OGH 12Os97/13a

OGH12Os97/13a5.9.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. September 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel‑Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Buchner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Rozalia F***** wegen des Verbrechens des Mordes nach §§ 15 Abs 1, 75 StGB über die Beschwerde der Angeklagten gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. Juni 2013, GZ 10 Hv 41/13b‑106, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Im die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde betreffenden Teil wird der Beschwerde nicht Folge gegeben; im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Text

Gründe:

Rozalia F***** wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Geschworenengericht vom 28. Mai 2013 des Verbrechens des Mordes nach §§ 15 Abs 1, 75 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt (ON 93).

Nachdem die Angeklagte nach Urteilsverkündung (und Rücksprache mit ihrem Verteidiger) um drei Tage Bedenkzeit ersucht hatte (ON 92 S 27), meldete ihr Verteidiger mit Schriftsatz vom 31. Mai 2013 gegen das Urteil Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (ON 96).

Mit einem am 3. Juni 2013 beim Landesgericht für Strafsachen Graz eingegangenen, an den Vorsitzenden des Geschworenengerichts adressierten Schreiben erklärte die Angeklagte Rozalia F***** jedoch: „Ich bin mit den zehn Jahren einverstanden. Ich lege keine Berufung ein“ (ON 98).

Zu dieser Eingabe wurde die Angeklagte am 24. Juni 2013 niederschriftlich befragt und gab dazu in Gegenwart des Vorsitzenden des Geschworenengerichts, einer Schriftführerin sowie einer Dolmetscherin für die ungarische Sprache Folgendes an (ON 105):

„Ich will gegen das über mich verhängte Urteil (Freiheitsstrafe 10 Jahre) kein Rechtsmittel erheben und brachte das in der Eingabe ON 98 zum Ausdruck und zwar deshalb, weil an diesem Tag ... mein Anwalt bei mir war und unbedingt ein Rechtsmittel einbringen wollte, ich ihm aber erklärte, dass ich das nicht will. Ich war überrascht, dass er nicht das tat, was ich wollte, weshalb ich dem zuständigen Richter das schriftlich in ON 98 mitteilte, dass es mein Wille ist, dass gegen das Urteil von mir kein Rechtsmittel erhoben wird und ich mit zehn Jahren Freiheitsstrafe einverstanden bin. Weil ich das überhaupt nicht wollte, hat mir die [namentlich genannte] Justiz‑[wache‑]beamtin geholfen und gesagt, ich solle das dem Richter schreiben, dies sei der sicherste Weg und halte ich meine Eingabe ON 98 vollinhaltlich aufrecht.“

Mit dem angefochtenen (im Übrigen eine in Ansehung des darin genannten Instanzenzuges an das Oberlandesgericht Graz mit Blick auf §§ 285b Abs 2, 344 StPO unrichtige Rechtsmittelbelehrung enthaltenden) Beschluss wies der Vorsitzende des Geschworenengerichts die Nichtigkeitsbeschwerde ‑ sowie auch die Berufung ‑ „gemäß § 285a Z 1 StPO“ mit der Begründung zurück, dass die Angeklagte (gegenüber der Erklärung des Verteidigers prävalierend) wirksam auf Rechtsmittel gegen das genannte Urteil verzichtet habe.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen erhobenen Beschwerde der Angeklagten kommt ‑ in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur ‑ keine Berechtigung zu.

Gemäß § 57 Abs 2 zweiter Satz zweiter Halbsatz StPO gilt im Fall einander widersprechender Erklärungen eines Beschuldigten und des Verteidigers jene des Beschuldigten. Ein Verzicht auf Rechtsmittel gegen das Urteil, den der Beschuldigte (hier die Angeklagte) nicht im Beisein seines Verteidigers und nach Beratung mit diesem abgibt, ist jedoch ohne Wirkung (Satz 3 leg cit).

