Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 2.029,44 bestimmten halben Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 338,24 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 25. 1. 1999 gewährte die Stadt Innsbruck dem Kläger gemäß dem Tiroler Sozialhilfegesetz (TirSHG) und der Tiroler Sozialhifeverordnung für die Zeit vom 1. 2. bis 1. 12. 1999 monatliche Beträge von S 5.595 als Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes und S 2.580 als Hilfe zur Deckung des Mietaufwandes. Weiters bezieht der Kläger vom Land Tirol eine Mietzinsbeihilfe von S 2.440 monatlich. Seit 18. 9. 1998 ist der Kläger freiwillig krankenversichert (nach § 16 ASVG); die Beiträge hiefür werden ebenfalls vom Sozialamt getragen. Für seinen minderjährigen Sohn zahlt der Kläger einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von S 500.
Mit Bescheid vom 26. 5. 1999 wies die beklagte Gebietskrankenkasse den Antrag des Klägers vom 30. 4. 1999, ihn infolge besonderer sozialer Schutzbedürftigkeit von der Rezeptgebühr zu befreien, mit der Begründung ab, dass nach § 12 der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger erlassenen "Richtlinien für die Befreiung von der Rezeptgebühr gemäß § 31 Abs 5 Z 16 ASVG" (in Hinkunft kurz RL) in der Krankenversicherung freiwillig versicherten Personen, die Hilfe (bzw einen Zuschuss) zur Sicherung ihres Lebensbedarfes von einem Träger der Sozialhilfe erhalten, eine Befreiung von der Rezeptgebühr nicht bewilligt werden darf.
Das Erstgericht wies das gegen diesen Bescheid erhobene Klagebegehren auf Befreiung von der Rezeptgebühr ab. Es schloss sich dem Rechtsstandpunkt der beklagten Partei an, verwies dazu insbesondere auf § 136 ASVG und § 12 RL und verneinte die vom Kläger behauptete angebliche Ungleichbehandlung sozial Bedürftiger auf Grund dieser Rechtslage.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision nach § 46 Abs 1 ASGG zulässig sei. Es bejahte zunächst ausdrücklich die - vom Erstgericht stillschweigend angenommene - Zulässigkeit des Rechtsweges für das gestellte Klagebegehren. Der Versicherte habe nach § 136 Abs 5 ASVG (wiederholt irrtümlich als § 135 Abs 5 bezeichnet) einen Rechtsanspruch auf Befreiung von der Rezeptgebühr, die also nicht im freien Ermessen des Versicherungsträgers liege. Gegenstand des Verfahrens sei somit ein Rechtssteit über den Umfang einer indirekten Versicherungsleistung, weshalb eine Sozialrechtssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG vorliege.
In der Sache selbst verneinte das Berufungsgericht eine Bindung der Gerichte an die Bestimmungen der RL, die nach § 31 Abs 6 ASVG nur für die im Hauptverband zusammengefassten Versicherungsträger verbindlich seien. Es hielt dabei die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Unverbindlichkeit der Richtlinien für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG (SSV-NF 10/131; 11/3; SZ 69/278; DRdA 1997, 382 ua) auch hier für maßgeblich.
Dennoch sei der Anspruch des Klägers unberechtigt, weil die im § 136 Abs 5 ASVG geforderte besondere soziale Schutzbedürftigkeit nicht vorliege. Die dem Kläger gewährte Sozialhilfe umfasse nach § 3 TirSHG die Hilfe in besonderen Lebenslagen, zu der wiederum die Krankenhilfe gehöre (§ 5 Abs 1 lit a TirSHG). Diese sei nach § 2 TirSHG als Sachleistung ausgebildet und umfasse gemäß § 5 Abs 2 TirSHG Maßnahmen zur Feststellung und Heilung von Krankheiten einschließlich der Zahnbehandlung und des Zahnersatzes. Zur Krankenhilfe gehöre auch der Ersatz (die Refundierung) der den Sozialhilfeempfängern erwachsenden Rezeptgebühren durch den Sozialhilfeträger. Der Kläger habe demnach die Rezeptgebühr nur vorschussweise zu zahlen und werde letztlich mit diesen Kosten nicht belastet. § 12 RL stehe damit nur ein einem scheinbaren Widerspruch zu § 136 Abs 5 ASVG: es würden nur jene freiwillig Versicherten vom Personenkreis ausgenommen, die Sozialhilfeempfänger seien und deren Rezeptgebühr letztendlich vom Sozialhilfeträger bestritten werde. Die vom Kläger behauptete Gleichheitswidrigkeit liege nicht vor.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens. Überdies wird angeregt, allenfalls ein Normenprüfungsverfahren beim Verfassungsgerichtshof hinsichtlich der § 136 Abs 1 und 5, § 31 Abs 1, Abs 3 Z 1 und 3 und Abs 5 Z 16 ASVG sowie § 12 RL einzuleiten.
