OGH 14Os154/10v

OGH14Os154/10v16.11.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig und Mag. Hautz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Koller als Schriftführer in der Strafsache gegen Olu O***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 1 StGB, AZ 353 HR 208/10w des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Olu O***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 16. September 2010, AZ 23 Bs 309/10z (ON 12), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Olu O***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der mit 800 Euro, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, festgesetzten Beschwerdekosten auferlegt.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Beschluss setzte das Oberlandesgericht Wien die vom Landesgericht für Strafsachen Wien am 24. August 2010 verhängte (ON 5) Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO mit Wirksamkeit bis 16. November 2010 fort.

Dabei ging es davon aus, der Beschuldigte Olu O***** stehe in dringendem Verdacht, das Verbrechen der Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 1 StGB dadurch begangen zu haben, dass er am 21. August 2010 in Wien Claudia R***** mit Gewalt zur Duldung des Beischlafs oder einer dem Beischlaf gleichzusetzenden Handlung zu nötigen versuchte, indem er sie gegen eine Hauswand drückte, würgte, den Gürtel ihrer Hose aufriss und diese hinunterzuziehen trachtete.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen von Olu O***** erhobenen Grundrechtsbeschwerde, mit der er das Bestehen einer dringenden Verdachtslage lediglich in Richtung des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB sowie davon ausgehend Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft behauptet und in seine „Verfassungssphäre“ reichende „Verzögerungen“ im Zusammenhang mit der Entscheidung über seine Haftbeschwerde moniert, kommt aus letztgenanntem Grund Berechtigung zu.

Da - anders als bei einer Haftbeschwerde an das Oberlandesgericht - nicht die Haft, sondern die Entscheidung über die Haft den Gegenstand des Erkenntnisses über eine Grundrechtsbeschwerde bildet und § 3 Abs 1 GRBG hinsichtlich der dort angeordneten Begründungspflicht nichts anderes vorsieht (vgl § 10 GRBG), kann im Verfahren über eine Grundrechtsbeschwerde nach ständiger Rechtsprechung die Sachverhaltsgrundlage des dringenden Tatverdachts nur nach Maßgabe der Voraussetzungen der Mängel- und der Tatsachenrüge (§ 281 Abs 1 Z 5 und Z 5a StPO) in Frage gestellt werden (RIS-Justiz RS0110146, RS0114488, RS0112012).

Indem die Grundrechtsbeschwerde mit der Behauptung „unzureichender“ Begründung unter Hervorhebung einzelner Verfahrensergebnisse den alle vorliegenden Beweismittel berücksichtigenden Erwägungen des Oberlandesgerichts bloß eigene Schlussfolgerungen gegenüberstellt, zeigt sie weder eine den Gesetzen folgerichtigen Denkens oder grundlegenden Erfahrungswerten widersprechende und solcherart geradezu willkürliche Begründung (Z 5 vierter Fall) oder einen sonstigen Begründungsmangel auf, noch vermag sie beim Obersten Gerichtshof auf Aktenbasis erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden entstehenden Tatsachen (Z 5a) zu wecken.

Das Vorbringen zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft orientiert sich nicht an den Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichts und verfehlt damit den gesetzlichen Bezugspunkt.

Zu Recht wirft die Grundrechtsbeschwerde dem Oberlandesgericht entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur eine aus dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen resultierende Grundrechtsverletzung vor.

Soweit kritisiert wird, die Entscheidung über die Haftbeschwerde durch das Oberlandesgericht sei nicht innerhalb einer Woche erfolgt, ist darauf zu verweisen, dass die im (Art 5 Abs 4 MRK, der das Recht auf ehetunliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Haft garantiert, wobei es im Wesentlichen auf die Zügigkeit des Verfahrens ankommt, innerstaatlich präzisierenden und ergänzenden) Art 6 Abs 1 PersFrG verfassungsrechtlich verankerte Frist von einer Woche nur für die erstmalige Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs durch ein Gericht oder durch eine unabhängige Behörde gilt (RIS-Justiz RS0112353).

§§ 9 Abs 2 und 177 Abs 1 StPO verpflichten alle im Strafverfahren beteiligten Behörden, Einrichtungen und Personen auf eine möglichst kurze Dauer der Haft hinzuwirken; Verfahren, in denen ein Beschuldigter in Haft gehalten wird, sind mit besonderer Beschleunigung zu führen, jeder verhaftete Beschuldigte hat Anspruch auf ehestmögliche Urteilsfällung.

Der Oberste Gerichtshof prüft hinsichtlich der den Gerichten zukommenden Aufgaben (§ 1 Abs 1 GRBG), ob diese alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben; eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen ist auch ohne Verletzung des § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO grundrechtswidrig im Sinne einer Verletzung der §§ 9 Abs 2 und 177 Abs 1 StPO (RIS-Justiz RS0120790; Kirchbacher/Rami, WK-StPO² § 177 Rz 4). Ob den jeweiligen Organwalter ein Verschulden traf, ist bei Prüfung des Vorliegens einer Grundrechtsverletzung ohne Bedeutung, obliegt es doch dem Staat, das Grundrecht zu gewährleisten (RIS-Justiz RS0121792; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 177 Rz 2; Kier, WK-StPO § 9 Rz 51).

