OGH 13Os89/21v

OGH13Os89/21v29.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. September 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Vizthum in der Strafsache gegen * R* wegen des Vergehens des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs nach § 148a Abs 1 und 2 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 31 Hv 81/20m des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 3. Dezember 2020, AZ 18 Bs 264/20k, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132941

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 31 Hv 81/20m des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 3. Dezember 2020, AZ 18 Bs 264/20k, (ON 46) § 467 Abs 2 und 3 StPO iVm § 489 Abs 1 StPO.

Dieses Urteil, demzufolge auch der zugleich damit ergangene Beschluss (§ 498 Abs 3 letzter Satz StPO) werden aufgehoben.

Dem Oberlandesgericht Wien wird aufgetragen, über die Berufung und die Beschwerde des Angeklagten * R* neu zu entscheiden.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. August 2020 (ON 28) wurde * R* mehrerer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Mit zugleich ergangenem Beschluss (§ 494a Abs 4 StPO) wurde der Widerruf einer ihm gewährten bedingten Strafnachsicht ausgesprochen.

[2] Unmittelbar nach Verkündung des Urteils und ihm erteilter Rechtsmittelbelehrung erklärte der in der Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertretene R*, Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe anzumelden und Beschwerde gegen den genannten Beschluss zu erheben (ON 27 S 12).

[3] Am 28. August 2020 langte beim Oberlandesgericht Wien eine mit 24. August 2020 datierte, auf das Verfahren „31 Hv 81/20m“ bezogene und als „Nichtigkeit Berufung“ betitelte handschriftliche Eingabe des R* ein (ON 31 S 3 bis 6). An welchem Tag der – damals in Untersuchungshaft angehaltene – Genannte diese Eingabe einem Justizwachebeamten zur Weiterleitung an das Gericht übergab, ist den Akten nicht zu entnehmen.

[4] Das Oberlandesgericht Wien leitete diese Eingabe (zu AZ 32 Ns 233/20h) mit Verfügung vom 28. August 2020 dem Landesgericht für Strafsachen Wien (zu AZ 31 Hv 81/20m) „zur Amtshandlung“ weiter (ON 31 S 1), wo sie (nach ihrem Einlangen am 3. September 2020) zu den Akten genommen wurde.

[5] Am 8. September 2020 wurde dem Verteidiger eine Urteilsausfertigung zugestellt (ON 1 S 11). Am 2. Oktober 2020 brachte dieser die Ausführung der angemeldeten Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe sowie der Beschwerde ein, die Ausführung einer Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe oder wegen des Ausspruchs über die Schuld unterblieb (ON 34).

[6] Nach Durchführung einer Berufungsverhandlung in Anwesenheit des R* und seines Verteidigers, die (lediglich) ein dessen schriftlicher Rechtsmittelausführung (ON 34) entsprechendes Vorbringen erstatteten (ON 43), gab das Oberlandesgericht Wien den Rechtsmitteln mit Urteil (und mit gleichzeitig ergangenem Beschluss) vom 3. Dezember 2020, AZ 18 Bs 264/20k, (ON 46) nicht Folge. Dieses Urteil setzt sich ausschließlich mit der (ausgeführten) Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe auseinander. Auf weitere Berufungspunkte geht es dagegen nicht ein.

Rechtliche Beurteilung

[7] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht dieses Urteil mit dem Gesetz nicht in Einklang:

[8] Gegen die vom Landesgericht als Einzelrichter ausgesprochenen Urteile kann vom (dadurch beschwerten) Angeklagten – soweit hier von Bedeutung – das Rechtsmittel der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe, wegen des Ausspruchs über die Schuld und wegen des Ausspruchs über die Strafe ergriffen werden (§ 489 Abs 1 erster Satz StPO iVm § 464 Z 1 und 2 StPO).

[9] Die Berufung ist binnen drei Tagen nach Verkündung des Urteils beim Landesgericht anzumelden (§ 466 Abs 1 erster Satz StPO iVm § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO).

