OGH 14Os13/13p

OGH14Os13/13p27.8.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. August 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Bandarra als Schriftführer in der Strafsache gegen Günter S***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und 3 erster Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 41 Hv 26/12g des Landesgerichts Feldkirch, über den Antrag des Angeklagten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit rechtswirksamer Anklageschrift vom 3. Dezember 2012 (ON 63) legt die Staatsanwaltschaft Feldkirch Günter S***** zur Last, er habe in B***** im Zeitraum vom 1. Jänner 2005 bis 24. Dezember 2009 in zahlreichen Angriffen

1) außer dem Fall des § 206 StGB an der am 11. Juni 1998 geborenen, somit im Tatzeitraum unmündigen Jasmin M***** zahlreiche geschlechtliche Handlungen vorgenommen, indem er ihre nackte Scheide mehrmals mit seinen Fingern betastete, diese an und zwischen den Schamlippen rieb und wiederholt ihre nackte, leicht entwickelte Brust abtastete, wobei die Tat eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung, sohin eine schwere Körperverletzung der Jasmin M***** (§ 84 Abs 1 StGB), nämlich eine schwere depressive Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Stimmung gemischt sowie regelmäßig „Flash-Backs“-ICD 10: F43.2 zur Folge hatte;

2) durch die unter Punkt 1) geschilderten Handlungen mit der am 11. Juni 1998 geborenen Jasmin M*****, sohin im Tatzeitraum unmündigen Person, die seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen.

Dieses Verhalten qualifiziert die Staatsanwaltschaft als (I) „die Verbrechen der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 und 3 erster Fall StGB“ (richtig:) ein Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und 3 erster Fall [in der seit 1. Juni 2009 geltenden Fassung BGBl I 2009/40] und eine unbestimmte Anzahl von Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB; vgl 14 Os 172/11t; RIS-Justiz RS0128224 und RS0112939) sowie als (II) die Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB.

Die Hauptverhandlung wurde am 28. Jänner 2013 auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 73).

Im Ermittlungsverfahren (AZ 11 St 93/11k der Staatsanwaltschaft Feldkirch) hatte die Staatsanwaltschaft zunächst am 26. April 2011 den Sachverständigen Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhard H***** beauftragt, Befund und Gutachten aus dem Fachgebiet der Psychiatrie zu der Frage zu erstatten, „ob bei Jasmin M***** psychische Folgen im Sinne einer schweren Körperverletzung durch die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten eingetreten sind und ob diese ausschließlich (vgl hingegen RIS-Justiz RS0091997) auf den vorgeworfenen Missbrauch zurückzuführen sind“ (ON 16; vgl auch ON 5 S 7 und 113 ff), wovon der Angeklagte mit Schreiben vom 26. April 2011 verständigt wurde (ON 18). Mit Note vom 9. Mai 2011 ergänzte die Staatsanwaltschaft diesen Auftrag um die Frage, „welche Schmerzperioden mit den psychischen Folgen der Jasmin M*****, welche auf die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten zurückzuführen sind, verbunden sind“ (ON 21). Auch hievon wurde der Angeklagte mit Schreiben vom 9. Mai 2011 verständigt (ON 23).

Jasmin M***** wurde am 16. Mai 2011 im Beisein unter anderem des Anklägers, des Günter S***** und seines Verteidigers gemäß § 165 StPO kontradiktorisch als Zeugin vernommen (ON 35; im Übrigen auch zu möglichen Tatfolgen und therapeutischer Behandlung [ON 35 S 20 ff, 35 f]), wo sie vor ihren Angaben zur Sache über Nachfrage deponierte, in der Hauptverhandlung nicht aussagen zu wollen (ON 35 S 4 f).

Wegen Verhinderung des bereits vor dieser Beweisaufnahme bestellten Sachverständigen wurde letztlich am 11. August 2011 die psychiatrische Sachverständige Dr. Karin K***** beauftragt, Befund und Gutachten zu den bereits angeführten - ausdrücklich wiederholten - Fragen zu erstatten (ON 42), wovon der Angeklagte mit Schreiben vom 11. August 2011 verständigt wurde (ON 45).

Einem unter Berufung auf sein Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK gegen die Fragestellung an die Sachverständige und deren Befundaufnahme in Abwesenheit der Parteien und des erkennenden Gerichts gerichteten Einspruch des Angeklagten vom 28. Juni 2012 (ON 54) gab die Einzelrichterin des Landesgerichts Feldkirch mit Beschluss vom 13. August 2012, GZ 28 HR 44/11m-56, nicht statt. Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Innsbruck als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 9. Oktober 2012, AZ 7 Bs 500/12f (ON 60 im Hv-Akt) ebenfalls nicht Folge, weil keine subjektiven Rechte des Angeklagten iSd § 106 Abs 1 StPO verletzt worden seien.

Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichts richtet sich der (rechtzeitige) Antrag des Angeklagten auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a Abs 1 StPO). Im Wesentlichen macht er unter Bezugnahme auf Art 6 MRK die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren geltend, weil die Fragestellung an die Sachverständige die Tatfrage unzulässig von einem unabhängigen Gericht an diese ausgelagert (Art 6 Abs 1 MRK) und überdies die Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 MRK) verletzt habe. Der Gutachtensauftrag präjudiziere einerseits die Sachverständige dahin, die ihm vorgeworfenen Taten als geschehen vorauszusetzen, und weise andererseits derselben die dem erkennenden Gericht vorbehaltene Beweiswürdigung in der Schuldfrage (Art 6 Abs 1 MRK) zu. Durch die in Abwesenheit der Parteien mit dem Opfer erfolgte Befundaufnahme sei auch sein Recht auf Verteidigung durch Fragestellung an die Belastungszeugin (Art 6 Abs 3 lit d MRK) beschnitten worden, zumal Letztere eine Aussage in der Hauptverhandlung ablehne. Seine wirksame Verteidigung (nominell Art 6 Abs 3 lit c MRK, der Sache nach lit d) sei auch dadurch beschränkt worden, dass er diese Belastungszeugin in der Hauptverhandlung nicht mehr mit den Ergebnissen des erst nach der kontradiktorischen Vernehmung erstatteten Gutachtens konfrontieren könne.

Rechtliche Beurteilung

Grundsätzlich ist die Möglichkeit der Erneuerung eines Strafverfahrens nach § 363a StPO aufgrund eines darauf gerichteten, nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Antrags nicht auf in rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergangene (End-)Entscheidungen beschränkt. Subsidiarität in einem solchen Erneuerungsverfahren bedeutet demnach (bloß) Erschöpfung des Instanzenzugs in Ansehung der nach grundrechtlichen Maßstäben zu prüfenden (Einzel-)Entscheidung (RIS-Justiz RS0124739).

Soweit der Antrag (wie auch schon der Sache nach die Beschwerde gerade noch hinreichend deutlich, ON 57 S 2 und 3 f) eine Verletzung der - auch von Strafverfolgungsbehörden zu beachtenden (vgl RIS-Justiz RS0074608, RS0126724) - Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 MRK) behauptet, wird verkannt, dass eine solche Grundrechtsverletzung nur dann zu bejahen ist, wenn die Schuld der betroffenen Person behauptet wird, nicht aber, wenn in einem noch nicht abgeschlossenen Strafverfahren das Bestehen eines Tatverdachts geäußert wird (vgl RIS-Justiz RS0120765). Entscheidend ist auch nach ständiger Rechtsprechung des EGMR nicht die exakte Wortwahl, sondern der Sinngehalt der in Rede stehenden Formulierungen (vgl RIS-Justiz RS0128232, RS0074985; 14 Os 25/09x; 11 Os 15/12h, 11 Os 20/12v).

Indem die Staatsanwaltschaft in ihren Aufträgen an die adressierten Sachverständigen stets auf „vorgeworfene Taten“ Bezug nahm, was sowohl die Haft- und Rechtsschutzrichterin im Beschluss vom 13. August 2012 (ON 56 S 13) als auch das Oberlandesgericht in jenem vom 9. Oktober 2012 (ON 60 S 5) ausdrücklich betonten, brachte sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass damit keinesfalls (einer gerichtlichen Verurteilung vorgreifende) Schuldannahmen getroffen werden sollten.

Zum weiteren Vorbringen genügt der Hinweis auf die Unzulässigkeit eines - unter dem Aspekt des Art 6 MRK Verfahrensmängel behauptenden - Erneuerungsantrags, wenn (wie hier) im Ermittlungsverfahren angeblich zu Unrecht verweigerte Beschuldigtenrechte im Hauptverfahren im Sinn des Art 13 MRK (hier etwa durch [neuerliche] Antragstellung in der Hauptverhandlung verbunden mit Urteilsanfechtung nach den Regeln der §§ 238, 281 Abs 1 Z 4, 5 und 5a StPO) wirksam durchgesetzt werden könnten (Ratz, ÖJZ 2010, 983 [984]; RIS-Justiz RS0122737 [T21]).

Der Erneuerungsantrag war daher schon bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).

Bleibt der Vollständigkeit halber anzumerken, dass eine Teilnahme von Verfahrensbeteiligten an der Befundaufnahme eines Sachverständigen nach § 127 Abs 2 StPO in der geltenden Fassung (vgl auch §§ 49 Z 10 und 66 Abs 1 Z 6 StPO) weder gesetzlich vorgesehen (siehe dazu EBRV 113 BlgNR 24. GP, 35 f), noch im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte in der Hauptverhandlung (§§ 127 Abs 3, 249 Abs 3 StPO) aus Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit d MRK abzuleiten ist.

Die Behauptung, dass die Sachverständige „durch die von der Staatsanwaltschaft Feldkirch gewählte Fragestellung ... beauftragt“ worden sei, „die Beweiswürdigung des Gerichts vorzunehmen, welches mangels eigener Sachkunde dieses Beweisergebnis nicht anders würdigen wird können, als diesem zu folgen“, verfehlt im Übrigen den Bezug zum Gesetz (§ 258 Abs 2 StPO), jene fehlender Möglichkeit der (unmittelbaren) Befragung des Tatopfers zu möglichen Tatfolgen die Orientierung am Akteninhalt (vgl ON 5 S 7 und 113 ff, ON 18, ON 23, ON 35 S 20 ff, 35 f; vgl auch 13 Os 138/03 mwN).

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