OGH 1Ob244/01s

OGH1Ob244/01s27.11.2001

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der gefährdeten Partei Ursula B*****, vertreten durch Dr. Hans Wabnig, Rechtsanwalt in St. Johann im Pongau, wider den Gegner der gefährdeten Partei Dr. Karl B*****, vertreten durch Mag. Franz Lobichler, Rechtsanwalt in Schwarzach als Sachwalter für dringende Angelegenheiten, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach § 382b EO infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Gegners der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 9. August 2001, GZ 21 R 240/01t-46, womit der Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 5. Juni 2001, GZ 1 C 44/99w-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zurückverwiesen und diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Antragstellerin (im Folgenden auch nur Frau) ist mit dem Antragsgegner (im Folgenden auch nur Mann) seit 1984 aufrecht verheiratet; sie haben gemeinsam zehn Kinder. Die Frau und die Kinder sind zur Befriedigung ihrer Wohnbedürfnisse auf die eheliche (Miet-)Wohnung angewiesen. Am 13. Mai 1999 verletzte der Mann die Frau bei folgendem Vorfall: Die Frau hatte Papiere des Mannes (in der Ehewohnung) auf den Boden geworfen, worauf dieser sie an den Oberarmen erfasste und wegstieß; dabei wurde sie leicht verletzt. Weiters hat der Mann in der Nacht vom 15. auf den 16. August 1999 die Frau im Zug eines ehelichen Streits auf ein Bett geworfen, sich auf sie gesetzt, sie an beiden Handgelenken festgehalten und mit ihren eigenen Händen ins Gesicht geschlagen; weiters versetzte er ihr einen Schlag gegen die Schulter. Am 21. August 1999 kam der Mann zur Ehewohnung und drohte, ein Fenster einzuschlagen, nachdem ihm die Frau den Einlass verwehrt hatte. Schließlich ist "das Verhalten des Mannes gegenüber der Frau bedrohlich, und zwar insbesondere dann, wenn sie nicht seinen Wünschen entspricht." Der Mann ist zwischenzeitlich unter Mitnahme seiner persönlichen Fahrnisse aus der Ehewohnung ausgezogen.

Die Vorinstanzen verfügten auch nach Widerspruch des gefährdenden Manns gegen die ohne seine Anhörung erlassene einstweilige Verfügung (vom 24. August 1999) gemäß § 382b EO seine Ausweisung aus der Ehewohnung samt Rückkehrverbot und ein Kontaktverbot mit der Frau.

Der außerordentliche Revisionsrekurs des durch seinen Sachwalter für dringende Angelegenheiten vertretenen Mannes ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

a) Zwar weist der Entscheidungsgegenstand einer Regelung nach § 382b EO auch geldwerte Aspekte auf, doch wird er im wesentlichen durch den nicht geldwerten Gehalt, der in der Änderung der Lebensgestaltung der betroffenen Familienangehörigen (hier: Eheleute) liegt, charakterisiert (1 Ob 90/98m = SZ 71/118). Das Verfahren über den Sicherungsantrag richtet sich ausschließlich nach den Bestimmungen der EO (§ 382c und 382d EO) und den nach diesem Gesetz anwendbaren Bestimmungen der ZPO. Zufolge § 402 Abs 1 EO iVm § 521a ZPO ist auch das Provisorialverfahren nach § 382b EO in dritter Instanz zweiseitig (6 Ob 77/99p = EvBl 1999/198 = RZ 2000/5).

b) Die zweite Instanz folgte in ihrer Rekursentscheidung der seit der Entscheidung des vstSenats 6 Ob 650/93 = SZ 66/164 = EvBl 1994/53 (die im Rechtsmittel zitierten Entscheidungen liegen davor) stRsp, auch im Sicherungsverfahren sei die Überprüfung der Beweiswürdigung des Erstrichters durch das Rekursgericht insoweit ausgeschlossen, als dieser den Sachverhalt auf Grund vor ihm abgelegter Zeugenaussagen oder Parteienaussagen als bescheinigt angenommen hat (1 Ob 86/99z, 4 Ob 18/00a uva; RIS-Justiz RS0012391). Da im vorliegenden Fall der Erstrichter den Sachverhalt auch auf Grund vor ihm abgelegter Aussagen beider Parteien als bescheinigt annahm, hat die zweite Instanz zu Recht eine Überprüfung dieses Sachverhalts abgelehnt.

c) Allerdings kann beim derzeitigen Sachstand noch nicht gesagt werden, ob die Voraussetzungen des § 382b EO tatsächlich vorliegen.