[10] An eine Frist gebundene Eingaben sind auch dann rechtzeitig, wenn sie innerhalb dieser Frist bei der Behörde eingebracht werden, die darüber zu entscheiden hat (§ 84 Abs 2 zweiter Satz StPO).

[11] Die Beifügung eines oder mehrerer Punkte, auf die sich die Berufung bezieht, bei ihrer Anmeldung (hier ON 27 S 12: „wegen Strafe“) ist nicht als schlüssiger Verzicht auf die Berufung wegen anderer Punkte anzusehen (RIS-Justiz RS0100304). Solcherart kann eine derartige Berufungsanmeldung (jedenfalls auch) fristgerecht um weitere Berufungspunkte ergänzt werden – eine Prozesshandlung, die auch der durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte selbst (wirksam) vornehmen kann (§ 57 Abs 2 zweiter Satz StPO).

[12] Als Berufungsausführung hingegen ist – ungeachtet der Zulässigkeit weiteren mündlichen Vorbringens zu einer prozessförmig ergriffenen (§ 467 Abs 2 erster Satz StPO iVm § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) Berufung wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe in einem Gerichtstag – nur eine Schrift beachtlich. Neben der vom Verteidiger ausgeführten Berufung sind vom Angeklagten selbst verfasste Aufsätze unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0100152 [T4]; Ratz, WK-StPO § 285 Rz 5 ff, § 294 Rz 5 und § 467 Rz 1).

[13] Die zugunsten des Angeklagten ergriffene Berufung wegen Nichtigkeit ist – soweit der Berufungswerber nicht unmissverständlich etwas anderes erklärt – auch als Berufung gegen den Ausspruch über die Schuld (und die Strafe) zu betrachten (§ 467 Abs 3 StPO iVm § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO).

[14] Wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe wurde eine Berufung genau dann ergriffen, wenn dieser Berufungspunkt im Sinn des § 467 Abs 2 StPO prozessförmig bezeichnet wurde. Auch wenn das Berufungsgericht einzelne Nichtigkeitsgründe ohne deren (bei der Anmeldung der Berufung oder in der Berufungsschrift erfolgte) deutliche und bestimmte Bezeichnung nicht berücksichtigen kann, zieht doch die (bloße) Bezeichnung dieses Berufungspunkts die Rechtsvermutung des § 467 Abs 3 StPO zugunsten des Angeklagten nach sich (Ratz, WK-StPO § 467 Rz 4 f).

[15] Im Gegenstand ist die vom Angeklagten selbst verfasste Eingabe – nach ihrem insoweit unmissverständlichen Erklärungswert („Nichtigkeit Berufung“; zur prozessualen Unbeachtlichkeit ihres nicht in der Gerichtssprache [Art 8 Abs 1 B-VG, § 53 Abs 1 Geo.] verfassten, weiteren Inhalts siehe RIS-Justiz RS0050205 [insbesondere T4]) – als Anmeldung der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe gegen das bezeichnete Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufzufassen.

[16] Hätte R* diese Eingabe – von deren Rechtzeitigkeit im Zweifel auszugehen wäre (Ratz, WK-StPO § 284 Rz 2) – binnen der Frist des § 466 Abs 1 erster Satz StPO beim Oberlandesgericht Wien (durch Abgabe in der Justizanstalt zur Weiterleitung an dieses) eingebracht (vgl § 84 Abs 2 zweiter Satz StPO), so hätte er dadurch die Berufung (auch) wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe, (mangels ausdrücklicher Einschränkung der Anfechtungserklärung) demnach überdies wegen des Ausspruchs über die Schuld, prozessförmig ergriffen.

[17] Indem das Oberlandesgericht die – zum Zeitpunkt seiner Entscheidung aktenkundige (vgl 13 Os 64/09z und 13 Os 126/18f) – in Rede stehende Erklärung des R* bei der Urteilsfällung nicht berücksichtigte, sondern sich dabei auf die Erledigung der (allein ausgeführten) Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe beschränkte, verletzte es § 467 Abs 2 und 3 StPO iVm § 489 Abs 1 StPO.

[18] Da nicht auszuschließen ist, dass diese Gesetzesverletzung zum Nachteil des Verurteilten wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

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