European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00027.19X.0507.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Kindeseigenschaft der Klägerin iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht.
Die ***** 1997 geborene Klägerin absolviert seit 12. 9. 2017 im Rahmen der D***** Stiftung eine knapp zweijährige Ausbildung zum Fach- Spezialbetreuer/Behindertenarbeit im gesamten Ausmaß von 3.000 Stunden. Dies entspricht 38 Stunden pro Woche. Es handelt sich dabei um ein Praktikum zur Unterstützung der theoretischen/schulischen Ausbildung. Jeder praktischen Ausbildung wird gemäß Punkt 1 der Praktikumsvereinbarung ein theoretisches Einstiegsmodul vorangestellt. Während des Praktikums soll die Ausbildung überwiegen. Daher wird gemäß Punkt 3 der Praktikumsvereinbarung kein Dienstverhältnis begründet. Es entsteht kein wie immer gearteter Entgeltanspruch gegen den Praktikumsbetrieb. Ziel ist eine Übernahme in ein Dienstverhältnis mit der Stiftung nach Abschluss der Ausbildung. Der Klägerin wird gemäß Punkt 8 der Praktikumsvereinbarung ein Stipendium von 200 EUR monatlich gewährt, das 12 mal im Jahr ausgezahlt wird. Zusätzlich bezieht sie während der Ausbildung aus Mitteln des Arbeitsmarktservice (AMS) Arbeitslosengeld von 13,94 EUR täglich sowie eine Beihilfe zur Deckung ihres Lebensunterhalts von 10,45 EUR täglich. Insgesamt erhält sie vom AMS monatlich 731,70 EUR.
Mit Bescheid vom 21. 3. 2018 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 13. 9. 2017 auf Weitergewährung der Waisenpension ab.
Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuspruch der Waisenpension ab 1. 10. 2017 gerichtete Klage ab. Rechtlich ging es von der Selbsterhaltungsfähigkeit der Klägerin aus, die im Rahmen ihrer Ausbildung ein monatliches Nettoeinkommen von insgesamt 931,40 EUR beziehe, das den für 2018 geltenden Ausgleichszulagenrichtsatz von 909,42 EUR übersteige.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es berücksichtige das monatlich ausgezahlte Stipendium als im Rahmen der Ausbildung erzieltes Nettoeinkommen der Klägerin. Die Waisenpension solle die für die Dauer der Ausbildung bestehende Unmöglichkeit, gleichzeitig ein die Selbsterhaltung garantierendes Erwerbseinkommen zu erzielen, zumindest teilweise ausgleichen und sei daher nur subsidiär zur Sicherung des Lebensunterhalts heranzuziehen. Es mache keinen Unterschied, ob die gerade wegen der überwiegenden Inanspruchnahme durch eine Berufsausbildung notwendig werdende Bedürfnisdeckung durch öffentliche – wie hier durch vom AMS gewährte – Mittel erfolge oder durch eigene Mittel des Ausbildungsbetriebs oder auch erst aus einer Kombination dieser Mittel. Nicht nur ein Entgelt im sozialversicherungsrechtlichen Sinn sei ein die Selbsterhaltungsfähigkeit sicherndes Einkommen, sondern alle aus dem oder im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ausbildungsverhältnis erzielten Einkünfte, die im Ergebnis der Bedürfnisdeckung dienten. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dazu fehle, ob auch eine vom Ausbildungsbetrieb im Rahmen eines Praktikums gewährte Geldleistung als den Lebensunterhalt deckendes Einkommen bei der Beurteilung der Verlängerung der Kindeseigenschaft zu berücksichtigen sei.
Rechtliche Beurteilung
Die – nicht beantwortete – Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht berechtigt.
1.1 Gemäß § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange sich das Kind in einer Schul‑ oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres.
1.2 In seiner Stammfassung stellte das ASVG für die Frage, ob die Kindeseigenschaft durch eigenes Erwerbseinkommen verloren gehe, darauf ab, ob Selbsterhaltungsfähigkeit vorlag oder nicht.
1.3 Mit der Neufassung des § 252 ASVG durch die 29. Novelle zum ASVG (BGBl 1973/31) wurde das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit aufgegeben. Die Bindung der Angehörigeneigenschaft an die Unterhaltsberechtigung nach bürgerlichem Recht wurde fallen gelassen und durch die leichter feststellbaren Merkmale der überwiegenden Inanspruchnahme der Arbeitskraft durch die Schul- oder Berufsausbildung ersetzt (10 ObS 67/18b mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 88).
1.4 Wenn sich das Kind in einer „hauptberuflichen“ Ausbildung befindet, wird seine Arbeitskraft dadurch so in Anspruch genommen, dass ihm daneben eine die Selbsterhaltungsfähigkeit garantierende Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Übt das Kind dennoch eine solche aus, steht ihm die Waisenpension zu (RIS‑Justiz RS0085139). Neben der Ausbildung erzielte, zur Selbsterhaltungsfähigkeit führende Einkünfte schaden dem Anspruch auf Waisenpension somit nicht.