Beurteilungsmaßstab bei Regelungsverfügungen gegen Gewalt in der Familie ist nun nicht mehr der strenge Maßstab der Unerträglichkeit, sondern jener der Unzumutbarkeit eines weiteren Zusammenlebens (Abs 1) und eines weiteren Zusammentreffens (Abs 2) mit dem Antragsgegner. Die materiellrechtlichen Grundlagen der einstweiligen Verfügungen gegen Gewalt in der Familie bilden unter Ehegatten die Pflicht zur anständigen Begegnung (§ 90 ABGB) und die absolut wirkenden Rechte des Einzelnen auf Wahrung der körperlichen Unversehrtheit und Integrität (§ 16 ABGB). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des neuen § 382b EO einen unbestimmten Gesetzesbegriff ("Unerträglichkeit" gemäß § 382 Abs 1 Z 8 lit b EO aF), durch den das Verhalten des Antragsgegners im Sicherungsverfahren umschrieben wurde, durch einen anderen unbestimmten Gesetzesbegriff ("Unzumutbarkeit" nach § 382b EO) ersetzt. Wenigstens in den Materialien wurde aber klargestellt, dass ein effektiver körperlicher Angriff oder die Drohung mit einem solchen die Ausweisung des Antragsgegners aus der Wohnung rechtfertige und darüber auch ein sonstiges Verhalten ("Psychoterror") die Ausweisung ermöglichen solle, wenn es eine Schwere erreiche, die die strenge Maßnahme der einstweiligen Verfügung angemessen erscheinen lasse.

Seit der Entscheidung des erkennenden Senats 1 Ob 90/98m (und ihr folgend 3 Ob 21/99f = JBl 2000, 45; 6 Ob 77/99p, 9 Ob 37/01h; RIS-Justiz RS0110446; vgl. dazu auch Zechner, Sicherungsexekution und Einstweilige Verfügung, § 382b Rz 3 mwN) sind für die Beurteilung der - verschuldensunabhängigen - Unzumutbarkeit eines weiteren Zusammenlebens nach § 382b EO Ausmaß, Häufigkeit und Intensität der bereits (auch schon länger zurückliegenden) angedrohten oder gar verwirklichten Angriffe sowie bei - ernst gemeinten und als solche verstandenen - Drohungen die Wahrscheinlichkeit deren Ausführung maßgebend. Je massiver das dem Antragsgegner zur Last fallende Verhalten auf die körperliche und seelische Integrität des Opfers eingewirkt hat, je schwerer die unmittelbaren Auswirkungen und die weiteren Beeinträchtigungen des Antragsgegners sind und je häufiger es zu solchen Vorfällen gekommen ist, desto eher wird unter den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls von einer Unzumutbarkeit des weiteren Zusammenlebens auszugehen sein. Je leichtere Folgen das Verhalten des Antragsgegners gezeitigt hat, je länger es ohne weitere "einschlägige" Vorkommnisse zurückliegt und je mehr sich der Antragsgegner in der Folge bewährt hat, desto eher wird man dem betroffenen Ehegatten das weitere Zusammenleben zumuten können. Von Bedeutung ist ferner das Milieu, aber nicht iSd gesellschaftlichen Stellung der Eheleute, kommt doch Gewalt in der Familie in allen gesellschaftlichen Schichten vor, sondern in dem Sinn, unter welchen konkreten Lebensumständen die Eheleute miteinander leben. Dazu gehört auch die Persönlichkeit beider Ehegatten. In diesem Zusammenhang kann im Einzelfall, regelmäßig wohl nur bei bloß singulären Vorfällen, in einem gewissen Umfang der Provokation durch den Angegriffenen oder Bedrohten Bedeutung zukommen.

Die gerichtliche Provisorialentscheidung hat auf die künftig zu gewärtigende Situation abzustellen (3 Ob 21/99f).

Im vorliegenden Fall sind insgesamt drei Vorfälle - wenngleich ohne jede Vorgeschichte, sodass sich die Frage einer "Provokation" durch die Antragstellerin nicht stellt - festgestellt und nur diese Vorfälle können der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden: Am 13. Mai 1999 erfasste der Mann die Frau an den Oberarmen und stieß sie weg, nachdem sie ihm seine Papiere auf den Boden geworfen hatte. Dieser Vorfall ist für sich allein sicher nicht geeignet, die schweren Rechtsfolgen des § 382b EO auslösen zu können. Dann folgte nach den Feststellungen ein Vorfall in der Nacht vom 15. auf den 16. August 1999, somit rund drei Monate später, dem jedenfalls im Zusammenhang mit weiteren Vorfällen Gewicht zukommen kann. Wenige Tage später am 21. August 1999 begehrte der Mann Einlass in die eheliche Wohnung; als die Frau ihm dies verweigerte, drohte er damit, eine Scheibe einzuschlagen. Auch diesem Vorfall kann kein besonderes Gewicht zukommen. Es kommt daher für die Antragsstattgebung auf den letzten Satz in den Feststellungen der Tatsacheninstanzen an: Danach (ON 43 AS 337) ist das "Verhalten des Antragsgegners gegenüber der Antragstellerin bedrohlich, und zwar insbesondere dann, wenn sie nicht seinen Wünschen entspricht." Eine nähere Konkretisierung dieses Verhaltens fehlt gänzlich.

Schon deshalb müssen die vorinstanzlichen Beschlüsse aufgehoben werden, um konkrete Feststellungen nachzuholen, was der letztgenannte Satz in concreto bedeutet, das heißt, welche tatsächlichen Vorfälle dieser erkennbar zusammenfassenden Wertung als "Psychoterror" zugrundeliegen. Erst dann lässt sich sicher beurteilen, ob ein für die Stattgebung des Sicherungsbegehrens ausreichendes Gefährdungsverhalten des Mannes vorliegt.

Die Kostenentscheidung fußt auf § 393 Abs 2 EO idFd Art II Z 8 GeSchG iVm § 52 ZPO.

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