OGH 1Ob248/06m

OGH1Ob248/06m28.11.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Univ. Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Nura A*****, geboren am *****, infolge Revisionsrekurses deren Eltern 1) Dipl. Ing. Dr. Esam A*****, und 2) Karin A*****, beide *****, vertreten durch Dr. Martin Holzer, Rechtsanwalt in Bruck a. d. Mur, gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom 9. Oktober 2006, GZ 2 R 118/06m-S35, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Leoben vom 17. August 2006, GZ 1 P 26/99y-S32, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die am 14. 12. 1989 geborene Nura hat fünf Geschwister im Alter zwischen sechs und zwanzig Jahren. Nach Konflikten mit ihren Eltern - insbesondere mit ihrem Vater - verließ sie den elterlichen Haushalt im April 2005. Danach wurde sie vorübergehend in einer Grazer Kriseneinrichtung betreut. Seit 24. 5. 2005 ist sie in einem burgenländischen Kinderdorf untergebracht und besucht ein Realgymnasium in Wr. Neustadt.

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 24. 5. 2005 übertrug das Erstgericht die Pflege und Erziehung der Minderjährigen im Rahmen einer Provisorialmaßnahme vorläufig dem Jugendwohlfahrtsträger. Am 17. 5. 2006 beantragte der Jugendwohlfahrtsträger, den Eltern die Obsorge für Nura zu entziehen und diese ihm zu übertragen. Es habe sich „an dem für die Minderjährige äußerst belastenden und mitunter deprimierenden Verhalten der Kindeseltern ... nichts verändert". Die begehrte Übertragung entspreche dem Wohl der Minderjährigen, die mit ihrem Leben im Kinderdorf und ihrer Schulausbildung „in Richtung Matura" zufrieden sei.

Die Eltern sprachen sich gegen eine „dauerhafte Obsorgeübertragung" an den Jugendwohlfahrtsträger aus. Die Verantwortlichen des Kinderdorfs unterbänden ihren Verkehr mit Nura. Deren weiterer Aufenthalt dort sei dem „Wiederfinden" einer gedeihlichen Eltern-Kind-Beziehung „absolut abträglich". Ihre Ehe verlaufe jetzt wieder harmonisch. Daher würden sie ihre Tochter wieder in den elterlichen Haushalt aufnehmen wollen. Sie seien zu einer Mediation sowie zur Inanspruchnahme jeglicher Form einer Familientherapie mit psychologischer Unterstützung bereit. Überdies könnten sie ihrer Tochter, die ihnen und den Geschwistern abgehe, „ein weitaus besseres soziales Umfeld bieten als das Jugendhaus".

Der Jugendwohlfahrtsträger setzte sich gegen die Behauptung zur Wehr, Verantwortliche des Kinderdorfs unterbänden den Kontakt der Minderjährigen mit ihren Eltern. Auch sonst schloss er sich der „Gegenäußerung" des Kinderdorfs „vollinhaltlich an". Eine Gleichschrift dieser Äußerung des Jugendwohlfahrtsträgers wurde dem Bevollmächtigten der Eltern am 13. 7. 2006 zugestellt. Dieser Stellungnahme war die „Gegenäußerung" des Kinderdorfs nach dem aktenkundigen Zustellnachweis nicht angeschlossen.

