European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0120OS00111.18T.0124.000
Spruch:
In der Strafsache AZ 4 U 145/17b des Bezirksgerichts Gmunden verletzen
1./ die Fällung des Urteils dieses Gerichts vom 15. Februar 2018 und
2./ das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 16. Mai 2018, AZ 24 Bl 30/18i,
jeweils § 7 Abs 3 (iVm Abs 1 und Abs 2) JGG, das Berufungsurteil im Unterlassen der Aufhebung des erstgenannten Urteils überdies § 471 StPO iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO.
Das erstgenannte Urteil wird aufgehoben und die Sache mit dem Auftrag an das Bezirksgericht Gmunden verwiesen, gemäß § 7 Abs 3 (iVm Abs 1 und Abs 2) JGG nach dem 11. Hauptstück der StPO vorzugehen.
Mit seinem Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wird Manuel B***** auf diese Entscheidung verwiesen.
Gründe:
Im Verfahren AZ 4 U 145/17b des Bezirksgerichts Gmunden legte die Staatsanwaltschaft Wels dem am 24. Juli 2002 geborenen Manuel B***** mit Strafantrag vom 13. November 2017 ein als die Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB und der Sachbeschädigung nach § 125 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 6).
An der am 11. Jänner 2018 und am 15. Februar 2018 durchgeführten Hauptverhandlung nahm jeweils (auch) zumindest ein gesetzlicher Vertreter des durch einen Verteidiger vertretenen Manuel B***** teil. Zu den gegen den minderjährigen Angeklagten erhobenen privatrechtlichen Ansprüchen wurden die gesetzlichen Vertreter nach der Aktenlage (vgl ON 13 und ON 18) nicht gehört (vgl aber § 38 Abs 1 JGG iVm § 245 Abs 1a StPO; RIS-Justiz RS0122004).
Mit Urteil des Bezirksgerichts Gmunden vom 15. Februar 2018, GZ 4 U 145/17b-21, wurde Manuel B***** des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (1./) sowie (richtig:) des Vergehens (§ 29 StGB; RIS-Justiz RS0114927, RS0090615; vgl auch ON 18 S 11) der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (2./) schuldig erkannt und „unter Anwendung der §§ 28, 29 StGB und § 5 Z 1 (laut Protokoll über die Hauptverhandlung ‘Z 4‘ [ON 18 S 11]; ersichtlich gemeint: Z 5) JGG“ nach § 83 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen und für den Fall deren Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von 40 Tagen verurteilt. Gemäß § 369 (zu ergänzen:) Abs 1 StPO wurde er (ohne Setzung einer Leistungsfrist, vgl aber RIS-Justiz RS0126774) zur Zahlung eines „Teilschmerzensgeldes“ von 500 Euro an David R***** und eines „Teilschadenersatzes“ von 300 Euro an Gerhard R***** verpflichtet, die (gemäß § 366 Abs 2 StPO) mit ihren darüber hinausgehenden Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen wurden.
Nach dem Schuldspruch hat Manuel B***** am 1. April 2017 in S*****
1./ David R***** durch Versetzen von mehreren Faustschlägen (US 3) ins Gesicht vorsätzlich (US 3) am Körper verletzt, wodurch dieser eine Kopfprellung sowie ein Hämatom unterhalb des linken Auges erlitt;
2./ eine fremde Sache beschädigt, und zwar
a./ durch die unter 1./ dargestellte Tat die Brille des David R*****, welche zu Boden fiel und zerbrach, sowie
b./ das Fahrzeug des (richtig:) Gerhard (US 3) R*****, indem er unmittelbar nach der unter 1./ dargestellten Tat mit dem Fuß gegen die rechte hintere Seitenwand des Fahrzeugs trat, wodurch Eindellungen entstanden.
Nach den Entscheidungsgründen war der im Tatzeitpunkt 14-jährige, bislang unbescholtene Angeklagte geständig (US 4) und zur Schadensgutmachung bereit (teilweise Anerkennung von Schadenersatzansprüchen des Privatbeteiligten Gerhard R***** [US 5]).
Unmittelbar nach der Urteilsverkündung meldete der Angeklagte „volle Berufung […] wegen Nichtigkeit, Schuld und Zuspruch an die Privatbeteiligten“ an (ON 18 S 13).
