Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die vorliegende Klage richtet sich gegen den Bescheid der beklagten Partei vom 9. 7. 1998, mit dem das dem Kläger mit früherem Bescheid der beklagten Partei vom 16. 12. 1997 seit 1. 5. 1997 gewährte Pflegegeld der Stufe 5 mit Ablauf des 31. 8. 1998 auf die Stufe 4 herabgesetzt wurde. Ob es sich bei der während des Verfahrens erfolgten Ausdehnung des Klagebegehrens auf Gewährung eines Pflegegeldes der Stufe 6 - worüber noch kein Bescheid der beklagten Partei vorlag - um eine zulässige Änderung der Klage gemäß § 86 ASGG (RIS-Justiz RS0085611) oder eine Verletzung des zulässigen Rechtsweges gemäß § 67 Abs 1 Z 1 ASGG handelte, die eine Zurückweisung der Klage in jeder Lage des Verfahrens gemäß § 73 ASGG zur Folge hätte (Kuderna, ASGG2 444 und 475; Fink, Sukzessive Zuständigkeit 463; RIS-Justiz RS0042080), kann hier dahingestellt bleiben, weil eine bindende, das Vorliegen einer Nichtigkeit verneinende Entscheidung des Berufungsgerichtes vorliegt (§ 42 Abs 3 JN; Mayr in Rechberger, ZPO2 Rz 11 zu § 42 JN; Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 2 zu § 503 und Rz 1 zu § 510; RIS-Justiz RS0042925; 10 ObS 251/99f ua).
Die beklagte Partei ließ in ihrer Berufung gegen den Zuspruch der Pflegegeldstufe 6 durch das Erstgericht die Weitergewährung der Pflegegeldstufe 5 an den Kläger unbekämpft. Strittig ist im Revisionsverfahren daher aufgrund der Revision des Klägers nur mehr die Frage, ob dem Kläger anstelle der Pflegegeldstufe 5 die Pflegegeldstufe 6 gebührt. Dies wurde vom Berufungsgericht mit zutreffender Begründung verneint, sodass hierauf verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Ergänzend und zusammenfassend ist den Ausführungen des Revisionswerbers folgendes entgegenzuhalten:
Rechtliche Beurteilung
Im Verfahren über die Entziehung (Herabsetzung oder Erhöhung) des Pflegegeldes sind neuerlich Feststellungen über die für die (frühere) Zuerkennung wesentlichen Tatsachen und über die Änderungen im Pflegebedarf zu treffen (SSV-NF 5/5, 12/166 ua); ausgehend von den Tatsachengrundlagen ist dann selbständig zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung im Anspruch auf Pflegegeld bzw auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat (Pfeil, BPGG 129; SSV-NF 10/110, 12/166 mwN; RIS-Justiz RS0083884). Ob ein (rechtskräftig zuerkanntes) Pflegegeld zu entziehen oder neu zu bemessen ist, richtet sich ausschließlich nach § 9 BPGG; nur eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen rechtfertigt einen Eingriff in die Rechtskraft der (Vor-)Entscheidung (RIS-Justiz RS0061709). Derartige Feststellungen des Erstgerichtes über eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen fehlen jedoch hier zur Gänze, worauf auch das Berufungsgericht zutreffend hinwies. Dies steht jedoch einer meritorischen Erledigung der Sache nicht entgegen, wenn - ungeachtet des Feststehens einer Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen - auch der jetzt zu beurteilende Pflegebedarf des Versicherten keine Gewährung der Pflegegeldstufe 6 rechtfertigt.
Für die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 ist nach der bis 31. 12. 1998 geltenden Rechtslage - neben dem hier unstrittig gegebenen Pflegebedarf des Klägers von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich - die Notwendigkeit einer dauernden Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (RV 776 BlgNR 18. GP 3) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Dieser Tatbestand betrifft in erster Linie Pflegebedürftige mit geistiger oder psychischer Behinderung. Durch die im Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" sollte auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (AB 908 BlgNR 18. GP 4). Unter dauernder Beaufsichtigung ist die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen zu verstehen (Gruber/Pallinger, BPGG Rz 57 zu § 4; SSV-NF 10/129 ua). Die dauernde Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (z. B. wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt; dieser Gesichtspunkt wird auch den Ausschlag für die Einstufung von körperlich Behinderten in Stufe 6 geben müssen, weil dieser Personengruppe ganz offenbar ebenfalls ein Zugang zur zweithöchsten Pflegegeldstufe ermöglicht werden soll (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 198; derselbe, BPGG 98 unter Hinweis auf den oben zitierten Ausschussbericht). Nach § 17 Abs 2 Z 3 lit b der (bis 31. 3. 1999 geltenden) Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1994, 686 - Amtl. Verlautbarung 120/1994, die allerdings nach der wiederholt dargelegten Auffassung des Senates für Gerichte nicht bindend sind (SSV-NF 10/131 ua), wird ein dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung gleichzuachtender Zustand dann angenommen, wenn eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung beim immobilen oder mobilen Pflegebedürftigen zu erbringen ist. Da sich diese Umschreibung der Erfordernisse für eine Einstufung in die Stufe 6 im Wesentlichen mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofes deckt, muss hier zu der Frage der Bindung der Richtlinien für die Gerichte nicht neuerlich Stellung genommen werden (vgl SSV-NF 11/46, 11/48 ua).
Nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen wäre eine Beaufsichtigung des Klägers vor allem deshalb geboten, weil er sich nicht selbst helfen kann, wenn er "in eine missliche Lage" kommt. Darunter werden im Wesentlichen drei - potentiell gesundheitsschädigende, eventuell sogar lebensbedrohende - Situationen subsumiert, und zwar ein allfälliger Sturz des Klägers mit dem Rollstuhl, das Auftreten einer (seltenen, nicht vorhersagbaren) Hochdruckkrise oder das Auftreten eines (bis dato jedoch noch nie erfolgten) epileptischen Anfalles. Es ist möglich, dass Hochdruckkrisen häufiger auftreten, wenn der Kläger, während er allein ist, Angst bekommt, weil er die "Ungefährlichkeit" des Alleinseins nur schwer geistig verarbeiten kann. Dass "etwas passiert", ist nicht auszuschließen; die Wahrscheinlichkeit ist aber relativ gering.
Dass "etwas passiert", kann grundsätzlich nie ausgeschlossen werden; ebenso wenig kann die Gefahr ausgeschlossen werden, dass erstmals Gesundheitsstörungen auftreten, die bisher noch nie aufgetreten sind. Das Erfordernis der ständigen Beaufsichtigung, kann nicht darauf aufgebaut werden, dass nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass "etwas passiert"; dass also etwas nur möglich ist und zum Beispiel ein bisher noch nie aufgetretener epileptischer Anfall erstmals eintritt. Diese Beurteilung hat auch für eher seltene, bei Alleinsein unter Umständen auch eher mögliche Hochdruckkrisen des Klägers zu gelten, nachdem vom Erstgericht auf der Grundlage des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens zusammenfassend festgestellt wurde, dass die Wahrscheinlichkeit dass "etwas passiert ... relativ gering" ist. Nicht einmal akute, nur seltene auftretende Anfälle, Psychosen etc. reichen aus, um einen - ständigen - Bedarf an Betreuung und Hilfe zu rechtfertigen (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 191). Es wird nicht verkannt, dass eine absolut sichere Aussage über künftige Umstände medizinisch oft nicht möglich sein wird und daher auch nicht verlangt werden kann; jedenfalls aber müssen diese Umstände wahrscheinlich und nicht bloß möglich sein (so jetzt ausdrücklich § 4 Abs 2 Stufe 6 Z 2 BPGG idF BGBl I 1998/111 [ab 1. 1. 1999]; vgl auch RIS-Justiz RS0084429, RS0086050, RS0089210). Eine "relativ geringe" Wahrscheinlichkeit (die erkennbar nicht mehr als eine bloße Möglichkeit umschreibt) reicht nicht aus. Die im vorliegenden Fall noch am ehesten gegebene Gefahr einer Selbstgefährdung durch Sturz mit dem Rollstuhl, auf den der Kläger angewiesen ist, kann durch zeitweilige Unterbringung des Klägers im Bett während der vorübergehenden Abwesenheit der Betreuungsperson (etwa zum Einkaufengehen außer Haus) ausgeschaltet werden. Auf diese Weise kann die körperliche Integrität des Klägers auch ohne ständige Anwesenheit einer Betreuungsperson sichergestellt werden (SSV-NF 11/77, 11/46; vgl auch Ramharter in ÖJZ 1997, 259 ff).
Mit 1. 1. 1999 ist das Bundesgesetz über die Änderung des Bundespflegegeldgesetzes, BGBl I 1998/111 in Kraft getreten. Gemäß § 48 Abs 1 BPGG in der Fassung dieser Novelle sind allen am 1. 1. 1999 noch nicht bescheidmäßig abgeschlossenen Verfahren für die Zeit bis 31. 12. 1998 die bis zu diesem Zeitpunkt für die Beurteilung des Anspruchs geltenden Bestimmungen des § 4 BPGG und der Einstufungsverordnung zum BPGG, BGBl 1993/314, zugrunde zu legen. Dies gilt sinngemäß auch für gerichtliche Verfahren. Ab 1. 1. 1999 sind die Bestimmungen des BPGG in der novellierten Fassung anzuwenden (RIS-Justiz RS0111535). Die neue Einstufungsverordnung BGBl II 1999/37 ist mit 1. 2. 1999 in Kraft getreten, die alte EinstV wurde mit 31. 1. 1999 aufgehoben (§ 9 EinstV nF). Die Anwendung der neuen Rechtslage (§ 4 Abs 2 BPGG nF) führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis:
Anspruch auf Pflegegeld für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, besteht nunmehr in der Höhe der Stufe 6, wenn
1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder
2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit der Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist.