Die Minderjährige erklärte am 10. 8. 2006 vor einem Rechtshilfegericht, sie hätte - abgesehen von ihrem Vater - grundsätzlich gern Kontakt mit ihrer Familie. Die bisherigen Ereignisse sprächen jedoch dagegen. Es käme im Familienverband immer wieder zu für sie sehr belastenden Situationen. Der erwünschte Kontakt mit der Mutter und den Geschwistern werde nicht von Verantwortlichen des Kinderdorfs, sondern von ihrem Vater unterbunden. Sie fühle sich im Kinderdorf „ausgesprochen gut aufgehoben". Es gehe ihr dort wesentlich besser als zuvor. Sie trete dem Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers bei, die Obsorge für sie an diesen zu übertragen. Sie verspreche sich davon eine Stärkung ihrer Position, um mit väterlichem Druck nicht mehr konfrontiert zu sein. Eine Kontaktanbahnung mit den Eltern im Zuge einer Mediation könne sie sich in Kenntnis eines solchen Verfahrens „nicht vorstellen". Sie spreche sich „definitiv dagegen aus". Sie würde sich wünschen, dass ihre Eltern ihre Entscheidung endlich akzeptierten und sie „in dieser Hinsicht in Ruhe" ließen. Eine Kopie des gerichtlichen Protokolls über diese Stellungnahme der Minderjährigen wurde dem Bevollmächtigten deren Eltern am 21. 8. 2006 zugestellt. Bereits mit Beschluss vom 17. 8. 2006 hatte das Erstgericht den Eltern die Obsorge für die Minderjährige entzogen und sie dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen. Es stützte sich auf jahrelange innerfamiliäre Konflikte und auf die „deutlichen und nachvollziehbaren Präferenzen der Minderjährigen". Für die Entziehung der elterlichen Rechte könne zwar nicht „der Wunsch des Kindes allein entscheidend sein", je älter ein Kind sei, umso eher komme jedoch seinem Wunsch nach einem Obsorgewechsel Bedeutung zu. Die Rechtsprechung verlange schwerwiegende Gründe, um dem Wunsch einer bald siebzehnjährigen Minderjährigen in der Obsorgefrage nicht zu entsprechen.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage gemäß § 62 Abs 1 AußStrG abhänge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und hob die zwischen den Eltern schon seit Jahren bestehenden Konflikte hervor. Deshalb sei nach deren Angaben ein Scheidungsverfahren anhängig gewesen und der Vater aus der ehelichen Wohnung vorübergehend ausgezogen. Die Eltern selbst hätten im Übrigen auf „massive Schwierigkeiten" zwischen Nura einerseits sowie dem Vater und den Brüdern andererseits hingewiesen. Sie hätten nach der Abmeldung Nuras von zwei Schulen in Leoben erwogen, ihre Tochter in Salzburg unterzubringen. Es habe somit schon vor dem Auszug des Mädchens schwere Konflikte gegeben, die innerhalb der Familie nicht behebbar gewesen seien. Diese innerfamiliäre Situation könne im Verhältnis zu Nura bereits wegen ihrer Dauer nicht mehr mit bloß pubertären oder adoleszenten Problemen der Minderjährigen abgetan werden. Diese werde als „in ihrer Kommunikation und Interaktion erheblich reif, intellektuell hochbegabt, an einer reflektierenden Auseinandersetzung mit der Welt, in der sie lebt, interessiert, durchsetzungsfähig, kreativ, sportlich leistungsfähig und über weite Strecken sehr selbstdiszipliniert beschrieben". Auch „ihre schulische Situation" gelte „als ausreichend stabil und nicht besorgniserregend". Angesichts dessen entspräche ihre Rückführung in den elterlichen Haushalt nicht ihrem Wohl. Der Vater sei außerstande, seine elterlichen Pflichten zu erfüllen. Er könne Nura nicht den für ihre gedeihliche Entwicklung gebotenen Freiraum gewähren. Der Revisionsrekurs der Eltern ist unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

