European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00041.15Z.1001.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,68 EUR (davon 62,28 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom 25. 2. 2014 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der 1966 geborenen Klägerin vom 5. 2. 2014 auf Weitergewährung der mit 30. 4. 2014 befristeten Invaliditätspension ab, weil dauerhafte Invalidität nicht vorliege, und sprach weiters aus:
„Ab 1. Mai 2014 liegt weiterhin vorübergehende Invalidität vor, daher ist als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung Ihrer Arbeitsfähigkeit der Verlauf weiterer Therapien abzuwarten. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sind nicht zweckmäßig. Ab dem 1. Mai 2014 besteht für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.“
Die Klägerin begehrt mit ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage die Weitergewährung der Invaliditätspension über den 30. 4. 2014 hinaus, weil sie dauerhaft invalid sei.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage, weil die Klägerin nicht dauerhaft außer Stande sei, durch eine am allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete und ihr zumutbare Tätigkeit wenigstens die Hälfte des in Betracht kommenden Entgelts zu erwerben. Zur Besserung des Gesundheitszustands und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit würden medizinische Maßnahmen der Rehabilitation gewährt.
Das Erstgericht wies das auf Gewährung einer Invaliditätspension über den 30. 4. 2014 hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Es sprach weiters aus, dass bei der Klägerin über den 1. 5. 2014 hinaus vorübergehende Invalidität vorliege, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien und ab 1. 5. 2014 für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe.
Es stellte das medizinische Leistungskalkül der Klägerin im Einzelnen fest sowie die Tätigkeiten, die sie dessen ungeachtet noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten in der Lage ist. Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass eine Invalidität der Klägerin nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen sei. Da sie noch verschiedene Tätigkeiten verrichten könne, sei Invalidität zu verneinen und habe sie keinen Anspruch auf Invaliditätspension. Die im Bescheid zugesprochenen Leistungen seien jedoch von der beklagten Partei gemäß § 71 Abs 2 ASGG bzw §§ 266 f ZPO iVm § 87 Abs 3 ASGG als anerkannt anzusehen und daher zuzusprechen.
Das Berufungsgericht gab der gegen die Feststellung des Vorliegens einer vorübergehenden Invalidität sowie des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld gerichteten Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Der Bescheid der beklagten Partei sei durch die Erhebung der Klage im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft getreten (§ 71 Abs 1 erster Halbsatz ASGG iVm § 65 Abs 1 Z 1 ASGG). Gemäß § 361 Abs 1 zweiter Satz ASVG in der durch das SVAG, BGBl I 2015/2, rückwirkend zum 1. 1. 2014 geänderten Fassung gelte ein Antrag auf eine Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit vorrangig als Antrag auf Leistung von medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation und von Rehabilitationsgeld sowie auf Feststellung, ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar seien, einschließlich der Feststellung des Berufsfeldes. Werde eine beantragte Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit abgelehnt, weil dauernde Invalidität aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands nicht anzunehmen sei, so habe der Versicherungsträger gemäß § 367 Abs 4 ASVG idF SVAG von Amts wegen festzustellen, ob Invalidität vorliegt und wann sie eingetreten ist (Z 1), ob die Invalidität voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird (Z 2), ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind und für welches Berufsfeld die versicherte Person durch diese Maßnahmen qualifiziert werden kann (Z 3) und ob Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht oder nicht (Z 4). Nach § 143a Abs 1 ASVG bestehe ab dem bescheidmäßig festgestellten Vorliegen der vorübergehenden Invalidität für deren Dauer Anspruch auf Rehabilitationsgeld, wenn berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar seien. Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation bestehe, wenn bescheidmäßig festgestellt wurde, dass vorübergehende Invalidität voraussichtlich im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliegt (§ 253f Abs 1 ASVG). Daraus ergebe sich klar, dass die von der beklagten Partei in Entsprechung des § 367 Abs 4 ASVG in den bekämpften Bescheid aufgenommenen Aussprüche zueinander in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Insofern bilde der gesamte angefochtene Bescheid eine Einheit und sei mit der Erhebung der Klage außer Kraft getreten. Gemäß § 71 Abs 2 ASGG sei in Sozialrechtssachen unter anderem nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger anerkannt anzusehen, sodass nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung aufgrund des Verschlechterungsverbots dem Kläger zumindest die im außer Kraft getretenen Bescheid zuerkannte Leistung zuzusprechen sei (RIS-Justiz RS0089217).
