OGH 1Ob185/22w

OGH1Ob185/22w22.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen L*, geboren * 2014, *, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. G*, vertreten durch Mag. Constantin‑Adrian Nitu, Rechtsanwalt in Wien, und Mag. Judith Gingerl, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Juli 2022, GZ 45 R 254/22v‑145, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00185.22W.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels besteht nach ständiger Rechtsprechung für weitere Rechtsmittelschriften, Nachträge oder Ergänzungen dann, wenn diese am selben Tag wie der erste Rechtsmittelschriftsatz bei Gericht einlangen (RS0041666 [T53]). In diesem Fall sind die mehreren Rechtsmittelschriften als einheitliches Rechtsmittel anzusehen (RS0041666 [T54]).

[2] Das gilt auch dann, wenn – wie hier – zwei verschiedene Rechtsanwälte jeweils am selben Tag einen (außerordentlichen) Revisionsrekurs namens ihrer Mandantin bei Gericht eingebracht haben.

[3] 2. Beide Rechtsmittelschriften rügen eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens, weil (auch) das Rekursgericht seine Manuduktionspflicht verletzt habe, indem es die Mutter nicht über eine rechtskonforme Ausführung des Rekurses belehrt und ihr keine Verbesserungsmöglichkeit eingeräumt habe.

[4] 2.1. Richtig ist, dass § 14 AußStrG eine erweiterte Manuduktionspflicht gegenüber unvertretenen Parteien normiert, die sich sowohl auf das materielle Recht als auch auf das Verfahrensrecht erstreckt (Klicka/Rechberger in Klicka/Rechberger 3 § 14 AußStrG Rz 5). Im Schrifttum wird vertreten, dass auch eine Belehrung über die Anforderungen an Form und Inhalt von Rechtsmitteln geboten sein kann (Höllwerth in Gitschthaler, AußStrG I2 § 14 Rz 3/). Dazu ist hier aber nicht Stellung zu nehmen, weil das erfolgreiche Geltendmachen eines Verfahrensmangels wegen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht jedenfalls voraussetzt, dass die Partei die Relevanz des Mangels darlegt und das Unterlassene nachholt (RS0037095 [T14, T16, T19]).

2.2. Das ist hier nicht der Fall:

[5] Das Rekursgericht hat der Rechtsmittelwerberin entgegengehalten, dass sie weder den Rekursgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung noch den der Mangelhaftigkeit des Verfahrens gesetzmäßig ausgeführt habe, weil sie dem gut begründet festgestellten Sachverhalt ohne nähere Begründung einen gänzlich anderen „Wunschsachverhalt“ gegenüber stelle, ohne dass Nachweise für ihre im Verfahren bereits mehrfach geäußerten Behauptungen von ihr dargetan würden oder aktenkundig seien.

[6] Auch in ihren Rechtsmittelschriften bleibt die (nun anwaltlich vertretene) Mutter jegliche konkreten Anhaltspunkte für eine unrichtige Beweiswürdigung oder einen Verfahrensfehler des Erstgerichts schuldig.

[7] 3. Die Entscheidung nach § 180 Abs 2 ABGB, welchem Elternteil nach Ende der Ehe die Obsorge endgültig zu übertragen ist, hat sich allein am darin genannten Kindeswohl zu orientieren, und zwar ohne dass es – anders als in den hier nicht relevanten Fällen der §§ 181 f ABGB) – einer Kindeswohlgefährdung bedarf, um die alleinige Obsorge anzuordnen (3 Ob 128/14s; 6 Ob 234/20k). Für die Entscheidung, ob eine Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist, kommt es daher nur darauf an, welche Regelung dem Wohl des Kindes besser entspricht (RS0128812 [T13]). Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge durch beide Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es nämlich erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist daher zu beurteilen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit hergestellt werden kann (RS0128812 [T4]).

[8] Die Frage, ob die Obsorge beider Eltern dem Kindeswohl entspricht (RS0128812 [T8]), sowie die Frage, welchem Elternteil die Obsorge übertragen werden soll, hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab, sofern auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde (RS0007101 [T8]).

[9] 4. In ihren Rechtsmittelschriften zeigt die Mutter keine Überschreitung des den Vorinstanzen eingeräumten Beurteilungsspielraums oder eine Außerachtlassung des Kindeswohls bei der Zuteilung der Alleinobsorge an den Vater auf, zumal sie nur einzelne Sachverhaltselemente herausgreift, die isoliert betrachtet für ihren Standpunkt sprechen mögen, die erstinstanzlichen Feststellungen im Übrigen aber übergeht:

[10] 4.1. So ist die Mutter nach den Feststellungen zwar gut in der Lage, die Versorgung des Kindes im Alltag zu gewährleisten und das Kind zu fördern. Ihre emotionale Feinfühligkeit und ihre mütterliche Bindungstoleranz sind aber – im Gegensatz zum Vater – sehr stark eingeschränkt. Sie vermittelt dem Minderjährigen ein stark negatives/dämonisierendes Vaterbild und trägt massiv zu einer Eskalation des Konflikts auf Elternebene bei, insbesondere durch zu Unrecht erhobene Anschuldigungen und Vorwürfe gegen den Vater. Im Fall einer alleinigen Obsorge wäre sie nicht in der Lage, die Beziehung des Minderjährigen zu seinem Vater in der erforderlichen Weise zu unterstützen. Die Elternbeziehung ist hochstrittig. Es gibt kaum Kommunikation und Kooperation, sodass wichtige Entscheidungen im Sinne des Kindes, etwa in Bezug auf eine wichtige Operation oder auch auf Ferienkontakte, nicht gemeinsam getroffen werden können. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in absehbarer Zeit somit zu einer deutlichen Verbesserung innerhalb der Elternkommunikation kommen wird, ist „eher gering“.

[11] 4.2. Die Behauptung der Mutter, es würden Feststellungen fehlen, ob und wann es zu einer Verbesserung der Gesprächsbasis zwischen den Eltern kommen könne, stimmt daher nicht. Ihrem Einwand, mit einer gerichtlich angeordneten Elternberatung gemäß § 107 Abs 3 AußStrG könnte ihrer eingeschränkten Bindungstoleranz begegnet werden, ist zu erwidern, dass sie – anders als der Vater – nach den Feststellungen bislang nur eine Einheit der Erziehungsberatung absolviert hat und der Meinung ist, keine weitere zu benötigen, weil sie ohnehin alles richtig mache

[12] 5. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist der Revisionsrekurs daher zurückzuweisen.

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