1. Der Oberste Gerichtshof hielt zuletzt in der Entscheidung 5 Ob 36/06i den ernstlich geäußerten Wunsch einer Vierzehnjährigen nach einem Obsorgewechsel - dort von der Mutter auf den Vater - für einen wichtigen, eine solche Entscheidung tragenden Grund. Die Aufrechterhaltung einer bestehenden Obsorgeregelung gegen den Widerstand eines mündigen Kindes sei, sofern nicht schwerwiegende Gründe dagegen sprächen und sich dessen Wunsch nicht gegen seine offenbar erkennbaren Interessen richte, abzulehnen. Diese - im Schrifttum gebilligte (Hopf in KBB § 176 ABGB Rz 7; Weitzenböck in Schwimann, ABGB³ § 176 Rz 27) - Ansicht entspricht der ständigen Rechtsprechung (siehe dazu im Einzelnen etwa 1 Ob 172/01b = JBl 2002, 374). Sie spiegelt vor allem auch die gesetzliche Verpflichtung der Eltern gemäß § 146 Abs 3 ABGB wider, in Angelegenheiten der Pflege und Erziehung auf den Willen eines einsichts- und urteilsfähigen Kindes Bedacht zu nehmen, soweit dem nicht dessen Wohl oder die Lebensverhältnisse der Eltern entgegenstehen (5 Ob 36/06i; 1 Ob 172/01b). Gemäß § 146 Abs 3 ABGB ist der Wille des Kindes umso maßgeblicher, je mehr es den Grund und die Bedeutung einer seiner Pflege und Erziehung geltenden Maßnahme einzusehen und seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen vermag. Insofern kommt deshalb der Meinung eines mündigen Minderjährigen im Allgemeinen bereits entscheidende Bedeutung zu (Hopf aaO; Stabentheiner in Rummel, ABGB³ § 176-176b Rz 6a), soll doch einem solchen Minderjährigen das Andauern einer bestimmte Obsorgeregelung - ohne Vorliegen schwerwiegender Gründe in seinem wohlverstandenen Interesse - nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werden (1 Ob 172/01b; Weitzenböck aaO). Je älter daher ein bereits einsichts- und urteilsfähiges Kind ist, desto eher ist seinem Wunsch nach einem Obsorgewechsel zu entsprechen. Dabei kann eine Gefährdung des Kindeswohls auch im bloßen Beharren auf elterlichen Rechten liegen, wenn dadurch wichtige Interessen des Kindes - wie eben auch im Fall eines von ihm aus berücksichtigungswürdigen Gründen angestrebten Obsorgewechsels - beeinträchtigt werden (1 Ob 172/01b). Im Übrigen ist der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung nicht um seiner selbst willen aufrecht zu erhalten, sondern stets dem Kindeswohl unterzuordnen. Dabei kann auch eine Trennung von Geschwistern, die im elterlichen Haushalt leben, gerechtfertigt sein (5 Ob 36/06i).

2. Dass die Vater-Tochter-Beziehung problembehaftet ist, wird im Rechtsmittel nicht bestritten, sondern mit „einer ganz normalen adoleszenten pubertierenden Entwicklung" des Kindes erklärt. Damit wird die Richtigkeit der Feststellungen über die intellektuellen Fähigkeiten Nuras und deren daraus folgende Einsichts- und Urteilsfähigkeit nicht in Zweifel gezogen. Ausgehend davon ist sie aber als „in ihrer Kommunikation und Interaktion erheblich reif, intellektuell hochbegabt, an einer reflektierenden Auseinandersetzung mit der Welt, in der sie lebt, interessiert, durchsetzungsfähig, kreativ, sportlich leistungsfähig und über weite Strecken sehr selbstdiszipliniert" anzusehen. Vor diesem Hintergrund bildet der auf elterliche Rechte gestützte „Kampf ums Kind" den „roten Faden" der Rechtsmittelausführungen. Nicht Nuras Wohl, sondern das Recht der Eltern „auf das Kind", in das nur aus wichtigen, in ihrer Person liegenden Gründen eingegriffen werden dürfe, steht im Mittelpunkt der Erörterungen. Dabei verkennen die Eltern, dass der auf einer problembehafteten Vater-Kind-Beziehung im elterlichen Haushalt beruhende Wunsch Nuras nach einem Obsorgewechsel vor dem Hintergrund der voranstehenden Gründe nicht mehr unbeachtet bleiben kann. Nura ist eine einsichts- und urteilsfähige sowie gemäß § 104 AußStrG selbstständig verfahrensfähige Minderjährige im Alter von fast siebzehn Jahren. Angesichts dessen wäre ihrem Willen auch dann entscheidende Bedeutung zugekommen, wenn die grundsätzliche Eignung der Eltern zur weiteren Ausübung der Obsorge für Nura auf dem Boden gesicherter Tatsachen feststünde. Auch die Rechtsmittelwerber vermögen keine schwerwiegenden Gründe ins Treffen zu führen, weshalb Nura das Weiterbestehen der von ihr abgelehnten elterlichen Obsorge in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse aufgezwungen werden soll, obgleich sie sich im Kinderdorf wohlfühlt und ihre erfolgversprechende, zur Reifeprüfung führende Ausbildung an der von ihr besuchten Schule beenden will. Die Eltern, nach deren Ansicht der Aufenthalt Nuras im Kinderdorf der Wiederherstellung eines gedeihlichen familiären Klimas abträglich ist, reden nur eigenen, aus dem Elternrecht abgeleiteten Interessen das Wort. Sie übergehen jedoch etwa, wie belastend für Nura allein ein Schulwechsel kurz vor Erreichen der Schulstufe, nach deren Absolvierung die Reifeprüfung abgelegt werden wird, sein müsste.