Diese gesetzlichen Neudefinitionen erfolgten in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes (RV 1186 BlgNR 20. GP 11). Während die Z 1 in § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG nF eine Ausweitung gegenüber der alten Rechtslage darstellt, entspricht die Z 2 leg cit ("dauernde Anwesenheit ..., weil ... Eigen- oder Fremdgefährdung") trotz anderer Wortwahl dem Fall der "dauernden Beaufsichtigung oder einem gleichzuhaltenden Pflegeaufwand" nach der alten Rechtslage (10 ObS 389/98y; 10 ObS 370/98d).
Die BPGG-Novelle 1998 war vom ausdrücklichen Bestreben getragen, insbesondere Unklarheiten beim Begriff der "dauernden Beaufsichtigung" zu beseitigen und die Abgrenzungskriterien - wie schon erwähnt weitgehend in Anlehnung an die bisher hiezu ergangene Judikatur des Obersten Gerichtshofes - zur Klarstellung und aus Gründen der Rechtssicherheit deutlicher zu definieren. Bei der dauernden Beaufsichtigung "handelt es sich auch um einen umgangssprachlichen Begriff, der in vielen Fällen von den pflegenden Angehörigen anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt interpretiert wird. Diese fühlen sich verständlicherweise verpflichtet, einen Pflegebedürftigen nicht alleine zu lassen, auch wenn ihm de facto keine unmittelbare Gefahr droht, das heißt keine Notwendigkeit der dauernden Beaufsichtigung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Die Pflegepersonen können daher die Einstufung in eine niedrigere Pflegegeldstufe oftmals nicht akzeptieren...... Für die Zuordnung in die Stufe 6 sollen neben dem zeitlichen Ausmaß von mehr als durchschnittlich 180 Stunden pro Monat entweder zusätzliche unkoordinierbare Pflegemaßnahmen oder die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen Eigen- oder Fremdgefährdung notwendig sein. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen liegen dann vor, wenn ein im Vorhinein festgelegter Pflegeplan nicht eingehalten werden kann und auch regelmäßig während der Nachtstunden, d. h. nahezu jede Nacht, tatsächlich (unkoordinierbare) Betreuungsmaßnahmen erbracht werden müssen. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen sind etwa dann zu erbringen, wenn wegen einer Schlucklähmung regelmäßiges Absaugen oder Aufsetzen des Pflegebedürftigen erforderlich ist. Auch das Beruhigen oder Zurückbringen bei nächtlicher Verwirrtheit und Umtriebigkeit wird - im Sinne der Mobilitätshilfe im engeren Sinn - darunter zu verstehen sein. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im unmittelbaren Wohnbereich kann bei Menschen mit geistiger Behinderung oder einer psychischen Erkrankung dann notwendig sein, wenn die Gesundheit des Pflegebedürftigen selbst oder einer anderen Person gefährdet ist. Wenn jemand beispielsweise auf Grund der geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung zu tätlichen Angriffen gegenüber Dritten neigt, ist eine Pflegeperson zur Verhinderung dieser aggressiven Handlungen erforderlich; verbale Attacken sind darunter nicht zu verstehen. Beispiel für eine Eigengefährdung wäre etwa, wenn der geistig Behinderte oder psychisch Erkrankte wiederholt mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und durch die Pflegeperson daran gehindert werden muss. Eine dauernde Anwesenheit ist nur dann notwendig, wenn eine solche Gefahr wahrscheinlich ist. Die alleinige Möglichkeit einer derartigen Situation reicht nicht aus" (RV 1186 BlgNR 20. GP 11; § 7 EinstV nF; Fürstl-Grasser/Pallinger in SozSi 1999, 282 [287]; vgl auch §§ 15, 16 Z 3 der - die Gerichte nicht bindenden [§ 2] - Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1999, 360 - Amtl. Verlautbarung 41/1999; Rudda/Türk in SozSi 1999, 271 ff).
Im Sinne der vorstehenden Ausführungen sind beim Kläger die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 5 auch nach neuem Recht nicht erfüllt. Das Verfahren ergab keine Anhaltspunkte für das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen; das (regelmäßige) Umbetten des Klägers gegen Wundliegen ist nicht unkoordinierbar; unkoordinierbar sind beim Kläger lediglich sogenannte "missliche Lagen" (im oben dargelegten Sinn), wobei allerdings die Wahrscheinlichkeit, das solche auftreten, wie schon erwähnt, relativ geringer ist. Beim Kläger bestehen nach den Verfahrensergebnissen keine Anhaltspunkte dafür, dass die - dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen einer wahrscheinlichen Eigengefährdung (oder Fremdgefährdung) erforderlich ist. Auf die Möglichkeit eines vom Berufungsgericht erwogenen "Seniorenalarms" zur leichteren Handhabung der Beaufsichtigung des Klägers braucht daher in diesem Verfahren nicht näher eingegangen werden.
Der Revision des Klägers war ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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