rechberger, AußStrG § 101 Rz 1). Im Außerstreitverfahren ist ein Feststellungsbegehren möglich, wenn dies in der materiellen Rechtslage angelegt ist (Rechberger, AußStrG § 9 Rz 7). Eine einem Feststellungsgbegehren stattgebende Entscheidung darf das Gericht immer nur dann fällen, wenn das von Amts wegen zu prüfende Feststellungsinteresse als Voraussetzung für die Begründetheit des Feststellungsanspruchs vorliegt (SZ 54/126; 1 Ob 16/93 ua; Fasching, Lehrbuch² Rz 1102). Auch noch im Rechtsmittelverfahren ist das Fehlen des rechtlichen Interesses von Amts wegen wahrzunehmen, allerdings bezogen auf den Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz (JBl 1975, 94; Fasching in Fasching/Konecny2 III § 228 ZPO, Rz 126 f). Bezogen auf diesen Zeitpunkt ist das Feststellungsinteresse im vorliegenden Fall zu bejahen. Bereits zu Beginn dieses Verfahrens berühmte sich die Antragsgegnerin des Bestehens der Unterhaltspflicht der Antragstellerin und bestritt vehement das Vorliegen einer gröblichen Unterhaltsverletzung. Schon deshalb ist das rechtliche Interesse an der begehrten Feststellung zu bejahen (Fasching aaO Rz 30).

2. Tatsachenfeststellungen können - von hier nicht geltend gemachten Aktenwidrigkeiten abgesehen - vor dem Obersten Gerichtshof nicht gerügt werden (Klicka in Rechberger, AußStrG § 66 Rz 3 mwN; RIS-Justiz RS0007236). Die Negativfeststellung, es könne nicht festgestellt werden, dass die Antragsgegnerin „anlässlich des Suizidversuchs" psychisch krank war, entzieht sich demnach der Anfechtungsmöglichkeit.

3. Unter welchen Voraussetzungen von einer gröblichen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht iSd § 143 Abs 1 ABGB auszugehen ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Insbesondere sind die Dauer der Pflichtverletzung, das bisherige Verhalten des zum Unterhalt Verpflichteten und die Gründe für die Nichterbringung abzuwägen (vgl VwGH 28. 1. 2003, 2001/11/0300). Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, unter Berücksichtigung der im vorliegenden Fall gegebenen Umstände sei der Tatbestand der gröblichen Unterhaltsverletzung zu bejahen, stellt keine grobe Verkennung der Rechtslage im Sinn einer gravierenden Fehlbeurteilung dar. Die Beurteilung durch das Rekursgericht, dass sich die Antragsgegnerin mit bedingtem Vorsatz ihrer Unterhaltspflicht entzog, zumal eine psychische Krankheit nicht feststellbar war, begegnet keinen Bedenken und ist logisch einwandfrei. Die in der Lehre unterschiedlich beantwortete Frage, ob bereits grobe Fahrlässigkeit für die gröbliche Verletzung der Unterhaltspflicht ausreiche (siehe nur Neuhauser in Schwimann, ABGB³, Rz 2 zu § 143 mwN) stellt sich demnach nicht. Hat die Antragsgegnerin aber mit bedingtem Vorsatz in Kauf genommen, dass ihre Kinder im Alter von damals 5 bzw 7 Jahren auf Dauer ihre Unterhaltsleistungen entbehren müssen, dann liegt gewiss - ohne auf die (nicht mehr feststellbaren) Hintergründe für den Selbstmordversuch eingehen zu müssen - eine gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht vor. Jedenfalls handelt es sich dabei aber um keine gravierende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts, die einer Korrektur bedürfte. Dass eine oberstgerichtliche Rechtsprechung zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehlt, bedeutet noch nicht, dass die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage des materiellen Rechts abhinge (vgl 1 Ob 23/04w).

Da die Antragsgegnerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG aufzeigt, ist ihr Revisionsrekurs als unzulässig zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Abs 2 AußStrG. Die Antragstellerin hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses hingewiesen. Demnach gebühren ihr die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung.

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