Die – allein aufrecht erhaltene (ON 23a S 2) – Berufung wegen Nichtigkeit (§ 468 Abs 1 Z 2 und Z 4 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO; ON 22) wurde mit Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 16. Mai 2018, AZ 24 Bl 30/18i (ON 24), zurückgewiesen.
Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen die Fällung des Urteils des Bezirksgerichts Gmunden vom 15. Februar 2018, GZ 4 U 145/17b-21, und das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 16. Mai 2018, AZ 24 Bl 30/18i (ON 24), mit dem Gesetz nicht in Einklang:
Rechtliche Beurteilung
1./ Zum Urteil des Bezirksgerichts Gmunden vom 15. Februar 2018 (ON 21):
Gemäß § 7 Abs 1 JGG hat die Staatsanwaltschaft nach dem 11. Hauptstück der StPO vorzugehen und von der Verfolgung einer Jugendstraftat zurückzutreten, wenn aufgrund hinreichend geklärten Sachverhalts feststeht, dass eine Einstellung des Verfahrens nach den §§ 190 bis 192 StPO nicht in Betracht kommt, eine Bestrafung jedoch im Hinblick auf (Z 1) die Zahlung eines Geldbetrags (§ 200 StPO), (Z 2) die Erbringung gemeinnütziger Leistungen (§ 201 StPO), (Z 3) die Bestimmung einer Probezeit, in Verbindung mit Bewährungshilfe und der Erfüllung von Pflichten (§ 203 StPO), oder (Z 4) einen Tatausgleich https://rdb.manz.at/document/1141_9_stgb_jgg_p0007?execution=e4s1 § 204 StPO) nicht geboten erscheint, um den Beschuldigten von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten.
Zudem verlangt – soweit hier von Bedeutung – Abs 2 Z 1 des § 7 JGG, dass die Schuld des Beschuldigten nicht als schwer (§ 32 StGB) anzusehen wäre.
Diese für die Staatsanwaltschaft geltenden Bestimmungen sowie jene des § 8 JGG und der §§ 198 und 200 bis 209 StPO hat nach Einbringung der Anklage wegen Begehung einer strafbaren Handlung, die von Amts wegen zu verfolgen ist, gemäß § 7 Abs 3 JGG das Gericht sinngemäß anzuwenden und das Verfahren unter den für die Staatsanwaltschaft geltenden Voraussetzungen bis zum Schluss der Hauptverhandlung mit Beschluss einzustellen.
Bei Bewertung des Grades der Schuld als schwer ist von jenem Schuldbegriff auszugehen, der nach §§ 32 ff StGB die Grundlage für die Strafbemessung bildet, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. Demnach müssen Handlungs-, Erfolgs- und Gesinnungsunwert insgesamt eine Höhe erreichen, die im Weg einer überprüfenden Gesamtwertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist. Dabei kommt auch der vom Gesetzgeber in der Strafdrohung zum Ausdruck gebrachten Vorbewertung des deliktstypischen Unrechts- und Schuldgehalts eine Indizwirkung für die Schuldabwägung zu (RIS-Justiz RS0122090 [T11], RS0116021 [T8, T22]; vgl insbesondere auch Schroll, WK-StPO § 198 Rz 28 ff). Vergleichsmaßstab bilden auch bei Straftaten von Jugendlichen vorerst alle einer Diversion im Bereich des über 21 Jahre alten Erwachsenen zugänglichen Straftaten (Schroll, WK2 JGG § 7 Rz 14 mwN).
Mit Blick auf die – hier nach § 5 Z 4 und Z 5 JGG auf die Hälfte reduzierten – Strafdrohungen des § 83 Abs 1 StGB (also bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen) und des § 125 StGB (also bis zu drei Monaten Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen)
kommt daher die Annahme eines gesteigerten Schuldgehalts nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht.
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen deutlich überdurchschnittlichen Handlungs-, Gesinnungs- und Erfolgsunwerts (vgl Schroll, WK‑StPO § 198 Rz 14) sind dem Inhalt des Aktes des Bezirksgerichts Gmunden, AZ 4 U 145/17b, ebenso wenig zu entnehmen wie spezialpräventive Diversionshindernisse (zur Irrelevanz generalpräventiver Überlegungen bei Prüfung der Diversionsvoraussetzungen hinsichtlich einer Jugendstraftat vgl Schroll in WK² JGG § 7 Rz 17). Vielmehr verantwortete sich der Angeklagte von Anfang an geständig (ON 2 S 31, ON 18 S 3, ON 18 S 5).