Durch die solcherart als Ausnahme vom Grundsatz der Prävalenz von Prozesserklärungen eines Beschuldigten gegenüber jenen seines Verteidigers konzipierte Bestimmung über besondere Wirksamkeitserfordernisse einer Rechtsmittelverzichts‑ erklärung betreffend Urteile soll der Angeklagte vor übereilten Handlungen, deren Konsequenzen er womöglich nicht abzuschätzen vermag, dadurch geschützt werden, dass ein nicht in Anwesenheit seines Verteidigers und damit ohne Möglichkeit individueller professioneller Beratung abgegebener Rechtsmittelverzicht des Angeklagten wirkungslos ist (Fabrizy, StPO11 § 57 Rz 10 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Eine Einschränkung dahin, dass ein unter den genannten Prämissen abgegebener Rechtsmittelverzicht des Angeklagten nur mündlich, nicht aber auch schriftlich erklärt werden könne, ist § 57 Abs 2 letzter Satz StPO weder dem Wortlaut noch der Zielsetzung nach zu entnehmen. Das Erfordernis der Anwesenheit des Verteidigers gilt jedoch nicht für schriftliche Verzichtserklärungen.

Vorliegend hat die Angeklagte nach dem ‑ auch in der Beschwerde nicht in Frage gestellten ‑ Inhalt ihrer niederschriftlichen Befragung unmissverständlich erklärt, dass sie (am letzten Tag der für die Anmeldung offen stehenden Frist [§§ 284 Abs 1, 294 Abs 1, 344 StPO]) mit ihrem Verteidiger die Frage der von diesem intendierten Einbringung von Rechtsmitteln gegen das Urteil ausdrücklich (kontroversiell) erörtert und die schriftliche Verzichtserklärung (ON 98) sodann gerade deshalb verfasst habe, um ihrem Prozessstandpunkt zum Durchbruch zu verhelfen (vgl Achammer, WK‑StPO § 58 Rz 52). Solcherart kann es aber keinem Zweifel unterliegen, dass die Angeklagte, wie von § 57 Abs 2 letzter Satz StPO gefordert, ihre schriftlich abgefasste Verzichtserklärung nach Beratung mit ihrem Verteidiger abgegeben hat.

Gründe, welche die Wirksamkeit der Verzichtserklärung der Angeklagten in Frage zu stellen geeignet wären, werden mit der Beschwerde nicht vorgebracht:

Der Beschwerdestandpunkt einer Zuständigkeit des Drei‑Richter‑Senats (§ 31 Abs 6 StPO) anstelle des Vorsitzenden des Geschworenengerichts zur Fassung des angefochtenen Beschlusses übersieht die letzteres ausdrücklich anordnende Bestimmung der §§ 285b Abs 1, 344 StPO.

Der Beschwerdeeinwand, die in der niederschriftlichen Befragung vorgebrachte Bekräftigung der Rechtsmittelverzichtserklärung durch die Angeklagte sei mangels Anwesenheit und Beratung des Verteidigers wirkungslos, verkennt, dass ‑ wie zuvor dargelegt ‑ die Angeklagte bereits mit der schriftlichen Erklärung ON 98 wirksam auf Rechtsmittel gegen das Urteil verzichtet hat.

Ein reklamierter, in der irrigen Meinung einer vorliegend möglichen reformatio in peius gelegener Motivirrtum ist für die Wirksamkeit der Verzichtserklärung der Angeklagten ohne Bedeutung (RIS‑Justiz RS0099945 [T21, T22, T24, T25]). Die Behauptung der Herbeiführung eines derartigen Irrtums der Angeklagten durch den Vorsitzenden des Geschworenengerichts anlässlich ihrer Befragung am 24. Juni 2013 ist mit Blick auf die zuvor erfolgte wirksame schriftliche Rechtsmittelverzichtserklärung ohne Belang.

Der somit unbegründeten Beschwerde war in dem die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde betreffenden Teil nicht Folge zu geben.

Eine trotz Rechtsmittelverzichts angemeldete Berufung darf vom Erstgericht nicht zugleich mit der Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 285a Z 1 StPO (iVm § 344 StPO) zurückgewiesen werden, weil es an einer gleichlautenden Bestimmung bei dem Verfahren über die Berufung fehlt (§ 294 Abs 4 StPO; RIS‑Justiz RS0100124). Die vorliegend auch erfolgte Zurückweisung der von der Angeklagten angemeldeten Berufung war zufolge insoweit fehlender Kompetenz des Erstgerichts wirkungslos, weshalb die Beschwerde in dem dagegen gerichteten Teil mangels gesetzlichen Bezugspunkts dieses Rechtsmittels zurückzuweisen war. Über die (angemeldete) Berufung wird das Oberlandesgericht Graz zu entscheiden haben (13 Os 144/10s mwN).

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