European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0120OS00003.19M.0124.000
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Gründe:
Im Verfahren AZ 15 U 89/18v des Bezirksgerichts Josefstadt legte die Staatsanwaltschaft Wien dem Angeklagten Michael K***** als Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (I./) und des Hausfriedensbruchs nach § 109 Abs 1 StGB (II./) beurteilte Verhaltensweisen zur Last.
Im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung (ON 2 AS 19 ff) belastete die Zeugin Inna H***** den Angeklagten, der auch der Vater ihres Kindes ist (ON 22 AS 23). Sie war über ihre „Rechte und die Aussagebefreiung in Kenntnis gesetzt“ worden, hatte jedoch nicht ausdrücklich auf ihre Befreiung von der Aussagepflicht (ON 2 AS 22) verzichtet.
In der Hauptverhandlung am 27. Juni 2018 wurde Inna H***** weder gemäß § 156 Abs 1 Z 1 StPO belehrt noch verzichtete sie auf ihre Aussagebefreiung (ON 10 AS 5 ff). Erst nach Schilderung des Tathergangs erklärte die Zeugin, sich dem Strafverfahren als Privatbeteiligte anzuschließen (ON 10 AS 11).
In der Folge wurde (unter anderem) „die Zeugenvernehmung H*****“ ohne Einverständnis des Anklägers und des Angeklagten und ohne Bezugnahme auf eine Gesetzesstelle verlesen (ON 10 AS 11).
Mit Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 27. Juni 2018, GZ 15 U 89/18v‑11, wurde Michael K***** „im Sinne des Strafantrags“ schuldig erkannt. Hinsichtlich eines in der Hauptverhandlung erhobenen Vergewaltigungsvorwurfs wurde der Staatsanwaltschaft (verfehlt in Beschlussform [vgl RIS‑Justiz RS0098797]) die selbstständige Verfolgung vorbehalten (ON 10 AS 13).
Über die vom Angeklagten gegen dieses Urteil erhobene Berufung (ON 15) wurde noch nicht entschieden.
Nach Ansicht der Generalprokuratur verletzt das Unterbleiben der Belehrung der Zeugin Inna H***** über ihre Befreiung von der Aussagepflicht § 159 Abs 1 erster Satz StPO iVm § 156 Abs 1 Z 1 StPO und die in der Hauptverhandlung erfolgte Verlesung des Polizeiprotokolls über die Vernehmung der genannten Zeugin § 252 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 447 StPO. Die Generalprokuratur führt dazu Folgendes aus:
Für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht gelten – soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt – die Bestimmungen für das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).
1./ Gemäß § 156 Abs 1 Z 1 StPO sind Personen, die im Verfahren gegen einen Angehörigen – worunter auch der Vater des Kindes der Zeugin zu verstehen ist (§ 72 Abs 1 StGB) – aussagen sollen, von der Pflicht zur Aussage befreit, worüber Zeugen gemäß § 159 Abs 1 StPO vor Beginn ihrer Vernehmung zu informieren sind. Hat ein Zeuge auf seine Befreiung von der Aussagepflicht nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO nicht ausdrücklich verzichtet, so ist seine gesamte Aussage nichtig (§ 159 Abs 3 erster Satz StPO).
Die Mitwirkung einer erwachsenen Person am Verfahren als Privatbeteiligte führt zwar nach § 156 Abs 2 StPO zu einem Entfall der Aussagebefreiung nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO. Gegenständlich erfolgte die Anschlusserklärung jedoch erst nach Ablegung der (inhaltlichen) Zeugenaussage in der Hauptverhandlung und kann – ebenso wie ein nachträglicher ausdrücklicher Verzicht des Zeugen auf das Zeugnisverweigerungsrecht – die Unterlassung der vor der Vernehmung gebotenen Belehrung nicht sanieren (vgl Kirchbacher, WK‑StPO § 159 Rz 11; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 224).
2./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen werden.
Ein Einverständnis von Ankläger und Angeklagtem mit der Verlesung der (nichtigen) Aussage der Zeugin H***** vor der Polizei im Sinn der – gegenständlich (mangels Anhaltspunkten in Richtung des § 252 Abs 1 Z 2 StPO) einzig in Betracht kommenden – Verlesungsermächtigung nach § 252 Abs 1 Z 4 StPO ist dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 27. Juni 2018 nicht zu entnehmen.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
1./ Vorauszuschicken ist, dass der Oberste Gerichtshof zu prozessualen Tatsachen aus den Akten eigenständige Feststellungen treffen und aufgrund dieser in der Sache selbst entscheiden kann (vgl RIS‑Justiz RS0100227 [T5]; Ratz, WK‑StPO § 288 Rz 40 ff; mit Bezug auf Verfolgungsermächtigungen gemäß § 92 StPO siehe insbesondere Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 9.258). Demnach wird festgehalten, dass Inna H***** am 23. März 2017 die Ermächtigung zur Strafverfolgung des Michael K***** erteilt hatte (ON 3 AS 7) und diese Ermächtigung zu Beginn ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung am 27. Juni 2018 aufrecht hielt. Zudem nahm die Zeugin vor Gericht auf ihre Angaben vor der Polizei Bezug (ON 10 AS 5 f).
Teleologischer Hintergrund des von § 156 Abs 2 StPO angeordneten Entfalls der Aussagebefreiung für den (erwachsenen) Privatbeteiligten ist der Umstand, dass diese Zeugen durch eine Prozesserklärung einen Verfolgungswillen zum Ausdruck gebracht haben, der mit einer bloß passiven Verfahrensbeteiligung nicht vereinbar ist (vgl EBRV StPRG 2004 25. BlgNR 22. GP 202; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.554 mwN). Der Gedanke, dass der für Angehörige typische Interessenkonflikt zwischen verwandtschaftlichen Gefühlen und Wahrheitspflicht im Fall einer Beteiligung an der Strafverfolgung des Angehörigen in der Regel nicht vorliegt (EBRV aaO), schlägt auch auf eine (erwachsene) Person durch, die (hier: wegen § 109 Abs 2 StGB) gegen den beschuldigten Angehörigen (iSd § 72 StGB) die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt hat. Eine solche Prozesshandlung bringt das dem Aussagebefreiungsrecht entgegen stehende Verfolgungsinteresse sogar noch stärker zum Ausdruck als eine bloße Anschlusserklärung als Privatbeteiligter (die im Übrigen auch als Ermächtigung gilt – vgl § 92 Abs 2 letzter Satz StPO), stellt doch die Ermächtigung eine notwendige Bedingung für einen Schuldspruch wegen eines Ermächtigungsdelikts dar (vgl RIS‑Justiz RS0120037; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 1.106). Auf den vorliegenden Fall ist daher § 156 Abs 2 StPO analog anzuwenden. Das hat zur Folge, dass die Zeugin Inna H***** in der Hauptverhandlung aufgrund der zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Ermächtigung zur Strafverfolgung zur Aussage verpflichtet war und dazu vom Erstgericht auch zu Recht verhalten wurde.
2./ Die Verlesung der Angaben der Inna H***** vor der Polizei stellt kein Unmittelbarkeitssurrogat dar, weil diese Zeugin vor dem erkennenden Gericht in der Hauptverhandlung ausgesagt und sich dabei auch auf ihre früheren Angaben bezogen hat. § 252 Abs 1 StPO kommt daher schon deshalb nicht zum Tragen (vgl RIS‑Justiz RS0110150; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 230).
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.
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