Die beklagte Partei beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.
Gemäß § 136 Abs 5 ASVG hat der Versicherungsträger bei Vorliegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit des Versicherten nach Maßgabe der vom Hauptverband hiezu erlassenen Richtlinien von der Einhebung der Rezeptgebühr (für den Bezug eines Heilmittels auf Rechnung des Versicherungsträgers nach Abs 3) abzusehen. Richtlinien im Sinne des § 31 Abs 2 Z 3 ASVG sind nach § 31 Abs 5 Z 16 ASVG insbesondere für die Befreiung von der Rezeptgebühr bei Vorliegen einer besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit des Versicherten aufzustellen; in diesem Richtlinien ist der für die Befreiung in Betracht kommende Personenkreis nach allgemeinen Gruppenmerkmalen zu umschreiben; darüber hinaus ist eine Befreiungsmöglichkeit im Einzelfall in Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten sowie der Art und Dauer der Erkrankung vorzusehen.
Solche Richtlinien (RL) wurden, wie schon oben dargestellt, vom Hauptverband erlassen und ordnungsgemäß (§ 31 Abs 8 ASVG) in der Fachzeitschrift "Soziale Sicherheit" verlautbart (SozSi 1996, 1065, Amtliche Verlautbarung Nr 114/1996, teilweise geringfügig abgeändert SozSi 1997, 398, Amtliche Verlautbarung Nr 37/1997). § 2 RL ("Gesetzliche Befreiung") nennt ua jene Krankheiten, in deren Fall eine Rezeptgebühr von Gesetzes wegen nicht eingehoben werden darf. Unter der Überschrift "Befreiung bei besonderer sozialer Schutzbedürftigkeit" zählt § 3 RL Bezieher bestimmter, die Pflichtversicherung in der Krankenversicherung begründender Geldleistungen auf, die von der Rezeptgebühr befreit werden, zB Bezieher einer Ausgleichszulage. § 4 RL ("Zusätzliche Befreiung bei sozialer Schutzbedürftigkeit") konkretisiert den Personenkreis, dem auf Antrag eine solche Befreiung auch zu bewilligen ist, zB wenn ein Pensionsbezieher ausschließlich wegen § 293 Abs 4 ASVG keine Ausgleichszulage bezieht. In anderen als den in den §§ 3 und 4 genannten Fällen ist nach § 5 RL ("Befreiung in besonderen Fällen") eine Befreiung zu bewilligen, wenn sich nach Prüfung der Umstände im Einzelfall herausstellt, dass eine besondere soziale Schutzbedürftigkeit gegeben ist; dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn eine längerdauernde medikamentöse Behandlung notwendig ist, die im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten eine nicht zumutbare Belastung mit Rezeptgebühren zur Folge hätte. § 6 RL sieht eine "Befreiung bei Anstaltsunterbringung" vor, § 7 RL eine solche von Asylwerbern. § 12 RL ("Freiwillig versicherte Sozialhilfeempfänger") lautet wörtlich:
"In der Krankenversicherung freiwillig versicherte Personen, die Hilfe (bzw einen Zuschuss) zur Sicherung ihres Lebensbedarfes von einem Träger der Sozialhilfe erhalten, sowie den Angehörigen dieser Personen darf eine Befreiung von der Rezeptgebühr nicht bewilligt werden."
Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass der Kläger als freiwillig versicherte Sozialhilfeempfänger zum Kreis der im § 12 RL genannten Personen fällt. Der Oberste Gerichtshof vermag die Ansicht des Berufungsgerichtes, dass die genannten RL nur für die im Hauptverband zusammengefassten Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht jedoch für Gerichte verbindlich seien, nicht zu teilen. Nach herrschender Ansicht handelt es sich bei solchen für verbindlich erklären Richtlinien des Hauptverbandes, gehörige Kundmachung vorausgesetzt, als generelle rechtsverbindliche Anordnungen einer Verwaltungsbehörde um Rechtsverordnungen, die zwar zunächst jedenfalls die einzelnen Versicherungsträger verpflichten, aber dann, wenn sie ihrem Inhalt nach auch die Rechtsbeziehungen der Versicherten betreffen, auch für diese verbindlich und von den Gerichten zu beachten sind (Korinek in Tomandl, SV-System 12. ErgLfg 503, 509 f mwN bei FN 25; Grillberger, Öst. Sozialrecht4 109; Tomandl aaO 16 bei FN 15; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 180 f; derselbe, BPGG 81 und DRdA 1990, 75). Der Oberste Gerichtshof hat allerdings worauf das Berufungsgericht zutreffend hinweist, in einer Reihe von Entscheidungen den nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG erlassenen Richtlinien des Hauptverbandes "für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes" aus mehreren Erwägungen eine verbindliche Geltung für die Sozialgerichte abgesprochen (vgl die schon oben zitierten E SSV-NF 10/131; 11/3; SZ 69/278; DRdA 1997, 382). Diese Erwägungen, die im Schrifttum auf Kritik gestoßen sind (Pfeil, Anmerkung zu der E 10 ObS 2474/96 in DRdA 1997, 386 ff), verlieren jedoch im Fall der hier in Rede stehenden Richtlinien erheblich an Gewicht. Zunächst kommt dem Argument der Nichterfassung anderer Pflegegeldträger von vornherein keine Bedeutung zu. Auch der Einwand der ungewöhnlichen Konstruktion einer Verordnung (Pflegegeld-RL), die den Inhalt einer anderen Verordnung (Einstufungsverordnung zum BPGG) konkretisiert, kann hier nicht erhoben werden. Es lässt sich auch weder behaupten, dass die hier maßgebliche Richtlinie nach ihrem Inhalt keine Geltung für die Sozialgerichte beanspruchen würde, noch dass Krankenversicherte nicht auch unmittelbare Adressaten seien, zumal die Aussage, der Hauptverband habe keine generelle gesetzliche Ermächtigung, Rechtsnormen für Dritte zu erlassen, in dieser Allgemeinheit zu weit gehen dürfte und die Nennung von Kriterien zur Präzisierung unbestimmter Gesetzesbegriffe nicht umfassen kann. Die Ermächtigung zu einer derartigen Präzisierung muss freilich durch das Gesetz erfolgen. Dies ist hier in besonderem Maß der Fall: § 136 Abs 5 ASVG verpflichtet den Versicherungsträger, "nach Maßgabe der vom Hauptverband hiezu erlassenen Richtlinien" von der Einhebung der Rezeptgebühr abzusehen, wobei der im Gesetz verwendete unbestimmte Begriff "bei Vorliegen einer besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit" geradezu nach einer Konkretisierung verlangt. Damit stützt sich auch - anders als beim BPGG - die Konkretisierungskompetenz nicht auf ein anderes Bundesgesetz, sondern gerade auf das ASVG. Schließlich kann daraus, dass der Gesetzgeber bei Schaffung der Richtlinienkompetenz in § 31 Abs 5 Z 10 ASVG (RÖK) ausdrücklich die Verbindlichkeit dieser RL für die Vertragspartner der Krankenversicherungsträger nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass allen anderen Richtlinien keine Außenwirkung zukommen könne (zutreffend Pfeil aaO 387). Gerade die Bestimmung des § 136 Abs 5 ASVG ("nach Maßgabe der Richtlinie") ist entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes ein wesentliches Argument für die Außenwirkung dieser Richtlinien (vgl auch § 153 Abs 1 ASVG, wonach Zahnbehandlung nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzung zu gewähren ist, und § 213a Abs 4 ASVG über die Richtlinien zur Integritätsabgeltung).
Der Oberste Gerichtshof kann die vom Revisionswerber erneut dargelegten Bedenken gegen die Regelung des § 136 Abs 5 ASVG iVm § 12 RL in Richtung Gleichheitswidrigkeit nicht teilen und sieht sich daher nicht veranlasst, auch nur eine der in der Revision genannten Bestimmungen einem Normenprüfungsverfahren zu unterziehen. Wie schon das Berufungsgericht dargelegt hat, stellt § 12 RL insofern auf die soziale Bedürftigkeit des dort umschriebenen Personenkreises ab, als lediglich jene in der Krankenversicherung freiwillig versicherten Personen, die Sozialhilfeempfänger sind und denen die Rezeptgebühren letztlich vom Sozialhifeträger refundiert werden, von der Befreiung ausgenommen sind. Damit hält sich die RL durchaus im Rahmen der übergeordneten gesetzlichen Norm.
Abschließend ist zu bemerken, dass die - von den Parteien nie aufgeworfene - Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges vom Berufungsgericht abschließend bejaht wurde (Mayr in Rechberger, Komm zur ZPO2 Rz 11 zu § 42 JN mwN), weshalb sich Erörterungen dazu erübrigen.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Wegen der Schwierigkeit der Rechtslage entspricht es der Billigkeit, dem Kläger die Hälfte seiner Kosten des Revisionsverfahrens zuzuerkennen (SSV-NF 6/59, 7/80 ua).
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