Bei dem Umstand, dass die von der Staatsanwaltschaft zunächst versuchte Diversion in Form eines Tatausgleichs iSd § 204 Abs 1 StPO scheiterte (vgl ON 1 S 1 und ON 5), ist zu berücksichtigen, dass Manuel B***** ursprünglich sehr wohl „Interesse und Bereitschaft“ an einem Tatausgleich zeigte und erst in Reaktion auf die Mitteilung, dass der Geschädigte David R***** einem solchen Ausgleich ausdrücklich nicht zustimme, erklärte, „die gerichtliche Klärung der ganzen Angelegenheit anzustreben“ (ON
5 S 5).
Das Bezirksgericht Gmunden hätte daher aufgrund des Vorliegens sämtlicher Voraussetzungen des § 7 Abs 1 und Abs 2 JGG gemäß § 7 Abs 3 JGG nach dem 11. Hauptstück der StPO vorzugehen gehabt.
Nur klarstellend sei angemerkt, dass ein Vorgehen nach § 4 Abs 2 Z 2 JGG nicht in Frage kam, weil die Vielzahl der Aggressionsakte die Anwendung des § 7 JGG erfordert, um weiterer Delinquenz entgegenzuwirken.
2./ Zum Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 16. Mai 2018 (ON 24):
Ein Urteil ist aus § 281 Abs 1 Z 10a StPO (fallbezogen iVm § 468 Abs 1 Z 4 StPO) – soweit hier von Bedeutung – dann nichtig, wenn die darin enthaltenen Feststellungen bei richtiger Rechtsansicht die Nichtanwendung der Diversion nicht zu tragen vermögen. Nicht anders als im Fall von Rechts- und Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 und Z 10 StPO) ist Gegenstand der Prüfung einer Nichtigkeit aus dem Grund der Z 10a der Vergleich der (gesamten) im Urteil getroffenen Konstatierungen mit den fallaktuell – mit Blick auf das Vorliegen vonJugendstraftaten – in § 7 Abs 1 und Abs 2 (iVm Abs 3) JGG normierten Diversionskriterien (RIS-Justiz RS0119091, RS0124801, RS0116823; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 659).
Die Sachverhaltsannahmen des Urteils des Bezirksgerichts Gmunden vom 15. Februar 2018, GZ 4 U 145/17b-21, bringen keinen deutlich überdurchschnittlichen Handlungs-, Gesinnungs- und Erfolgsunwert zum Ausdruck, sodass die Schuld des Manuel B***** nicht als schwer im Sinn des § 7 Abs 2 Z 1 JGG einzustufen ist.
Auch konstatierte das Erstgericht keine spezialpräventiven Diversionshindernisse.
Das Landesgericht Wels als Berufungsgericht wäre somit gehalten gewesen, das demnach mit materieller Nichtigkeit behaftete Urteil (§ 468 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 10a StPO) aus Anlass der Berufung des Angeklagten Manuel B***** (vgl Ratz, WK-StPO § 290 Rz 5, 7) von Amts wegen aufzuheben und die Sache an das Bezirksgericht Gmunden mit dem Auftrag zu verweisen, gemäß § 7 Abs 3 (iVm Abs 1 und Abs 2) JGG nach dem 11. Hauptstück der StPO vorzugehen (§ 471, § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).
Da die aufgezeigten Gesetzesverletzungen dem Verurteilten zum Nachteil gereichen, war deren Feststellung mit konkreter Wirkung wie aus dem Spruch ersichtlich zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
Einer formellen Aufhebung der von dem aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängigen Entscheidungen und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 28).
Anzumerken bleibt, dass der Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft die iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützte Position der Privatbeteiligten nicht entgegensteht, weil bei – wie hier – untrennbar mit dem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) im Strafverfahren stets der Schutz des Angeklagten prävaliert (RIS-Justiz RS0124740; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 43/1).
Mit seinem gegen die beiden vorgenannten Urteile gerichteten Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens war Manuel B***** auf diese Entscheidung zu verweisen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)