Der Beschwerdeführer erhob am 1. September 2010 mittels Telefax Beschwerde gegen den Beschluss auf Verhängung der Untersuchungshaft. Der Ermittlungsakt war dem Gericht von der Staatsanwaltschaft bereits am 27. August 2010 zugeleitet worden, wo er am selben Tag in der Einlaufstelle einlangte, dort aber in Verstoß geriet (Amtsvermerk vom 2. September 2010, ON 15 S 3). Am 2. September 2010 vom Gericht unternommene Versuche, den Akt aufzufinden, blieben ergebnislos, sodass die Staatsanwaltschaft am 6. September 2010 ersucht wurde, den (zu diesem Zeitpunkt lediglich 9 Ordnungsnummern umfassenden) Akt zu rekonstruieren (ON 15 S 4). Der rekonstruierte Ermittlungsakt wurde dem Gericht von der Staatsanwaltschaft am 8. September 2010 übermittelt (ON 1 S 1), welches am selben Tag die Vorbereitung des Vorlageberichts (ON 1 S 1) und am 9. September 2010 die Vorlage des Akts an das Oberlandesgericht verfügte (ON 1 S 1 verso), bei welchem er am 13. September 2010 einlangte (ON 10).

Unter Berücksichtigung der nach § 177 Abs 1 erster Satz StPO bestehenden Verpflichtung sämtlicher am Strafverfahren beteiligter Behörden darauf hinzuwirken, dass die Haft so kurz wie möglich dauere, stellt eine erst am 12. Tag nach Einlangen der Haftbeschwerde erfolgte Vorlage des Ermittlungsakts an das Beschwerdegericht eine ins Gewicht fallende Verzögerung und somit eine Verletzung des § 177 Abs 1 StPO dar (vgl auch die § 9 StPO präzisierende [Tipold, WK-StPO § 88 Rz 13] Bestimmung des § 88 Abs 3 erster Satz StPO, wonach die Beschwerde dem Rechtsmittelgericht ohne Verzug mit dem Akt vorzulegen ist). Wurde aber eine haftrelevante Vorschrift in letzter Instanz missachtet oder deren Missachtung durch eine Unterinstanz nicht festgestellt und bereinigt, erforderlichenfalls ausgeglichen, stellt dies eine Grundrechtsverletzung dar, weil aufgrund des in Art 5 Abs 1 MRK genannten Erfordernisses „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ Verletzungen einfachgesetzlicher Vorschriften direkt auf die Frage einer Verletzung des Grundrechts auf Freiheit und Sicherheit durchschlagen (14 Os 108/08a, EvBl 2008/174, 904; zuletzt ausdrücklich: 13 Os 160/08s, EvBl-LS 2009/40, 236, und 13 Os 57/10x, EvBl 2010/121, 823; Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vor §§ 170-189 Rz 25). Dem Oberlandesgericht stand zwar keine rechtliche Möglichkeit offen, die Grundrechtsverletzung auszugleichen (neuerliche Haftentscheidung hätte dazu nichts beigetragen), doch hätte es - ohne an die geltend gemachten Beschwerdepunkte gebunden zu sein (§ 89 Abs 2 letzter Satz StPO; Fabrizy, StPO10 § 89 Rz 4) - eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen, deren Geltendmachung dem Beschwerdeführer in der Haftbeschwerde nicht möglich war, aussprechen müssen (vgl Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vor §§ 170-189 Rz 31 und § 176 Rz 15).

Aus Anlass der Grundrechtsbeschwerde war in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur zudem zu Gunsten des Beschuldigten gemäß § 10 GRBG iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall, § 281 Z 9 lit a StPO der in der Beschwerde nicht gerügte Umstand aufzugreifen, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts keine Sachverhaltsannahmen zum dringenden Tatverdacht enthält, die eine rechtliche Beurteilung, ob durch die als sehr wahrscheinlich angenommenen Tatsachen das Verbrechen der Vergewaltigung nach §§ 15, 201 Abs 1 StGB begründet wird, ermöglichen würden. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat der Fortsetzungsbeschluss des Oberlandesgerichts die erstinstanzliche Entscheidung nicht bloß zu beurteilen, sondern zu ersetzen und solcherart eine neue - reformatorische - Entscheidung darzustellen (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO; RIS-Justiz RS0116421, RS0120817). Nach § 174 Abs 3 Z 4 StPO (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO) hat jede solche Entscheidung „die bestimmten Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht“ für das Oberlandesgericht ergibt, zu enthalten. Das bedeutet, dass mit Bestimmtheit anzugeben ist, welcher - in Hinsicht auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit als begründet anzusehenden strafbaren Handlungen (rechtliche Kategorien; vgl § 260 Abs 1 Z 2 StPO) rechtlich entscheidend beurteilte - Sachverhalt angenommen wurde (Feststellungsebene) und klarzustellen ist, auf welchen ganz bestimmten Tatumständen (Beweisergebnissen, sogenannten erheblichen Tatsachen) diese Sachverhaltsannahmen über die entscheidenden Tatsachen beruhen (Begründungsebene; RIS-Justiz RS0120817). Geschieht dies nicht, liegt eine Grundrechtsverletzung vor. Insoweit unterscheidet sich die Begründungspflicht für Haftbeschlüsse nicht von der für ein Strafurteil (vgl statt aller: 13 Os 81/07x, EvBl 2007/137, 742 mwN). Vorliegend lässt der angefochtene Beschluss jegliche Ausführungen zur subjektiven Tatseite vermissen, womit er in Betreff der Sachverhaltsannahmen für die Haftvoraussetzung des dringenden Tatverdachts in einer das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzenden Weise undeutlich geblieben ist.

Eine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses war schon mit Blick auf die zwischenzeitige Enthaftung des Beschuldigten nicht erforderlich (§ 7 Abs 1 GRBG).

Die Kostenentscheidung fußt auf § 8 GRBG.

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