OGH 10ObS71/22x

OGH10ObS71/22x28.7.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dora Camba (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alexander Leitner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. A*, vertreten durch Dr. Gerhard Taufner, Mag. Johann Huber und Dr. Melanie Haberer, Rechtsanwälte in Melk, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. Februar 2022, GZ 7 Rs 124/21 p‑58, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00071.22X.0728.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der 1969 geborene Kläger hat das Studium der Medizin absolviert. Zuletzt war er eineinhalb Jahre als praktischer Arzt in einem physikalischen Zentrum (bis Dezember 2014) beschäftigt. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag am 1. 4. 2018 war der Kläger nicht mindestens 90 Beitragsmonate hindurch als Arzt beschäftigt. Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen ist der Kläger nur mehr in der Lage, leichte und drittelzeitig mittelschwere körperliche Arbeiten mit hohem geistigen Anforderungsprofil zu den üblichen Arbeitszeiten, mit den üblichen Pausen und den weiteren, vom Erstgericht festgestellten Einschränkungen zu verrichten. Mit diesem Leistungskalkül ist dem Kläger eine Aufgabenstellung als Allgemeinmediziner nicht mehr zumutbar. Eine Verweisung ist jedoch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, etwa als Tagportier, möglich.

[2] Mit Bescheid vom 18. 12. 2018 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Zuerkennung der vom Kläger am 15. 3. 2018 beantragten Berufsunfähigkeitspension ab, weil der Kläger trotz Aufforderung nicht zur Untersuchung erschienen sei.

[3] Der Kläger begehrt mit seiner dagegen gerichteten Klage die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Der Kläger habe nach dem vorliegenden Versicherungsverlauf das Hochschulstudium bereits im Jahr 1997 abgeschlossen, aber erst ab Februar 2008 als Arzt gearbeitet. Zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag lägen daher mehr als 15 Jahre, sodass die Ausnahmeregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG nicht zur Anwendung komme.

Rechtliche Beurteilung

[6] In seiner gegen diese Entscheidung erhobenen außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) auf:

[7] 1. Berufsschutz im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG liegt vor, wenn der Versicherte innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellter oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt hat. Diese Voraussetzung ist hier unstrittig nicht erfüllt.

[8] 2. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (§ 255 Abs 2a ASVG) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss nach der Ausnahmeregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG (hier iVm § 273 Abs 1 Satz 2 ASVG) zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellter vorliegen. Als Ende der Ausbildung gelten der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul‑ oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellter (§ 255 Abs 2a ASVG). § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG stellt nach der Rechtsprechung eine Ausnahmeregelung für jene Versicherten dar, bei denen zwischen dem Ende der – ersten (10 ObS 97/20t SSV‑NF 34/61; RIS‑Justiz RS0127798 [T2]) – Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war (10 ObS 86/16v SSV‑NF 30/48). Nur in diesem Fall genügt das Vorliegen einer qualifizierten Erwerbstätigkeit zumindest in der Hälfte der Kalendermonate. § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG ist als Ausnahmeregelung zur Grundregelung des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG einschränkend auszulegen (RS0127798 [T1]; zuletzt 10 ObS 180/21z).

[9] 3.1 Diese vom Berufungsgericht beachtete Rechtsprechung zieht der Revisionswerber nicht in Zweifel. Er macht jedoch geltend, dass das Berufungsgericht zu Unrecht vom Abschluss seines Hochschulstudiums im Jahr 1997 ausgegangen sei, der diesbezügliche Rückgriff des Berufungsgerichts auf den Versicherungsdatenauszug begründe eine Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit des Verfahrens. Tatsächlich habe der Kläger sein Studium im Jahr 2005 abgeschlossen. Infolge Erkrankung sei ihm zwischen 2005 und 2008 keine Berufstätigkeit möglich gewesen. Erst mit 29. 1. 2008 habe er als Arzt zu arbeiten begonnen. Bis zum Stichtag seien von diesem Zeitpunkt an aber nur 123 Versicherungsmonate gelegen, sodass § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG zur Anwendung gelange. Nach dem Versicherungsdatenauszug habe der Kläger in 63 Beitragsmonaten, daher in mehr als der Hälfte dieses Zeitraums (61,5 Monate) qualifiziert gearbeitet und genieße Berufsschutz.

[10] 3.2 Selbst wenn man diese Ausführungen des Klägers zu seinen Gunsten heranzieht und von einem Abschluss der Hochschulausbildung mit 31. 12. 2005 ausgeht, so zeigt der Revisionswerber damit keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis auf: Ausgehend vom maßgeblichen (§ 255 Abs 2a ASVG) Abschluss der Hochschulausbildung lägen nämlich zwischen dem 31. 12. 2005 und dem Stichtag 1. 4. 2018 weitere 25 Kalendermonate, gesamt daher 148 Kalendermonate. Der Kläger war jedoch nach seinem eigenen Vorbringen in weniger als der Hälfte dieser Monate, nämlich nur in 63 Beitragsmonaten als Arzt qualifiziert tätig. Auch nach den Revisionsausführungen könnte daher die Hälfteregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG nicht zur Anwendung gelangen.

[11] 3.3 Der Revisionswerber begehrt mit der Behauptung, ihm sei eine Erwerbstätigkeit als Arzt in den Jahren 2005 bis 2008 „aufgrund von Erkrankungen“ nicht möglich gewesen, erkennbar eine Verlängerung des Rahmenzeitraums. Dem steht bereits der Wortlaut des § 255 Abs 2 Satz 4 ASVG entgegen: Liegen danach zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag mehr als 15 Jahre, so verlängert sich der in § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG genannte Rahmenzeitraum um die in diesem Zeitraum liegenden Versicherungsmonate nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a, d, e und g ASVG, um Monate des Bezugs von Übergangsgeld nach § 306 ASVG sowie um höchstens 60 Monate des Bezugs von Rehabilitationsgeld nach § 143a ASVG und von Umschulungsgeld nach § 39b AlVG. Für die Frage der Erhaltung des Berufsschutzes hat der Oberste Gerichtshof das Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke in § 255 Abs 2 ASVG bejaht, die im Hinblick auf das Gebot der verfassungskonformen Interpretation im Weg der analogen Anwendung des § 255 Abs 4 Z 1 ASVG zu schließen ist: Demnach wird der Rahmenzeitraum des § 255 Abs 2 ASVG auch um (neutrale) Zeiten des Bezugs einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (§ 234 Abs 1 Z 2 lit a ASVG) verlängert (10 ObS 12/14h SSV‑NF 28/13; 10 ObS 14/18h SSV‑NF 32/17; RS0129361). Ob dies auch für das Erlangen des Berufsschutzes gilt, muss hier nicht abschließend beantwortet werden, weil der Revisionswerber weder im Verfahren erster Instanz noch im Rechtsmittelverfahren das Vorliegen einer der in § 255 Abs 2 Satz 4 ASVG genannten Zeiten oder Zeiten des Bezugs einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit zwischen 2005 und 2008 behauptet und dafür auch keine Hinweise aus dem Akteninhalt vorliegen.

[12] Die außerordentliche Revision ist daher mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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