OGH 14Os121/21g

OGH14Os121/21g22.2.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Februar 2022 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Socher in der Strafsache gegen * P* wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 1 U 23/20g des Bezirksgerichts Feldkirchen, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider LL.M., zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0140OS00121.21G.0222.000

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 1 U 23/20g des Bezirksgerichts Feldkirchen verletzten

1./ die Durchführung der Hauptverhandlungen am 30. Oktober 2020 und am 15. Jänner 2021 sowie die Urteilsfällung am 15. Jänner 2021 in Abwesenheit des Angeklagten § 32 Abs 1 erster Satz iVm § 46a Abs 2 JGG;

2./ der in der Hauptverhandlung am 15. Jänner 2021 erfolgte Vortrag von Aktenstücken, der auch Protokolle über die polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen von Zeugen umfasste, § 252 Abs 2a (hinsichtlich der genannten Protokolle auch iVm Abs 1) iVm § 447 StPO;

3./ die am 15. Jänner 2021 erfolgte Entscheidung über einen privatrechtlichen Anspruch ohne Vernehmung des Angeklagten über diesen und ohne an ihn gerichtete Aufforderung zur Erklärung über ein allfälliges Anerkenntnis § 245 Abs 1a iVm § 447 StPO.

Das Abwesenheitsurteil vom 15. Jänner 2021, GZ 1 U 23/20g-13, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Feldkirchen verwiesen.

 

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 1 U 23/20g des Bezirksgerichts Feldkirchen legte die Staatsanwaltschaft Klagenfurt dem am 31. März 2000 geborenen * P* ein als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 3).

[2] Der Hauptverhandlung vom 30. Oktober 2020 blieb der Angeklagte fern. Das Bezirksgericht beschloss die Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten und vernahm die Zeugen * S* und * N* (ON 9).

[3] Nach Vertagung der Hauptverhandlung wurde diese am 15. Jänner 2021 – wiederum in Abwesenheit des Angeklagten – wiederholt. In dieser wurden „gemäß § 252 Abs 1 Z 4, Abs 2 und Abs 2a StPO“ der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Feldkirchen einschließlich der darin enthaltenen Protokolle über die kriminalpolizeiliche Vernehmung der Zeugen S* und N* (ON 2), das Ergebnis einer Meldeanfrage (ON 5), ein Zwischenbericht der PI Feldkirchen (ON 6), eine das Opfer betreffende ärztliche Krankengeschichte (ON 7) sowie die Aussagen der zuvor genannten Zeugen in der Hauptverhandlung vom 30. Oktober 2020 (ON 9 S 3 ff) vorgetragen (ON 12 S 3 f).

[4] Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag wurde der Angeklagte des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und es wurde dem Privatbeteiligten N* 500 Euro Schmerzengeld zugesprochen (ON 12 S 4; ON 13 S 2), ohne dass der Angeklagte über die privatrechtlichen Ansprüche vernommen oder zur Erklärung über ein allfälliges Anerkenntnis aufgefordert wurde. Das Bezirksgericht stützte die den Schuldspruch tragenden Feststellungen (unter anderem) auf die zuvor erwähnten Zeugenaussagen (ON 13 S 2 f).

[5] Das Abwesenheitsurteil wurde dem Angeklagten am 23. März 2021 zugestellt (ON 1 S 3), welcher dagegen kein Rechtsmittel ergriffen hat. Über die gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche (zu Gunsten des Angeklagten) erhobene Berufung der Staatsanwaltschaft (ON 14 und 16) wurde bislang nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, verletzen mehrere Vorgänge im genannten Verfahren das Gesetz:

[7] 1./ Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind in Strafverfahren gegen junge Erwachsene die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren nicht anzuwenden. Ist der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht erschienen, so ist diese zu vertagen und gegebenenfalls die Vorführung des Angeklagten anzuordnen (§ 32 Abs 1 zweiter Satz iVm § 46a Abs 2 JGG). Die Durchführung der Hauptverhandlungen am 30. Oktober 2020 und am 15. Jänner 2021 sowie die Fällung des Urteils in Abwesenheit des (zu den Zeitpunkten der Verfahrenshandlungen zwanzigjährigen) Angeklagten (vgl § 1 Z 5 JGG) verletzen daher § 32 Abs 1 erster Satz iVm § 46a Abs 2 JGG (RIS‑Justiz RS0121343 [T1]; siehe auchSchroll in WK² JGG § 32 Rz 6 und § 46a Rz 5).

[8] 2./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO, der zufolge § 447 StPO auch für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht gilt, dürfen (unter anderem) Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO geregelten Fällen verlesen werden.

[9] Nach § 252 Abs 2 StPO wiederum müssen Amtsvermerke über einen Augenschein und Befunde, gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse sowie Urkunden und Schriftstücke anderer Art, die für die Sache von Bedeutung sind, vorgelesen werden.

[10] Der solche Verlesungen iSd § 252 Abs 1 und 2 StPO substituierende Vortrag des erheblichen Inhalts von Aktenstücken durch den Vorsitzenden nach § 252 Abs 2a StPO setzt die Zustimmung der Beteiligten des Verfahrens, somit auch des Angeklagten voraus. Aus dem Fernbleiben eines gesetzeskonform geladenen Angeklagten von der Hauptverhandlung kann auf eine Zustimmung zu einem solchen Vortrag aber nicht geschlossen werden (vgl RIS-Justiz RS0127712, RS0117012 [T2]; siehe auch RIS-Justiz RS0099242 [T7]; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103, 134; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 234).

[11] Da eine – gegebenenfalls auch ein Einverständnis zur Verlesung beinhaltende (vgl erneut RIS-Justiz RS0127712) – Zustimmung des Angeklagten zum in der Hauptverhandlung am 15. Jänner 2021 erfolgten Vortrag der zuvor aufgezählten Aktenstücke, der auch Protokolle über die Vernehmungen von Zeugen umfasste, nicht vorlag, verletzt dieser § 252 Abs 2a (hinsichtlich der genannten Protokolle auch iVm Abs 1) iVm § 447 StPO.

[12] 3./ Nach § 245 Abs 1a StPO, der gemäß § 447 StPO auch für die Verhandlung vor dem Bezirksgericht gilt, ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Bei der vom Gesetz verlangten Vernehmung handelt es sich um ein der Gewährleistung des beiderseitigen rechtlichen Gehörs dienendes Erfordernis, ohne dessen Beachtung ein Zuspruch an den Privatbeteiligten nicht erfolgen darf (vgl RIS-Justiz RS0101178, RS0101197 [T3]; Kirchbacher/ Sadoghi, WK‑StPO § 245 Rz 23). Der im gegenständlichen Verfahren erfolgte Zuspruch an den Privatbeteiligten verletzt daher das Gesetz in der genannten Bestimmung.

[13] Es ist nicht auszuschließen, dass die Gesetzesverletzungen dem Angeklagten zum Nachteil gereichen. Deren Feststellung war daher mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO). Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist durch diese Entscheidung gegenstandslos (vgl auch RIS‑Justiz RS0133326).

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