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu den Auswirkungen der durch das SRÄG 2012 bewirkten Änderungen im Recht der Leistungen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit auf den Umfang des Außerkrafttretens des bekämpften Bescheids durch die Erhebung der Klage und auf die Auslegung des § 71 Abs 2 ASGG fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass festgestellt wird, dass bei der Klägerin keine über sechs Monate andauernde Invalidität vorliege und ab 1. 5. 2014 kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe sowie dass Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist ‑ entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulässigkeitsausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) ‑ im Hinblick auf die mittlerweile zu der vom Berufungsgericht als rechtserheblich bezeichneten Frage vorliegende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht zulässig (vgl RIS‑Justiz RS0112769).
Der Oberste Gerichtshof hat in der nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen und einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden Entscheidung 10 ObS 50/15y vom 2. 9. 2015 die im Wesentlichen gleichlautende Begründung des Berufungsgerichts als zutreffend erachtet (§ 510 Abs 3 ZPO) und den im Wesentlichen ebenfalls gleichlautenden Revisionsaus-führungen der beklagten Partei ergänzend Folgendes entgegengehalten:
1. Dass der Bescheid der beklagten Partei durch die Klagserhebung im gesamten Umfang außer Kraft getreten ist, ist im Revisionsverfahren nicht strittig.
2. Die Revisionswerberin vertritt unter sehr ausführlichem Bezug auf die vom Gesetzgeber mit der Schaffung des Rehabilitationsgelds durch das SRÄG 2012 verfolgten Zwecke die Ansicht, die Anerkenntnisfiktion des § 71 Abs 2 ASGG unterliege Beschränkungen. Um ein Ergebnis zu vermeiden, das die Reformbestrebungen des Gesetzgebers des SRÄG 2012 ad absurdum führe, müsse die Bestimmung so ausgelegt werden, dass das vom Versicherungsträger zuerkannte Rehabilitationsgeld im gerichtlichen Verfahren nicht zuzusprechen sei, wenn sich in diesem herausgestellt habe, dass der Kläger nicht invalid ist. Sonst könnte das Rehabilitationsgeld zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Dauerleistung werden. Rehabilitationsgeld sei keine „abstrakte“ Leistung, es könne nicht ohne die ihm als „ratio essendi“ zugrundeliegende Rehabilitation existieren. § 71 Abs 2 ASGG schütze im Ergebnis das Vertrauen des Versicherten, die Leistung (vorerst) weiter zu erhalten, die an einen durch medizinische Rehabilitationsleistungen grundsätzlich besserbaren Zustand geknüpft sei. Stelle sich heraus, dass eine solche Maßnahme gar nicht erforderlich sei, könne der Schutz nicht weitreichender gestaltet sein, als er in einer vergleichbaren Situation sein könnte, in der nach den §§ 143a und 143b ASVG Kontrollen durchgeführt werden. Der Leistungsbezieher müsse aufgrund der Gesetzeslage damit rechnen, dass spätestens nach Ablauf eines Jahres nach der Zuerkennung oder der letzten Begutachtung eine Überprüfung stattfinde.
3. Die von der Revisionswerberin geforderte teleologische Reduktion des in § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG normierten Anerkenntnisses setzt den Nachweis voraus, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes gar nicht getroffen wird und dass sie sich von „eigentlich gemeinten“ Fallgruppen soweit unterscheidet, dass die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre. Es ist nicht zulässig, durch teleologische Reduktion eine gesetzliche Vorschrift zur Gänze ihres Inhalts zu entkleiden (RIS-Justiz RS0008979; F. Bydlinski in Rummel ³ § 7 Rz 7).
4.1. Dieser Nachweis gelingt der Revision nicht.
4.2. Nach § 71 Abs 2 erster Halbsatz ASGG idF BGBl 1994/624 ist nach der Einbringung der Klage unter anderem nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen. Als unwiderruflich anerkannt sind auch das Vorliegen eines Arbeits‑(Dienst‑)unfalls oder einer Berufskrankheit anzusehen, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.
4.3. Mit dieser durch die ASGG-Novelle 1994, BGBl 1994/624, eingefügten Vorschrift des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers verhindert werden, dass ein gerichtliches Urteil für den Kläger weniger günstig ausfällt, als der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid (Verschlechterungsverbot). Der Versicherte darf darauf vertrauen, jedenfalls die im Bescheid zuerkannte Leistung ohne Rücksicht auf den Ausgang des Prozesses zu erhalten. Er soll die Möglichkeit haben, im Instanzenzug seinen Rechtsstandpunkt geltend zu machen, ohne dadurch das Risiko einzugehen, im Fall seines Unterliegens nicht einmal das zu erhalten, was ihm mit dem außer Kraft getretenen Bescheid zuerkannt worden ist. Das Gericht hat dem Kläger daher „zumindest“ die im Bescheid zuerkannte Leistung zusprechen (10 ObS 235/98a, SSV-NF 12/93; RIS-Justiz RS0089217; ErläutRV 1654 BlgNR 18. GP 25; Fink , ASGG 493 ff). Vergleichbares gilt bezüglich der Feststellung eines Unfallversicherungsträgers, wonach ein Arbeits-(Dienst‑)unfall oder eine Berufskrankheit vorliegt. Dem Versicherungsträger ist insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit die rechtswirksame Bestreitung des von ihm im Bescheid zuerkannten Anspruchs im Prozess verwehrt ( Kuderna , ASGG² 461 f).