3. Die Eltern rügen eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren. Es sei ihnen kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden. Überdies beruhten wesentliche Feststellungen auf einem mängelbehafteten Verfahren. Mit der Behauptung einer unterbliebenen Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs wird eine Nichtigkeit gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG geltend gemacht. Insofern ist zunächst zu entgegnen, dass dieser Nichtigkeitsgrund, wie aus § 58 Abs 1 AußStrG folgt, weder absolut noch rein abstrakt wirkt (Näheres dazu bei Fucik/Kloiber, AußStrG § 58 Rz 1). Sollte die ins Treffen geführte Gehörsverletzung tatsächlich stattgefunden haben, könnten die Eltern in einem fortgesetzten Verfahren nur ihren Standpunkt durchsetzen, dass sie wegen der wiedergefundenen ehelichen Harmonie an sich weiterhin geeignet seien, die Obsorge für Nura im Familienverband zu besorgen, und dass diese Tatsache auch in einer möglicherweise besseren künftigen Vater-Tochter-Beziehung eine Stütze fände. Allein damit könnten sie jedoch ihr Ziel nicht erreichen, weil sie selbst keine schwerwiegenden Gründe geltend machten, die es rechtfertigen könnten, der bald siebzehnjährigen Nura das von ihr abgelehnte Fortbestehen der elterlichen Obsorge in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse aufzuzwingen.

4. Das Vorliegen behaupteter Mängel des Verfahrens erster Instanz (Unterbleiben einer Mediation und der Beiziehung eines Sachverständigen) wurde bereits vom Rekursgericht verneint. Im Übrigen bringen die Eltern erstmals im Revisionsrekurs vor, der erkennende Erstrichter hätte sich nicht mit dem Protokoll eines Rechtshilfegerichts begnügen dürfen, sondern hätte sich von der Minderjährigen einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen. Behauptete Mängel des Verfahrens erster Instanz können indes nicht mehr erfolgreich mit Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn deren Vorliegen bereits das Rekursgericht verneinte oder wenn angebliche Mängel im Rekurs gegen die Entscheidung erster Instanz nicht gerügt wurden. Von diesen Grundsätzen könnte nur im Fall einer vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmenden Missachtung des Kindeswohls abgewichen werden (4 Ob 99/06x mwN). Dafür mangelt es hier an Anhaltspunkten. Es bedarf somit keiner Erörterung, ob - im Licht der voranstehenden Erwägungen - die behaupteten wesentlichen Verfahrensmängel überhaupt vorliegen.

5. Nach allen bisherigen Gründen hängt die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage nach § 62 Abs 1 AußStrG ab. Dass die Gefährdung des Kindeswohls auch im bloßen Beharren auf elterlichen Rechten liegen kann, wenn dadurch wichtige Interessen des Minderjährigen - wie im Fall eines von ihm aus beachtlichen Gründen angestrebten Obsorgewechsels - beeinträchtigt werden, wurde von den Vorinstanzen zutreffend erkannt. Ob dem Wunsch Nuras in der Obsorgefrage nach den besonderen Umständen dieses Falls zu entsprechen war, wirft keine erhebliche Rechtsfrage auf, weil dem angefochtenen Beschluss insofern zumindest keine auffallende Fehlbeurteilung anhaftet.

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