2.1 Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen die Kindeseigenschaft (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG) nur dann weiter bestehen, wenn im Rahmen der Ausbildung kein oder nur ein geringes, die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht sicherndes Entgelt bezogen wird (RIS‑Justiz RS0085125; 10 ObS 67/18p). Ein aus der Ausbildungstätigkeit erzieltes Erwerbseinkommen, das die Selbsterhaltungsfähigkeit ebenso sichert wie jedes andere Erwerbseinkommen aus einer Berufstätigkeit, die nicht als Ausbildungsverhältnis deklariert ist, beseitigt jedoch die Kindeseigenschaft (RIS‑Justiz RS0085149). So lassen eine Lehrlingsentschädigung (10 ObS 134/91 SSV‑NF 5/56), ein ausnahmsweise zuerkanntes Arbeitslosengeld während der Ausbildung in einer Fachschule (10 ObS 229/91 SSV‑NF 5/91), der Ausbildungsbeitrag für Rechtspraktikanten (10 ObS 38/13f SSV‑NF 27/22; RIS‑Justiz RS0085149 [T2]) sowie ein Fachkräftestipendium des Arbeitsmarktservice (10 ObS 67/18b) in einer (zumindest) den Ausgleichszulagenrichtsatz erreichenden Höhe (10 ObS 72/17m SSV‑NF 31/41 mwN) die Kindeseigenschaft und damit den Anspruch auf Waisenpension wegfallen.
2.2 Die Klägerin erhält während ihrer Ausbildung zum Fach‑Sozialbetreuer/Behindertenarbeit im Rahmen der D***** Stiftung (September 2017 bis 14. Juli 2019) vom Arbeitsmarktservice (AMS) rund 731,70 EUR monatlich. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass diese Einkünfte im Zusammenhang mit der Ausbildung stehen (aus der Ausbildung erzielt werden) und deshalb zu berücksichtigen sind, zieht sie nicht in Zweifel. Ihre Argumentation betrifft nur das Stipendium der Stiftung von 200 EUR monatlich, das 12 mal im Jahr ausbezahlt wird. Es ist unstrittig, dass sie keinen Anspruch auf Waisenpension hat, wenn auch das Stipendium als aus der Ausbildung bezogenes Einkommen berücksichtigt wird. In diesem Fall übersteigen ihre Gesamteinkünfte den Ausgleichszulagenrichtsatz.
2.3 Die Klägerin lehnt die Einbeziehung des Stipendiums ab, weil dieses – anders als etwa der Ausbildungsbeitrag eines Rechtspraktikanten – kein eine Pflichtversicherung begründendes Entgelt aus einem Dienstverhältnis darstelle, weil nicht 14 mal ausgezahlt werde und weil der Charakter eines Ausbildungszuschusses und nicht eines Einkommensersatzes im Vordergrund stehe. Ihre Argumentation überzeugt nicht:
2.4 Die Waisenpension soll den Lebensunterhalt einer Waise nach dem Tod des bisher Unterhalt Leistenden an dessen Stelle sichern und eine entsprechende Schul‑ oder Berufsausbildung gewährleisten. Der Wegfall der Unterhaltsleistungen des Verstorbenen soll ausgeglichen werden (10 ObS 150/15d SSV‑NF 30/19 mwN). Aus diesem Grundgedanken der Waisenpension schließt die Rechtsprechung auf deren subsidiären Charakter: Die Waisenpension soll erst dann zur Sicherung des Lebensunterhalts herangezogen werden, wenn und solange während einer Ausbildung die Bedürfnisse nicht schon anderwertig, wie beispielsweise durch ein aus den Mitteln des AMS finanziertes Stipendium oder einen Ausbildungsbeitrag angemessen gedeckt werden (10 ObS 67/18w mwN). Es kommt also ausschließlich darauf an, ob die Waise Einkünfte – entweder vom Ausbildungsbetrieb selbst (zB Lehrlingsentschädigung) oder aus öffentlichen Mitteln (Arbeitslosengeld, Arbeitskräftestipendium) – deshalb erzielt, weil sie eine bestimmte Ausbildung absolviert.
2.5 Diese Voraussetzung trifft auf das nach der Praktikumsvereinbarung zwischen Klägerin und Stiftung zu zahlende Stipendium zu. Es macht keinen Unterschied, ob ein Stipendium vom Vertragspartner der im Rahmen eines Praktikums auszubildenden Waise oder aus öffentlichen Mitteln vom AMS gezahlt wird. Die Zielrichtung ist in beiden Fällen dieselbe. Dem Waisen sollen aus der Ausbildungstätigkeit ausreichende Einkünfte zur Verfügung stehen, um sich „hauptberuflich“ auf die Ausbildung konzentrieren zu können und nicht zusätzlich nebenbei einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen. Es hindert den Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit nicht, wenn dieser Zweck nur durch eine Kombination beider Mittel erreicht wird. Im Vordergrund steht die Möglichkeit, den Lebensunterhalt mit aus der Ausbildung selbst erzielten Einkünften zu bestreiten. Deshalb ist auch irrelevant, ob die Einkünfte aus einem Dienstverhältnis stammen und eine Pflichtversicherung begründen.
3. Ergebnis: Bei der Beurteilung der Kindeseigenschaft im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG sind sämtliche mit der Ausbildungstätigkeit selbst im Zusammenhang stehende Einkünfte der Waise zu berücksichtigen (hier: aufgrund eines Praktikumsvertrags mit einer Stiftung von dieser gewährtes Stipendium zuzüglich der Leistungen des AMS während der Ausbildung).
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit sind keine Gründe ersichtlich.
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