European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0150OS00183.15Y.0217.000
Spruch:
Im Verfahren AZ 4 U 34/15x des Bezirksgerichts Schwaz, verletzen
1./ der in der Hauptverhandlung am 17. April 2015 erfolgte Vortrag „des wesentlichen Akteninhalts“ § 252 Abs 2a StPO, in Bezug auf das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen Philipp K***** auch in Verbindung mit § 252 Abs 1 Z 4 StPO;
2./ die Fällung des Urteils ohne Anhörung der Beteiligten des Verfahrens zu der in Aussicht genommenen Änderung der rechtlichen Beurteilung der angeklagten Tat § 262 erster Satz StPO;
3./ das Unterbleiben der Anführung der in § 260 Abs 1 Z 1 und 2 StPO bezeichneten Angaben im Hauptverhandlungsprotokoll vom 17. April 2015 (ON 9) § 271 Abs 1 Z 7 StPO;
4./ die im (Abwesenheits-)Urteil vom 17. April 2015, GZ 4 U 34/15x‑10, erfolgte Verwertung des in der Hauptverhandlung nicht vorgekommenen Gutachtens aus dem Verfahren AZ 3 P 62/14t des Bezirksgerichts Schwaz § 258 Abs 1 StPO.
Das (Abwesenheits‑)Urteil vom 17. April 2015, GZ 4 U 34/15x‑10, wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Schwaz verwiesen.
Mit ihrer Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Gründe:
Im Verfahren AZ 4 U 34/15x des Bezirksgerichts Schwaz legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck Herbert G***** mit Strafantrag vom 23. Februar 2015, ein als Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 3).
Der für den 17. April 2015 anberaumten Hauptverhandlung blieb der Angeklagte ‑ trotz eigenhändiger Übernahme der Ladung (ON 6) ‑ fern. Das Bezirksgericht beschloss daraufhin die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (ON 9 S 4). Nach dem Protokoll über die Hauptverhandlung wurde ‑ nach Vernehmung des Zeugen Thomas D***** ‑ gemäß § 252 Abs 2a StPO ua „der wesentliche Akteninhalt“ (vgl jedoch RIS‑Justiz RS0110681), im vorliegenden Fall erkennbar (US 3) auch der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Schwaz vom 21. Februar 2015, der auch das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen Philipp K***** enthält (ON 2 S 15 bis 17), referiert (ON 9 S 5).
Der Inhalt des sodann am 17. April 2015 verkündeten (Abwesenheits‑)Urteils wurde im Hauptverhandlungsprotokoll wie folgt festgehalten (ON 9 S 5):
„(Schuldspruch nach § 141 Abs 1 StGB, Freiheitsstrafe von 2 Wochen, § 389 Abs 1 StPO, § 366 Abs 2 StPO, § 43 Abs 1 StGB bedingt, Probezeit 3 Jahre)“.
Eine Anhörung der Beteiligten des Verfahrens über die in Aussicht genommene Änderung in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts hatte nicht stattgefunden (vgl ON 9).
Laut schriftlich ausgefertigtem (Abwesenheits-)Urteil wurde der Angeklagte ‑ abweichend von der rechtlichen Beurteilung der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage ‑ (bloß) des Vergehens der Entwendung nach § 141 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer (nach § 43 Abs 1 StGB bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafe von zwei Wochen verurteilt.
Den Urteilsgründen zufolge stützte die Bezirksrichterin die das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 StGB verneinenden Feststellungen (auch) auf ein im Verfahren AZ 3 P 62/14t des Bezirksgerichts Schwaz eingeholtes, ihr nur aufgrund des Umstands, dass sie auch die Leiterin der für Sachwalterschaftssachen zuständigen Gerichtsabteilung sei, bekanntes ‑ in der Hauptverhandlung jedoch nicht vorgekommenes (vgl ON 9) ‑ Gutachten (US 3).
Gegen dieses Urteil erhob lediglich die Staatsanwaltschaft Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe zugunsten des Angeklagten (ON 11, 14); über dieses Rechtsmittel wurde bis dato noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
Im Verfahren AZ 4 U 34/15x des Bezirksgerichts Schwaz stehen ‑ wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt ‑ die im Folgenden beschriebenen Vorgänge und das Urteil vom 17. April 2015 mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen ‑ soweit hier wesentlich ‑ Protokolle über die Vernehmung von Zeugen nur in den in Z 1 bis 4 genannten Fällen in der Hauptverhandlung verlesen oder vorgeführt werden; gemäß Z 4 ist dies zulässig, wenn Ankläger und Angeklagter über die Verlesung einverstanden sind.
Gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse, Amtsvermerke über einen Augenschein, Befunde sowie Urkunden und Schriftstücke anderer Art, die für die Sache von Bedeutung sind (zB Anzeigen und Berichte der Polizei über ihre Erhebungen; RIS‑Justiz RS0098456), müssen hingegen gemäß § 252 Abs 2 StPO in der Hauptverhandlung verlesen werden.
Anstelle der Verlesung kann der Vorsitzende gemäß § 252 Abs 2a StPO den erheblichen Inhalt der Aktenstücke vortragen, soweit die Beteiligten des Verfahrens zustimmen.
Das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen K***** vor der Polizei unterlag dem erwähnten Beweiserhebungsverbot und hätte ‑ zumal auch keiner der Fälle des § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO vorlag ‑ nur gemäß § 252 Abs 1 Z 4 StPO mit Einverständnis der Parteien verlesen werden dürfen. Aus dem Nichterscheinen des gesetzeskonform geladenen (unvertretenen) Angeklagten zur Hauptverhandlung konnte sein Einverständnis zur Verlesung einer Zeugenaussage nicht abgeleitet werden (RIS‑Justiz RS0117012; Kirchbacher , WK‑StPO § 252 Rz 103).
Die durch § 252 Abs 2a StPO ermöglichte Abstandnahme von der Verlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach Abs 1 und Abs 2 leg cit zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts ist ebenso an die Zustimmung (auch) des Angeklagten gebunden, die in dessen Fernbleiben von der Hauptverhandlung gleichfalls nicht erblickt werden kann (vgl RIS‑Justiz RS0117012 [T2]).
Demnach entsprach es nicht dem Gesetz, die Aussage des vor der Polizei im Ermittlungsverfahren vernommenen Zeugen K***** vorzutragen (§ 252 Abs 2a iVm Abs 1 StPO) und von der Verlesung der übrigen Aktenstücke und Beiakten zugunsten einer resümierenden Darstellung abzusehen (§ 252 Abs 2a iVm Abs 2 StPO).
Das Gericht hat nach der ‑ gemäß § 447 StPO auch im Verfahren vor dem Bezirksgericht geltenden ‑ Vorschrift des § 262 StPO, wenn es eine andere als die in der Anklage bezeichnete (nicht einem Gericht höherer Ordnung vorbehaltene) strafbare Handlung für verwirklicht erachtet, vor der Urteilsfällung die Beteiligten des Verfahrens über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt zu hören, um ihnen solcherart Gelegenheit zu geben, sich hiezu zu äußern und gegebenenfalls entsprechende Anträge zu stellen (vgl RIS‑Justiz RS0113755).
Das Bezirksgericht hätte daher die Beteiligten des Verfahrens über den geänderten rechtlichen Gesichtspunkt einer Tatbeurteilung nach § 141 Abs 1 StGB in Kenntnis zu setzen gehabt und zu diesem Zweck ‑ mangels Anwesenheit des Angeklagten ‑ zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Hauptverhandlung vertagen müssen(vgl Bauer/Jerabek, WK‑StPO § 427 Rz 12; Leukauf/Steininger Komm3 § 141 Rz 22). Indem die Bezirksrichterin dies unterließ und sofort den Schuldspruch fällte, wurde das Gesetz in der Bestimmung des § 262 erster Satz StPO verletzt.
Gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO hat das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten. Der zitierte Vermerk im Hauptverhandlungsprotokoll vom 17. April 2015 genügt diesen Anforderungen nicht, weil ein Referat der für die rechtliche Subsumtion entscheidenden Tatsachen (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO), die gesetzliche Bezeichnung ‑ in Worten ‑ jener strafbaren Handlung, welcher der Angeklagte für schuldig befunden wurde, und der Ausspruch, dass diese ein Vergehen darstellt (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO), fehlen.
Gemäß § 258 Abs 1 StPO hat das Gericht bei der Urteilsfällung nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist (vgl Lendl, WK‑StPO § 258 Rz 3 ff). Aktenstücke können nur insoweit als Beweismittel dienen, als sie bei der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen (§ 252 Abs 2a StPO) worden sind.
Die Verwertung des der Bezirksrichterin ausschließlich aufgrund ihrer Tätigkeit als Leiterin auch der für Sachwalterschaftssachen zuständigen Gerichtsabteilung bekannten, in der Hauptverhandlung jedoch nicht vorgekommenen und auch nicht als gerichtsnotorisch anzusehenden (vgl Lendl, WK‑StPO § 258 Rz 42 f; RIS‑Justiz RS0098570 [T2]) Sachverständigengutachtens (US 3) im Urteil war daher nicht zulässig.
Es ist nicht auszuschließen, dass die zuletzt aufgezeigte Gesetzesverletzung dem Angeklagten zum Nachteil gereicht. Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, die Feststellung der Gesetzesverletzungen mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
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