4.4. Diese Zweckrichtung des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG trifft auch zu, wenn dem Versicherten im Bescheid des Versicherungsträgers Rehabilitationsgeld zuerkannt wurde. Geschützt wird der Versicherte vor einer Schlechterstellung gegenüber dem bekämpften Bescheid aufgrund der Ergebnisse des Prozesses.
4.5. Im Hinblick auf diese Änderung des § 71 Abs 2 ASGG hat der Gesetzgeber mit derselben Novelle in § 71 Abs 3 ASGG die Nichtgeltung des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG präzisiert. Demnach ist letztere Norm „insoweit“ nicht anwendbar, wenn der Versicherungsträger wegen einer Änderung der Verhältnisse während des Verfahrens einen neuen Bescheid erlässt. Nur Sachverhaltsänderungen, die nach Erlassung des mit der ersten Klage bekämpften Bescheids während des darüber anhängigen gerichtlichen Verfahrens eingetreten sind und die leistungsaufhebend oder leistungsvermindernd wirken, berechtigen den Versicherungsträger, in diesem Stadium wegen Änderung der Verhältnisse einen neuen Bescheid zu erlassen ( Kuderna , ASGG² 464 f).
4.6. Der Gesetzgeber schließt es demnach aus, das Nichtvorliegen von Voraussetzungen einer im Bescheid zuerkannten Leistung im Gewährungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren, dem dieser Bescheid zugrunde liegt, wahrzunehmen.
4.7. Warum der Fall der Klägerin anders behandelt werden muss als jener eines Versicherten, dem der Versicherungsträger eine Dauerversehrtenrente mit Bescheid zuerkannte, welcher mit der Behauptung, es läge eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit als im Bescheid angenommen vor, bekämpft wird und indem sich im Prozess herausstellt, dass schon die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Gewährungszeitpunkt nicht ein rentenbegründendes Ausmaß erreicht hatte oder ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit nicht vorliegen (vgl RIS‑Justiz RS0110572), ist nicht überzeugend begründbar. Eine sachliche Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht zu erkennen. Auch Rehabilitationsgeld kann nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung eingetreten ist (vgl RIS‑Justiz RS0083941, RS0106704). Daher kann es auch beim Rehabilitationsgeld, wenn der Zuerkennungsbescheid unbekämpft bleibt, zu nicht entziehbaren „Dauerleistungen“ kommen, wenn zum Gewährungszeitpunkt die Leistungsvoraussetzungen zur Gänze nicht vorlagen.
4.8. Da der Gesetzeswortlaut und die klare gesetzgeberische Absicht gegen eine teleologische Reduktion, wie sie die beklagte Partei vor allem aus rechtspolitischen Erwägungen anstrebt, sprechen, kommt sie nicht in Betracht (vgl P. Bydlinski in KBB 4 § 7 ABGB Rz 5 mwN).
5. Der Ansicht der Revisionswerberin, auch wenn man die Anwendbarkeit des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG im vorliegenden Fall bejahe, hätte im Spruch nicht die vom Akteninhalt nicht gedeckte Feststellung getroffen werden dürfen, dass bei der Klägerin ab dem 1. 5. 2014 weiterhin vorübergehende Invalidität vorliegt, ist nicht zu folgen. Auch dieser Teil des Spruchs wird von der Anerkenntnisfiktion erfasst. So muss auch das als unwiderruflich anerkannt anzusehende Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit (§ 71 Abs 2 Satz 2 ASGG) in das Urteil aufgenommen werden, selbst wenn ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit nicht vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG
6. Konnte der Revisionsgegner bei Erstattung der Rechtsmittelbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision nicht erkennen, weil zu diesem Zeitpunkt jene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs noch nicht ergangen war, welche die auch im Anlassfall entscheidungswesentliche erhebliche Rechtsfrage beantwortete, so stehen ihm in analoger Anwendung des § 50 Abs 2 ZPO die Kosten der Revisionsbeantwortung auch dann zu, wenn er auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hinweisen konnte (vgl RIS‑Justiz RS0123861).
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